Zeit für eine echte Modernisierung der Berufskrankheitenliste!

22. Februar 2024

Berufskrankheiten sind gesundheitliche Schädigungen, die sich Arbeitnehmer:innen durch ihre Erwerbsarbeit zuziehen. Ist dies der Fall, so stehen ihnen Leistungen aus der Unfallversicherung (nicht wie sonst im Krankheitsfall aus der Krankenversicherung) zu. Umfasst sind allerdings bei Weitem nicht alle Erkrankungen, sondern sie müssen ausdrücklich in der sogenannten Berufskrankheitenliste im ASVG geregelt sein. Die Versicherungssparte macht einen Unterschied! So muss die Krankenbehandlung laut ASVG nur „ausreichend und zweckmäßig sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“, während die Unfallheilbehandlung „mit allen geeigneten Mitteln“ zu erfolgen hat. Die Leistungsansprüche in der Unfallversicherung sind auch wesentlich umfassender als in der Krankenversicherung.

Anerkennung als Berufskrankheit bringt einige Vorteile

  • vielfach besserer Versorgungsanspruch bei Heilbehandlung und Rehabilitation
  • Qualifikation und Umschulung, falls der erlernte Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann
  • Entfall von Kostenbeteiligung, u. a. für den Rehabilitationsaufenthalt oder bei Hilfsmitteln
  • eine monatliche Rente bei starken, langanhaltenden Einschränkungen
  • finanzielle Absicherung der Hinterbliebenen (u. a. Renten) für den Fall, dass die Berufskrankheit zum Tod führt
  • Wichtig dabei: Auch Spät- oder Langzeitfolgen sind vom Versicherungsschutz gedeckt.

Die Ergänzungen, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden haben, können nur als zurückhaltend beschrieben werden. Damit ist die Notwendigkeit der Modernisierung der Berufskrankheitenliste seit Jahren eine sehr hohe.

Im Koalitionsübereinkommen der aktuellen Bundesregierung findet sich auch seit 2020 das Vorhaben für eine „Modernisierung der Berufskrankheitenliste“. Diesem Punkt ist man nun nachgekommen, aber das sehr unzureichend – eine verpasste Chance für eine echte Verbesserung.

Was plant die Regierung?

Der vorliegende Gesetzesentwurf mit dem klingenden Titel „Berufskrankheiten-Modernisierungsgesetz“ sieht die Erweiterung um vier Erkrankungen vor. Dabei handelt es sich um:

  • fokale Dystonien („Musikerkrampf“) bei Instrumentalmusiker:innen
  • Weißer Hautkrebs durch UV-Exposition
  • Ovarialkarzinom nach Asbest-Exposition
  • Hypothenar-/Thenar-Hammersyndrom, eine Durchblutungsstörung in den Bereichen von Kleinfinger- oder Daumenballen

Daneben wird auch die Berufskrankheitenliste selbst neu strukturiert, die bestehenden Krankheiten werden neu gegliedert. Das ist die ganze „Modernisierung“.

Wie hat sich die Berufskrankheitenliste entwickelt?

Die Berufskrankheitenliste umfasst seit dem Jahr 2006 insgesamt 53 Positionen. Die letzte Adaptierung erfolgte durch das Sozialversicherungs-Änderungsgesetz 2012 – SVÄG 2012. Dabei kam es aber nicht zur Aufnahme einer neuen Berufskrankheit, es wurden lediglich einzelne Anpassungen an bestehenden Positionen durchgeführt. Dabei war bereits zum damaligen Zeitpunkt der hohe Bedarf an der Aufnahme neuer Positionen offenkundig. Es wurde etwa bereits zu dieser Zeit darauf hingewiesen, dass vor allem für Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates die Dringlichkeit zur Erweiterung besteht. Die Notwendigkeit dafür dürfte auch im Bewusstsein gewesen sein: Die Erläuterungen zum SVÄG 2012 enthielten den Hinweis, „vorerst Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates nicht in die Berufskrankheitenliste aufzunehmen; diesbezüglich sollen weitere Entwicklungen in diese Richtung abgewartet werden.“

Seitdem sind nicht nur viele Jahre vergangen, es hat auch einiges an Entwicklung gegeben. Es ist daher unverständlich, dass eine beabsichtigte Modernisierung für diese Erkrankungen keine Anpassung beinhaltet. Dies ist aber nur ein Beispiel von vielen! Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern, vor allem mit Deutschland, zeigt auf, wie viele Krankheiten bzw. Gesundheitsschädigungen in der Liste fehlen.

© A&W Blog


Aufholbedarf besteht einerseits bei der Anzahl der anerkannten Berufskrankheiten an sich. Deutschland hat zahlreiche Positionen mehr gelistet. Die nunmehr geplante Aufnahme von vier neuen Erkrankungen ist damit nur ein erster, minimaler Schritt einer notwendigen Modernisierung. Zumindest 14 Krankheiten, die sich auf der Berufskrankheitenliste Deutschlands befinden, werden weiterhin nicht berücksichtigt. Das ist nicht nachvollziehbar, da es für alle davon umfassende fachliche, (arbeits)medizinische Begründungen gibt. Der Aufholbedarf wird dabei eher größer als kleiner, denn die nächsten Erweiterungen sind in Deutschland schon in Diskussion.

Warum braucht es einen Sachverständigenbeirat nach deutschem Vorbild?

Es ist auch der Umgang mit der Aktualisierung der Berufskrankheitenliste selbst, für den es Reformbedarf gibt. Während es in Österreich keinen standardisierten Prozess für Weiterentwicklungen in der Berufskrankheitenliste gibt, verfügt Deutschland über ein transparentes und qualifiziertes Prozedere. Ein unabhängiger Sachverständigenbeirat, der überwiegend mit Arbeitsmediziner:innen und weiteren (fach)ärztlichen Expert:innen besetzt ist, erarbeitet Empfehlungen und Stellungnahmen. Diese bilden die wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidung über die Aufnahme in die Berufskrankheitenliste. Dadurch wird regelmäßig der wissenschaftliche Erkenntnisstand – sowohl zu bestehenden Berufskrankheiten als auch zu Krankheiten, die noch nicht als Berufskrankheit gelten – geprüft. Das führt zur kontinuierlichen Aktualisierung der Liste unter Berücksichtigung des aktuellen Wissenstands und der bestehenden Evidenz. Die abgegebenen Empfehlungen werden dabei auch veröffentlicht, sodass für alle Entscheidungsgrundlagen ein transparenter Zugang besteht.

Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein vergleichbares Instrument nicht auch in Österreich etabliert wird. Erfordernisse für die Aufnahme einer Berufskrankheit oder zur Überarbeitung bestehender Positionen könnten so mit der bestmöglichen Expertise überprüft werden und für jede Entscheidung bzw. Empfehlung würde eine fundierte fachliche Grundlage vorliegen.

Wer wird von der Reform ignoriert?

Es kann wohl nicht bestritten werden, dass die heutige Arbeitswelt andere Herausforderungen sowie Belastungen aufweist als jene des vergangenen Jahrhunderts. Es kann ebenso wenig bestritten werden, dass sich der Wissensstand über berufsbedingte Schädigungen in den letzten Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten, verändert hat. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung anhand des jeweils aktuellen Wissensstands ist unverzichtbar. Nachfolgend ein paar Beispiele, um die Lücke zu veranschaulichen – ohne dabei ansatzweise den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben!

Nicht erfasst werden beispielsweise jene Personen, die jahrelang am Arbeitsplatz Passivrauch ausgesetzt waren und deshalb, obwohl sie selbst nicht geraucht haben, an Lungenkrebs erkranken. In Deutschland auf der Berufskrankheitenliste berücksichtigt – in Österreich nicht. Betroffen ist etwa Personal im Gastro- und Hotelbereich.

Ignoriert werden weiters Arbeitnehmer:innen, die durch das regelmäßige Heben und Tragen von schweren Lasten umfassende Schäden der Bandscheiben davongetragen haben. Dies betrifft vor allem viele Beschäftigte im Gesundheits-, Pflege- und Behindertenbetreuungsbereich, aber auch Paketzusteller:innen oder Steinmetze (um wirklich nur einige zu nennen). Grundsätzlich Jobs, in denen die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ganz oben auf der Agenda stehen sollte. Eine Anerkennung als Berufskrankheit wäre ein wichtiger Beitrag gewesen. Denn nicht nur bereits Betroffene würden eine bessere sozialversicherungsrechtliche Absicherung erhalten – auch die Präventionstätigkeiten müssten erhöht, der Prävention im Betrieb mehr Beachtung geschenkt werden.

Ebenso werden psychische Erkrankungen, die in vielen Fällen eine direkte Ursache in den Arbeitsbedingungen haben, nicht berücksichtigt. Dabei steigen die Krankenstände aufgrund psychischer Erkrankungen laufend und die Gefahr zu erkranken betrifft die Mehrheit der Beschäftigten: Laut der Arbeitskräfteerhebung sind rund 2,5 Millionen erwerbstätige Personen, das entspricht rund 60 Prozent aller Beschäftigten, mindestens einem psychischen Risiko am Arbeitsplatz ausgesetzt. Die häufigsten dabei sind starker Zeitdruck und Arbeitsüberlastung. Wird Stress am Arbeitsplatz chronisch, kann Burnout die Folge sein. Die WHO hat in ihrer Überarbeitung der internationalen Klassifizierung der Krankheiten (ICD-11) Burnout als Folge von chronischem Arbeitsstress klargestellt, womit das Auftreten von Burnout nur im beruflichen Kontext zu sehen ist. In einer Arbeitswelt, die immer höhere Anforderungen an die Beschäftigten stellt und zu immer mehr Arbeitsverdichtung führt, ist es unerlässlich, dass eine echte Modernisierung der Liste der Berufskrankheiten auch die Berücksichtigung von arbeitsbezogenen psychischen Erkrankungen beinhaltet.

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