Die Beschäftigten der Medizinischen Hochschule Hannover haben vor Kurzem gegen massiven Widerstand erfolgreich eine Vereinbarung über mehr Personal durchgesetzt. Der Schlüssel zu ihrem Erfolg: systematisches Organizing rund um ein demokratisches Teamdelegierten-System. Ihre Geschichte gibt Hoffnung inmitten düsterer Zeiten – und zeigt, wie Gewerkschaften am Ende gewinnen können.
Schon seit Jahren ist die Krankenhausbewegung in Deutschland die Speerspitze eines Projekts gewerkschaftlicher Erneuerung von unten. Die Erfolge der Beschäftigten in Berlin, NRW und Marburg-Gießen haben gezeigt, wie sich mit einer Organizing-Strategie das Kräfteverhältnis zugunsten von Gewerkschaften verschieben lässt. Der erste Teil der Blogserie zeigt das anschaulich am Beispiel der Freizeitpädagog:innen in Wien. Der Schlüssel ist dabei, dass sich Kolleginnen durch innovative Beteiligungsformate ihre Gewerkschaft angeeignet und aufgebaut haben. So waren sie in der Lage, als es ernst wurde, in die Konfrontation mit der Arbeitgeberseite zu gehen und auch lange und starke Streiks zu organisieren. Dieser – zweite – Blogbeitrag der Serie zeigt auf, wie die Beschäftigten der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) durch Organizing einen Tarifvertrag für mehr Personal durchgesetzt haben.
Das Werkzeug: Tarifvertrag „Entlastung“
Die sogenannten Tarifverträge Entlastung (TV-E) sind dabei ein Instrument geworden, um gewerkschaftlich das zu erreichen, wozu der Gesetzgeber nicht bereit scheint: die Ökonomisierung im Krankenhaus zurückzudrehen. Die Funktionsweise ist einfach: In einem ersten Schritt entscheiden die Kolleginnen selbst darüber, wie sie in Zukunft arbeiten wollen, um ihrem beruflichen Anspruch an eine gute Patient:innenversorgung wieder gerecht werden zu können. Das kann für eine pflegerische Station heißen, dass sechs statt vier Pflegekräfte im Frühdienst arbeiten müssen. Für radiologische Bereiche kann das heißen, dass jedes Gerät zu zweit besetzt sein muss.
Im zweiten Schritt greift dann der Belastungsausgleich, sobald eine Unterbesetzung festgestellt wird: Dann bekommen die betroffenen Kolleg:innen einen Belastungspunkt – und für eine bestimmte Anzahl davon einen freien Tag. Der Belastungsausgleich schafft endlich wieder einen finanziellen Anreiz für die Klinikleitung, Personal neu einzustellen, weil Personalmangel sie nun kostet. Dass dieser Mechanismus funktioniert, zeigt das Beispiel der Charité in Berlin, wo es in den ersten zweieinhalb Jahren seit Inkrafttreten des TV-E einen Nettozuwachs von 330 Pflegekräften gegeben hat.
„Eine Chance, die gibt’s nur einmal im Leben“
Den Kolleg:innen an Niedersachsens größtem Krankenhaus, der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), war also klar, dass sie in große Fußstapfen treten. Ich durfte als einer von acht hauptamtlichen Organizer:innen die Beschäftigten von März bis Oktober dabei unterstützen, ein effektives Netzwerk von betrieblich aktiven Kolleg:innen aufzubauen. Ohne dieses Netzwerk hätte die Bewegung an der MHH keine Fahrt aufgenommen und wäre spätestens mit der ersten gewonnenen Klage des Landes Niedersachsen gegen ihre eigenen Beschäftigten im August zum Erliegen gekommen. Zu diesem Zeitpunkt aber gab es schon 300 Teamdelegierte, die in jedem der über 150 Teams nominiert worden waren und sofort reagieren konnten. Die überwiegende Mehrheit von ihnen war zum ersten Mal gewerkschaftlich aktiv. So wie Maria, mit 63 Jahren kurz vor der Rente, die als Teamdelegierte Verantwortung für ihr Team übernahm, „weil so etwas, das ist eine Chance, die gibt’s nur einmal im Leben!“. Oder Saskia, Pflegerin und junge Mutter, die auf einer Rede am Streiktag dem zuständigen Minister zurief: „Ich kann nicht mehr länger zusehen, wie die Politik nichts tut. Nicht der Streik gefährdet die Patienten, sondern unser täglicher Alltag im Krankenhaus, den Sie zulassen!“
Drei gute Gründe für Beteiligung
Sie alle hatten in ihren Teams einen demokratischen Forderungsprozess initiiert, in dessen Rahmen zunächst jede Kollegin bzw. jeder Kollege eigene Forderungen aufstellte, bevor das Team zusammenkam und in einem sogenannten Teamratschlag seine Teamforderung beschloss. Die nahmen die Teamdelegierten dann mit zum großen Krankenhausratschlag, bei dem sie das Gesamtpaket ihrer Forderungen beschlossen. Die Tarifkommission – 25 Kolleg:innen, von allen Mitgliedern der Gewerkschaft ver.di als Verhandlungsführung während der Auseinandersetzung gewählt – verkündete hier, jede Entscheidung in den Verhandlungen mit den Teamdelegierten rückzukoppeln, die wiederum als Sprachrohr ihrer Teams funktionierten. Im weiteren Verlauf des Konflikts zeigte sich die wahre Stärke dieses dreistufigen Netzwerks. Von diesem Netzwerk haben sich auch die Freizeitpädagog:innen von Bildung im Mittelpunkt in Wien inspirieren lassen. Drei Gründe sprechen für dieses Beteiligungsmodell:
Erstens führte der demokratische Forderungsprozess dazu, dass sich die Kolleg:innen maximal mit ihren Forderungen identifizierten, weil es ihre eigenen waren und sie so bereit waren, dafür Berge zu versetzen. Zweitens erlaubte ihre Beteiligung in den Verhandlungen es ihnen, als Expert:innen ihrer Arbeitsbedingungen aufzutreten. Dabei zeigte sich immer wieder: Die Beschäftigten haben selbst die besten Argumente und das größte Wissen über ihre Arbeit, mit dem sie den Arbeitgeber leicht an die Wand diskutieren können. Drittens zeigte sich während der Verhandlungen, dass sich notwendige Kompromisse am Verhandlungstisch viel besser kommunizieren lassen, wenn sie unter Mitwirkung der Beschäftigten geschehen. Das gilt auch für die Kommunikation des Verhandlungsergebnisses, über das die Teamdelegierten nach Rücksprache mit ihren Teams abstimmten.
Größere Durchsetzungsfähigkeit, bessere Argumente und transparentere Kommunikation – das sind die drei großen Stärken einer beteiligungsorientierten Gewerkschaftsstrategie. An der MHH war es der Schlüssel dafür, dass sich fast 1.000 Kolleg:innen neu gewerkschaftlich organisiert und Klinikleitung und Politik gemeinsam die Stirn geboten haben.
Spaltungsversuchen entgegenwirken und politischen Druck aufbauen
Als das Land mithilfe einer bekannten Union Busting-Kanzlei dann im September das zweite Mal gegen den Streik der Kolleg:innen klagte, waren diese vorbereitet: Am nächsten Morgen gingen 40 Beschäftigte in die Sprechstunde der Klinikleitung. Die zahlreichen Versuche, einen Keil zwischen ver.di und die Kolleg:innen zu treiben, scheiterten; Kolleg:innen drohten mit massenhafter Kündigung. Zeitgleich gingen 30 Briefe von mehrheitlich organisierten Teams bei Klinikleitung und Landesministern ein, die ihre Forderung bekräftigten und sich gegen eine erneute Klage stellten. Unter diesem politischen Druck und den Vorzeichen des drohenden Streiks erklärte sich der zuständige Minister schließlich am Abend zu großen Zugeständnissen bereit: Rückzug der Klage, somit freie Bahn für den Streik in der darauffolgenden Woche, gleichzeitig endlich Verhandlungsbeginn. Außerdem – einmalig in Deutschland – Freistellung der Teamdelegierten für die Verhandlungen. Zuvor hatten die Arbeitgeber geheime Verhandlungen in engem Kreis gefordert. Sofort kamen die Teamdelegierten in einer Videokonferenz zusammen, berieten sich und entschieden sich in großer Mehrheit für den Vorschlag. Eine Stunde vor der Gerichtsverhandlung zog das Land hastig die Klage zurück. Es folgten drei Streiktage, die zu den stärksten Krankenhausstreiks Deutschlands zählten: Über ein Drittel der Bettenkapazität musste streikbedingt gesperrt werden. Unter diesen Vorzeichen und einem drohenden unbefristeten Streik – die Urabstimmung darüber fiel mit 97 Prozent sehr deutlich aus – kam endlich Bewegung in die Verhandlungen.
Sieg nach 22 Verhandlungstagen
Dass sich Land und Klinikleitung schließlich bewegten, war alles andere als selbstverständlich: Sie hatten erst ein 100-Tage-Ultimatum verstreichen lassen und selbst danach immer wieder beteuert, dass es ihnen nicht möglich sei, einen Haustarifvertrag zu verhandeln. Die Kolleg:innen ließen sich davon nicht irritieren, denn sie wussten: „Wo ein Wille, da ein Weg!“ Und diesen Weg wählten die politischen Verantwortlichen dann auch, sobald der Druck so hoch war, dass der Arbeitskampf an der MHH drohte, sich zu einem landesweiten politischen Skandal zu entwickeln.
In neun nach Bereichen gegliederten Verhandlungsteams konnten die Teamdelegierten nach 22 Verhandlungstagen, 18 Teamdelegierten-Versammlungen und vier Streiktagen mit großer Mehrheit ein Eckpunktepapier erarbeiten und beschließen, das bundesweit zu den besten Entlastungsvereinbarungen gehört. Es sieht durchschnittlich einen Personalaufbau um 20 Prozent vor, in einzelnen Bereichen sogar deutlich mehr, und wird das Land Niedersachsen jedes Jahr einen zweistelligen Millionenbetrag kosten. Noch am Abend der Einigung schwenkte die Klinikleitung um und ging mit der Vereinbarung in die Kommunikationsoffensive, indem sie über ihrer Website verkünden ließ: „Wir sind überzeugt, dass die Verhandlungsergebnisse zu besseren Arbeitsbedingungen in der MHH führen.“
Für die Zukunft gerüstet
Den Kolleg:innen an der MHH ist klar, dass die Auseinandersetzung um bessere Arbeitsbedingungen im Krankenhaus damit nicht beendet ist. In den nächsten vier Jahren wird es darum gehen, die Regelungen umzusetzen. Noch immer wird im Krankenhaus auf dem Rücken der Patient:innen und Beschäftigten Profit gemacht. Aber mit der Entlastungsvereinbarung gibt es endlich einen finanziellen Anreiz für eine bedürfnisgerechte Gesundheitsversorgung, die den Menschen an erste Stelle setzt.
Der größte Erfolg für die Kolleg:innen an der MHH ist das gewerkschaftliche Netzwerk, das sie in den letzten Monaten aufgebaut haben. Sie haben gezeigt, wie Beteiligung die Grundlage für Konfliktfähigkeit und damit für echte gewerkschaftliche Macht von unten schafft, mit der sich riesige Erfolge erzielen lassen. Dieses Netzwerk wird es auch für die Auseinandersetzungen der nächsten Jahre brauchen – und dann sind die Kolleg:innen an der MHH bereit. Wir sollten die Beteiligungsformate aus der deutschen Krankenhausbewegung als Vorbild in Österreich nutzen, um den notwendigen Schwenk hin zum Aufbau gewerkschaftlicher Organisationsmacht zu vollbringen.