Ein erwachsener behinderter Mann wollte allein einkaufen gehen. Monatelang wurde mit ihm ein Verkehrstraining absolviert und man hatte den Eindruck, dass man ihn allein gehen lassen könne. Einmal benutzte er nicht den Zebrastreifen und lief auf die Straße. Die herankommende Autofahrerin stieß mit ihm zusammen – verletzte ihn, aber auch das Auto wurde beschädigt – und klagte daraufhin die Institution der Behindertenhilfe auf Schadenersatz, weil sie der Meinung war, die Institution habe ihre „Aufsichtspflicht“ verletzt. Die neueste Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bringt zum Ausdruck, dass keine „Aufsichtspflicht“ über den Klienten, sondern eine „Schutz- und Sorgfaltspflicht“ besteht. Außerdem gibt es nun etwas mehr Klarheit, wie viel „Sorgfalt“ Betreuer:innen ausüben müssen.
In der Vergangenheit wurde angenommen, dass für Betreuer:innen eine Aufsichtspflicht bestehe. Nun hat der Oberste Gerichtshof in einem interessanten und Aufsehen erregenden Urteil die Zeichen der Zeit (und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung) in seine neueste Entscheidung einfließen lassen. Wenngleich damit keinesfalls alles klar ist, kann doch ein wichtiger Trend abgelesen werden, der für die tägliche Arbeit von Betreuer:innen von Bedeutung ist.
Um die Haftung für Betreuer:innen von behinderten Menschen zu skizzieren, muss man in die frühen 1980er Jahre zurückblicken.
Klient verletzt anderen Klienten mit einem Schistock am Auge: keine Haftung für Betreuer:innen
In diesem Fall wurde die Institution, bei der der behinderte Mensch lebte, und die Betreuerin auf Schmerzensgeld und Schadenersatz geklagt:
Ein damals wegen „Geistesschwäche beschränkt entmündigter“ (Zitierung aus Originaltext) Klient bekam eine Schilanglauf-Ausrüstung geschenkt, die er aus Freude darüber in seinem Zimmer verwahrte. Der Klient wurde von einem anderen Klienten mit einem zu der Ausrüstung gehörenden Schistock so schwer am Auge verletzt, dass dieses in der Folge durch ein Glasauge ersetzt werden musste.
Geklagt wurden damals die Betreuerin und die Institution, weil ihnen vorgeworfen wurde, sie hätten die Aufsichtspflicht verletzt. Der OGH hielt schon damals fest, dass das „Maß der Aufsichtspflicht“ nicht generell festgelegt werden könne, es komme auf die Umstände des Einzelfalles an und richte sich nach Kriterien wie Alter, Entwicklungsstand und Eigenschaften des Aufsichtsbedürftigen, Grad der Gefährlichkeit der Situation und der Frage, was (…) vernünftigerweise verlangt werden dürfe, um das Ziel möglichst weitgehender Selbstständigkeit sowie Integrierung in die Gesellschaft zu erreichen. An das Maß der Aufsicht seien keine überspannten Anforderungen zu stellen. Eine schuldhafte Vernachlässigung der Aufsichtspflicht lag nach Ansicht des OGH nicht vor. Daher keine Haftung wegen Verletzung der Aufsichtspflicht für Institution und Betreuer:in!
Klient läuft aus dem Einkaufszentrum weg und wird verletzt: keine Haftung für Betreuer:innen
Dieser Fall war vor allem deshalb interessant, weil das Erstgericht einen psychiatrischen Sachverständigen bestellt hatte, um mit diesem die Frage der „Gefährdung“ zu erörtern. Das Oberlandesgericht kam zum Ergebnis, dass „vom bloßen Fachwissen eines Psychiaters“ nicht darauf geschlossen werden kann, womit im Rahmen der Behindertenarbeit tätige Betreuer:innen rechnen müssen. Dabei kommt es auf die Beobachtungen und Erfahrungen an, die sie im täglichen Umgang mit den behinderten Menschen machen. Die Anforderung, einen geistig behinderten Menschen in einer Situation, in der für den bzw. die Betreuer:in kein Grund zur Annahme besteht, dieser könnte sich selbst gefährden, auch nicht bloß für kurze Zeit aus den Augen zu lassen, wäre realitätsfremd und würde eine sinnvolle Arbeit mit geistig behinderten Menschen, deren Ziel es unter anderem ist, diese auch am Alltagsleben teilhaben zu lassen, praktisch unmöglich machen. Daher auch hier keine Haftung wegen Verletzung der Aufsichtspflicht.
Keine Aufsichtspflicht, sondern eine Schutz- und Sorgfaltspflicht, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist zu beachten
Vorweg: Im aktuellen Verfahren wurde nur mehr die Institution und nicht mehr zusätzlich auch noch der bzw. die Betreuer:in geklagt. Auch eine Haftung der Institution ist im konkreten Fall nicht gegeben. In seiner neuesten Entscheidung weist der OGH darauf hin, dass mangels gesetzlicher oder vertraglicher Grundlage keine Aufsichtspflicht im Sinne des § 1309 ABGB besteht. Allerdings können vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten (…) zur Verpflichtung führen, betreute Menschen vor Schäden durch andere zu schützen. Es ist nicht Aufgabe der (professionellen) Pflege und Betreuung, alle Risiken gegenüber außenstehenden Dritten auszuschließen, weil dies auf Kosten der Selbstbestimmung des volljährigen Behinderten ginge und mit jeder Sicherheitsmaßnahme regelmäßig auch Eingriffe in die Freiheitsrechte des Betroffenen verbunden wären. Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung eines Volljährigen gegenüber außenstehenden Dritten kommt regelmäßig nicht auf der Grundlage der Verletzung einer Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB, sondern nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht. Bei deren Konkretisierung sind die Wertungen der UN-Behindertenkonvention, insbesondere das Recht der behinderten Person auf volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherstellung ihrer persönlichen Mobilität mit größtmöglicher Selbstbestimmung, zu berücksichtigen.
Und wie viel Sorgfalt brauchen Betreuer:innen demnach?
Eine pauschale Antwort gibt es dazu leider nicht, immerhin aber vernünftige Anhaltspunkte. Nach der neueren Lehre ist insbesondere jenes Ausmaß an Sorgfalt einzuhalten, das sich an einem maßgetreuen Menschen orientiert, also daran, was von einem bzw. einer ordentlichen, pflichtbewussten Durchschnittsmitarbeiter:in in der konkreten Situation erwartet werden kann. Es ist dabei jene Achtsamkeit unerlässlich, die im normalen Umgang mit – z. B. alten – Menschen berechtigterweise verlangt wird. Wenn eine konkrete Gefährdung vorhersehbar ist, rechtlich zulässige Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen und die zur Gefahrenabwehr erforderliche Maßnahme der jeweiligen Person auch zumutbar ist, besteht die Pflicht, die schadensvermeidende Maßnahme zu setzen.
Beachtlich an der neuen Entscheidung ist, dass sich der OGH ausdrücklich vom Begriff „Aufsichtspflicht“ verabschiedet und nun „Schutz und Sorgfaltspflicht“ verwendet. Sensationell ist, dass ausdrücklich der Wert der Selbstbestimmung im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung erwähnt wird.
In einfachen Worten: Wer sorgfältig ist, ohne dabei hellsehen zu müssen, aber konkrete und ersichtliche Gefahren ausschließt und dabei insbesondere auch die Rechte der behinderten Menschen im Auge behält, befindet sich keinesfalls mit einem Fuß im Kriminal.