Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise stieg die Arbeitslosenrate im Euroraum zwischen 2008 und 2013 von 7,6% auf 12% an. Was sind die Ursachen für diesen drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit, der im Besonderen durch die verheerende Arbeitsmarktentwicklung in Krisenländern wie Spanien getrieben wird? Wenn es nach der Europäischen Kommission geht, ist er nicht in erster Linie auf den wirtschaftlichen Einbruch zurückzuführen, sondern auf strukturelle Arbeitsmarktverschlechterungen – die nur durch sogenannte „Strukturreformen“ beseitigt werden könnten. Dieser Fehlschluss ist u.a. auf die überzogene Schätzung der strukturellen Arbeitslosenrate zurückzuführen. Dies hat wichtige wirtschaftspolitische Implikationen, weil konjunkturelle Arbeitslosigkeit durch wirtschaftspolitische Maßnahmen gezielt bekämpft werden kann und sollte.
Konjunkturelle oder strukturelle Arbeitslosigkeit?
Resultiert die hohe Arbeitslosigkeit in der Eurozone aus der Wirtschaftskrise? Führende wirtschaftspolitische EntscheidungsträgerInnen auf europäischer Ebene sehen das anders, sie betonen die Bedeutung von strukturellen Faktoren: Die Arbeitslosigkeit sei hoch, weil die Krise dazu geführt habe, dass die Arbeit(nehm)erInnen nicht die notwendigen Skills für neue Jobs hätten. Zudem befänden sich die Arbeitslosen oftmals einfach geografisch am falschen Ort. Kurzum: Hohe Arbeitslosigkeit sei auf eine hohe strukturelle Arbeitslosenrate zurückzuführen. Expansive wirtschaftspolitische Maßnahmen – bspw. die Schaffung von Beschäftigung durch staatliche Infrastrukturprojekte – könnten dieses Problem nicht beheben; für einen Abbau der Arbeitslosigkeit seien vielmehr „strukturelle und institutionelle Maßnahmen“ notwendig.
Sogenannte „Strukturreformen der Arbeitsmärkte“, wie sie vor allem in den Krisenländern der Eurozone forciert werden, bedeuten in der wirtschaftspolitischen Praxis massiven Sozialabbau: Die Europäische Kommission erwartet sich, dass Maßnahmen wie die Kürzung von Arbeitslosenunterstützung, der Abbau von Arbeitsschutzbestimmungen und die Dezentralisierung des Lohnverhandlungssystems – das heißt die Schwächung der Gewerkschaften – „Arbeitsmarktrigiditäten“ beseitigen werden, die derzeit einem Abbau der Arbeitslosigkeit entgegenstünden. Erstens besteht der Glaube darin, dass dadurch der Anreiz für die Arbeitslosen steigen wird, dort hin zu ziehen, wo sie mit ihren Skills neue Jobs annehmen könnten. Zweitens wirkt sich der Sozialabbau in der angebotsseitigen Modellwelt der Europäischen Kommission expansiv auf Wachstum und Beschäftigung aus, weil die Produktionskosten der Unternehmen sinken.
Die Sichtweise, dass das Beschäftigungsproblem im Euroraum in erster Linie strukturell bedingt sei, wird durch aktuelle Schätzungen der Europäischen Kommission zur strukturellen Arbeitslosenrate gestützt. Die Kommission berechnet die strukturelle Arbeitslosenrate als jene Arbeitslosigkeit, bei der kein Preisdruck auf die Löhne entsteht – wo die Inflation also konstant bleibt. Dem verwendeten Konzept (NAWRU) liegt die Vorstellung zugrunde, dass volkswirtschaftliche Überhitzung eintreten wird, wenn höhere, zu steigender Inflation beitragende Löhne durchsetzbar sind.