Wenn der aktuelle europäische Beschäftigungs- und Sozialbericht („Employment and Social Developments in Europe“ (ESDE 2015), der jährlich von der EU-Kommission (EK) veröffentlicht wird, eines zum Ausdruck bringt, dann ist es das Scheitern der bisherigen Sparpolitik in Europa! Oder können zunehmende Verarmung, eine verfestigte Arbeitslosigkeit jenseits der 20-Millionen-Marke, verfehlte EU-2020-Ziele und eine Zunahme der sozialen Verwerfungen in den meisten EU-Staaten auch anders interpretiert werden?
Persilschein – unzumutbar!
Statt akuten Handlungsbedarf und eine kritische Reflexion der „Rezeptur des Scheiterns“ (= konzertierter Rückbau des Sozialstaats, Abbau der ArbeitnehmerInnenrechte, fanatische Marktgäubigkeit, uvm) aus dem vorliegenden knapp 500 Seiten abzuleiten, schafft die Pressestelle der EU-Kommission das „Unmögliche“: sie vergibt quasi einen „Persilschein“ für das unsoziale Fehlmanagement im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008+. Der entsprechende Pressetext vom 21. Jänner 2016 im Rahmen der Präsentation des ESDE 2015 unterstellt – entgegen der umfangreichen und detaillierten Analyse! – den Bereichen Beschäftigung und Soziales in der EU eine „weiterhin positive“ Entwicklung!? Dieser Pressetext kann nur als Abgehobenheit aus Sicht von Millionen von Menschen in der EU gesehen werden.
Ignoranz – unzumutbar!
Der ESDE 2015 bringt neuerlich eine Dramatik zutage, die erstaunlicherweise beinahe „unbeachtet“ bleibt – anders kann man die offensichtliche Ignoranz der EU-Kommission angesichts der folgenden Zahlen nicht bezeichnen: 122 Mio. Menschen – also fast jede/r 4. der EU-Bevölkerung, davon rund 40 Mio. Kinder und Ältere – sind laut Bericht armutsgefährdet oder sozial ausgegrenzt. Angesichts dieser Dimensionen erscheinen z.B. 11 Mio. Langzeitarbeitslose (mind. 1 Jahr) – 7 Mio. davon sind für über 2 Jahre ohne Job – scheinbar nicht besorgniserregend genug.
Rezepte – unzumutbar!
Was also tun als Antwort auf die soziale Frage und Massenarbeitslosigkeit? Nicht minder zynisch mutet die Empfehlung zu mehr selbständiger Erwerbstätigkeit und „Entrepreneurship“ an – also Selbstständigmachen als Erfolgsrezept für (Langzeit-)Arbeitslose, Menschen mit Behinderung, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder für andere benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt? „Abgerundet“ wird die Rezeptur noch mit der Empfehlung zu „mehr Mobilität“! Gemeint ist hier leider kein Masterplan für Infrastrukturinvestitionen oder ähnliche klassische Konjunkturpakete, sondern schlicht der Befund, dass nur 4 % der EU-Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren in einem anderen Mitgliedstaat als dem Geburtsland leben. Hier stellt man traditionell auch gerne den Vergleich mit den USA an, wo etwa 30 % der Bevölkerung diese (Arbeits-)Migration auf sich nehmen und damit niedrigere Arbeitslosigkeit und höhere Prosperität möglich wären. Dass sich alleine aus diesem Vergleich „Nachahmungs-Potenziale“ irgendwelcher Art ergeben sollen, ist nicht wirklich nachzuvollziehen. Zusammengefasst: Selbstständigkeit und Arbeitsmigration gelten als DIE Heilbringer für die soziale Frage in Europa!?
Sparpolitik – unzumutbar!
Es wäre gänzlich unfair, eine weitere Forderung der zuständigen EU-Kommissarin, Marianne Thyssen, nämlich „mehr in die Menschen zu investieren“, nicht zu erwähnen – gleichzeitig muss diese Forderung hinsichtlich ihrer Substanz hinterfragt werden. Menschenzentrierte Investitionen klingen besonders wünschenswert und einleuchtend. Sie sind auf den ersten Blick definitiv überzeugender als die oben beschriebene Rezeptur. Auf den zweiten Blick werden aber viele der grundsätzlich sinnvollen Überlegungen (u.a. Bildungsinvestitionen, Qualifizierung, Kinderbetreuung etc.) bereits vorweg durch den hegemonialen Sparstift gerade im Sozialbereich zunichte gemacht. Die kurzsichtige, übertriebene Budgetdisziplin in vielen EU-Mitgliedstaaten wird damit weder den konjunkturellen Erfordernissen noch den brennenden sozialen Herausforderungen gerecht. Im Gegenteil: vielmehr führt gerade das konzertierte Sparen in Europa zu einer Investitions- bzw. Nachfragelücke und gefährdet damit weiter den sozialen Zusammenhalt, da viele Problemlagen nicht gelöst und damit nur zeitlich verschleppt bzw. perpetuiert werden.
FLEXIcurity – unzumutbar!
Die Wortschöpfung „Flexicurity“ hat im EU-Kommissionswording mittlerweile eine jahrzehntelange Tradition. Sie kombiniert die beiden Worte „Flexibilität“ und „Sicherheit“ und suggeriert, dass beides – einst nach dänischem Vorbild formuliert – gleichzeitig realisierbar wäre. Dem Grundgedanken, dass eine dynamische Arbeitswelt auch flexible Antworten bei gleichzeitiger Wahrung der ArbeitnehmerInnenrechte bzw. hoher Sozialschutzniveaus, braucht, ist per se nicht verwerflich. Die Realität zeigt aber, dass es sich weder um eine friedliche Koexistenz beider Ziele handelt, noch dass beide Ziele gleich intensiv seitens der EU-Kommission verfolgt werden. Seit Jahren wird unter massivem Druck der Arbeitgeber-Lobbies eine „Zug-um-Zug“-Strategie eingefordert, die zuerst den ArbeitnehmerInnen eine hohe Flexibilität abverlangt, während Schutzbestimmungen für sie nachrangig, somit später – oder vielleicht auch nie – diskutiert werden. Bildlich gesprochen: Während die Forderung nach mehr Flexibilität der ArbeitnehmerInnen stets großgeschrieben wird, vergisst die EU-Kommission gerne darauf, ihre – ohnedies nur vage angedeuteten – Versprechen hinsichtlich einer besseren (sozialen) Absicherung der Beschäftigten anzugehen bzw. einzulösen.
Fachkräftemangel – unzumutbar!
Die Spitze der Unverfrorenheit stellt – angesichts der horrenden (qualifizierten) industriellen Reservearmee – der Befund der Unternehmen dar, dass 4 von 10 Unternehmen Schwierigkeiten haben, qualifizierte MitarbeiterInnen zu finden. Natürlich ist die Unterstellung mangelnder Arbeitswilligkeit oder schlechter Ausbildung eine mittlerweile salonfähige Variante, um nicht selten von schlechten Arbeitsbedingungen, mangelnden Perspektiven im Unternehmen und unattraktiver Bezahlung ablenken zu können. Diese Vorurteile sind auch in Österreich stets präsent: immer wieder aufflammende Diskussionen über verschärfte Zumutbarkeitsbedingungen und andere Einfallstüren für schmerzhafte Leistungskürzungen in der Arbeitslosenversicherung sind ein logisches Ablenkungsmanöver von der eigenen Verantwortung der Unternehmen.
Abstiegsangst – unzumutbar!
Hohe Arbeitslosigkeit verstärkt die bestehenden Machtungleichgewichte am Arbeitsmarkt. Der/die Einzelne fühlt sich – berechtigt – verwundbarer und verunsichert. Europaweit geben 4 von 10 ArbeitnehmerInnen im Rahmen des European Working Conditions Survey 2015 an, dass ein möglicher Jobverlust aus Ihrer Sicht mit dauerhaften Einkommensverlusten verbunden wäre. Selbst in Ländern wie Dänemark oder Schweden, denen vergleichsweise hohe Sozialschutzniveaus und günstige Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt zugeschrieben werden, sind Existenz- und Abstiegsängste zu einem verbreiteten Phänomen geworden.
„Sozial“ ist notwendig!
Statt aus den Fehlern der verfolgten Austeritätspolitik zu lernen, schafft es die EU-Kommission nicht, von ihrem wirtschafts- und sozialpolitischen Irrweg der letzten Jahre abzuweichen. Noch immer werden – wie es Schulmeister treffend nennt – „marktreligiöse“, neoliberale Rezepte verfolgt. Das Ignorieren der Arbeitslosigkeit und der Sozialen Frage in Europa hat definitiv einen hohen Preis: menschliche Tragödien, steigende Ungleichheit, Verunsicherung, eine tiefgreifende Gefährdung der Demokratie und …!