Der Niedergang der neoliberalen Geldpolitik

28. November 2016

Seit 2010 sind neoliberale Politikansätze wieder auf dem Vormarsch, unter anderem der ideologische Glaube, dass Geldpolitik das einzig zulässige politische Instrument sei, um Industrienationen auf den Wachstumspfad zurückzuführen. Konservative RegierungsvertreterInnen haben sich vollends der Überzeugung hingegeben, dass expansive Fiskalpolitik nicht funktioniert oder zu immensen öffentlichen Defiziten führt, die Volkswirtschaften in die Schuldknechtschaft bzw. Hyperinflation treiben.

Nach der Finanzkrise wurde der unkonventionelle Ansatz der quantitativen Lockerung („quantitative easing“), der zunächst insbesondere von der US-Notenbank, der Federal Reserve, propagiert wurde, über das gesamte politische Spektrum hinweg begrüßt. Man vermied dadurch die Fehler der 1930-er Jahre, die nach der Großen Depression zum weitgehenden Zusammenbruch des Bankensektors geführt hatten. Würde man die global expansive Geldpolitik bei gleichzeitiger Austeritätspolitik als Wachstumsexperiment betrachten, wäre dieses kläglich gescheitert. Das einseitige Setzen auf Niedrigzinspolitik und selbstregulatorische Marktmechanismen hatte die schwächste wirtschaftliche Erholung der Geschichte zur Folge. Heute lähmt fiskalischer Konservativismus die Weltwirtschaft und trägt zu einer Atmosphäre der zunehmenden Ausgrenzung und Radikalisierung bei.

John Maynard Keynes war hingegen davon überzeugt, dass der Effekt der Geldpolitik in einer Rezession mit mangelnder Nachfrage gegen Null gehen würde – die bekannte Liquiditätsfalle. Er sprach sich für expansive Fiskalpolitik aus. Der monetaristische Ansatz, unter anderem von Milton Friedman vertreten, ging vom Gegenteil aus. Die gegenwärtigen Erfahrungen zeigen, dass Keynes Recht behalten hat.

Der Neoliberalismus ist zurück – mit den Zentralbanken als Hauptakteurinnen

Zwischen Mitte der 1960er-Jahre und Mitte der 2000er-Jahre erhöhte sich das Vermögen des britischen Bankensektors gemessen am BIP um über 1000% (siehe Abbildung 1). Im Zeitraum von 1920 bis 1970 lagen die durchschnittlichen Eigenkapitalrenditen relativ stabil bei unter 10% und waren mit jenen der Realwirtschaft vergleichbar. Nach 1970 stiegen die Renditen sprunghaft auf etwa 20% an – bei gleichzeitig erhöhter Volatilität. Direkt vor der letzten Krise erreichten sie sogar bis zu 30%. In anderen Industrieländern ergaben sich ähnliche Trends.

Abbildung 1: Vermögen des Bankensektors (in % des BIP) in Großbritannien

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Quelle: Alessandri and Haldane (2009) Speech Banking on the State, Bank of England, p. 24.

Trotz der Finanzkrise 2007/2008 wird an der Unantastbarkeit des Finanzsektors und einer langfristig expansiven Geldpolitik festgehalten.

Einige ÖkonomInnen haben sich daher für „Helikoptergeld“ ausgesprochen, dem die Grundidee des Gelddruckens und Verteilens an die breite Bevölkerung zugrunde liegt. Geldpolitik soll demnach auch in der Situation einer Liquiditätsfalle effektiv wirken können.

Es scheint, als ob man jede Maßnahme, egal wie verquer, einem keynesianischen Lösungsansatz, durch den öffentliche Investitionen in physische und soziale Infrastruktur der breiten Bevölkerung zugutekommen würden – vorzieht.

Die Geldpolitik seit der Krise: vom Null- zum Negativzins

Die US-Federal Reserve begann bereits Ende 2007 damit, den Leitzinssatz herabzusetzen, bis dieser Ende 2008 knapp über Null stand. Gleichzeitig kündigte sie eine quantitative Lockerungspolitik an, um so das Geldangebot für Banken zu erhöhen. Japan folgte diesem Ansatz Anfang 2013, die Europäische Zentralbank (EZB) nach einer anfänglich prozyklischen Zinspolitik schließlich Mitte 2015. In der Konsequenz blähten sich die Bilanzsummen der Zentralbanken enorm auf.

Die Leitzinssätze wurden 2008 in allen führenden Volkswirtschaften massiv gesenkt. Nach einem kurzen Gegentrend 2010/2011 sanken die Zinssätze erneut auf null oder nahezu null Prozent. Trotz der theoretischen Annahme der Null als absolute Zinsuntergrenze, führte im Juli 2012 zunächst die dänische Zentralbank einen negativen Leitzinssatz ein, gefolgt von der EZB Mitte 2014, der Schweiz und Schweden Anfang 2015, Japan Anfang 2016 und schließlich Ungarn im März 2016. Derzeit bewegt sich ein Viertel der Weltwirtschaft unter monetären Regimen mit Negativzins. Diese negativen Zinssätze betreffen grundsätzlich Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank, welche die Mindestreserveanforderungen übersteigen. Bislang gaben Geschäftsbanken diese Negativzinsen im Großen und Ganzen nicht an ihre Kunden weiter, es gibt jedoch zunehmend Ausnahmen hiervon.

Billiges Geld hilft der Realwirtschaft nicht

Ein billigeres und vermehrtes Geldangebot sollte eigentlich zu einer Erhöhung der Kreditnachfrage führen, die dann neue Unternehmensinvestitionen, stärkere Konsumnachfrage von Haushalten, steigende Wertschöpfung, geringere Arbeitslosigkeit und höhere Inflation nach sich zieht. Soweit die Theorie.

Im Finanzsektor besteht derzeit jedoch eine bilanzielle Rezession, was bedeutet dass alle Sektoren gleichzeitig versuchen, sich zu entschulden. Die Notwendigkeit, hochrisikobehaftete Kredite des Bankensektors zu verringern, steht in direktem Widerspruch zur angestrebten Ausdehnung der Kreditvergabe als Wachstumsmotor.

Im Ergebnis führte (mit Ausnahme von Schweden) die verfolgte Geldpolitik bei gleichzeitiger fiskalischer Autorität nicht zu den erhofften Ergebnissen und stärkerem Wachstum. Lediglich Japan zeigt einen positiven Trend in Bezug auf sinkende Arbeitslosigkeit und die Umkehr deflationärer Tendenzen (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten (in Prozent):

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Quelle: IWF (2016) World Economic Outlook, April, S. 170.

Wandel der Risikowahrnehmung

Makro-ökonometrische Standardmodelle beinhalten keinen separaten Finanzsektor, der selbst als Verursacher von Finanzkrisen auftreten kann und eigene Effekte auf die Gesamtwirtschaft hat. Die Theorie geht zudem davon aus, dass die Geschwindigkeit des Geldumlaufs von den Banken zur Realwirtschaft konstant ist und vernachlässigt damit Änderungen in der Risikobewertung.

So stieg beispielsweise nach der Krise die Differenz zwischen dem Zinssatz, den die Banken für ein Darlehen bezahlen und dem Zinssatz, den sie Unternehmen verrechnen, in allen großen europäischen Wirtschaftsräumen, insbesondere im Süden Europas. Mit anderen Worten: Banken versuchten ihre Gewinnmarge zu erhöhen statt der Wirtschaft günstiges Geld zur Verfügung zu stellen.

Die Änderung der Risikobewertung spiegelt sich auch im sinkenden Volumen der Anleihen- und Darlehensgeschäfte der Banken untereinander wider. Zwischen September 2008 und Februar 2009 sank die Zahl der Banken, die im Fondsmarkt der US-Federal Reserve aktiv waren um fast zwei Drittel. Das Volumen der Interbankenkredite fiel zwischen Oktober 2008 und April 2016 um über 85% auf das Niveau von 1980 (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Interbankenkredite aller Geschäftsbanken (in Milliarden USD)

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Quelle: Federal Reserve Bank von St. Louis (2016) Wirtschaftsforschung, online Daten.

Entgegen den Erwartungen der ÖkonomInnen stiegen die Einlagen der Geschäftsbanken bei der jeweiligen Zentralbank trotz negativer Zinsen in Japan, der Schweiz und Schweden. Bei der EZB belief sich die Steigerung auf beträchtliche 660% seit April 2014. Auch hier zeigt sich die Risikoaversion der kommerziellen Banken deutlich.

Staatsanleihen gelten als äußerst sichere Anlagen und ihre Renditen werden häufig als Indikator für die langfristigen Konjunkturaussichten herangezogen. Aufgrund der hohen Nachfrage nach Staatsanleihen sind die Renditen heute im Keller. Mehr als zwei Drittel der laufenden Staatsanleihen der Schweiz, Deutschlands, Japans und der Niederlande weisen negative Renditen auf. Das Gesamtvolumen der Anleihen mit Negativrenditen beläuft sich mittlerweile auf 7 Billionen US-Dollar.

Abbildung 3: Anteil der Staatsanleihen mit negativer Rendite
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Quelle: IMF (2016) Global Financial Stability Report, p. 11.

Die Flucht in Besitzgüter ist ein weiteres Indiz für den Vertrauensverlust in das Finanzsystem. Immobilienpreise steigen weltweit stark an. In Schweden erhöhten sich die Preise seit der Finanzkrise um 40%, in Dänemark um 50%. Damit wächst  die Gefahr von Immobilienblasen. Gleichzeitig stiegen Anfang 2016 die Goldpreise um 17%.

Schlussfolgerungen

Der neoliberale Ansatz, ausschließlich auf Geldpolitik als wirtschaftspolitisches Steuerelement zu setzen und gleichzeitig auf die Austeritätsbremse zu treten, hat sich als verfehlt erwiesen.

Die einzige wirkliche Alternative ist eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen. Doch trotz des Konsenses, dass es der Weltwirtschaft in erster Linie an einer stabilen Nachfrage mangelt, fehlt der entsprechende politische Wille zu substanziellen öffentlichen Investitionen. Bislang warfen die zentralbankgesteuerten Helikopter ihr Geld nur über Banker und Großunternehmen ab. Wenn es für neoliberale Ideologen allein um die Bezeichnung geht, die einer Ausweitung öffentlicher Investitionen, größerem Wachstum und der Sicherung des Lebensstandard für die breite Gesellschaft im Wege steht, dann sollte man öffentliche Ausgaben zum Teil der Geldpolitik machen und als Helikoptergeld deklarieren. Das Tabu im Denken der Zentralbanken – die direkte Finanzierung von Staatsausgaben – könnte dann in den politischen Diskurs zurückkehren. Und falls man dann noch richtig „radikal“ sein will, könnte man die Entscheidung und Planung solcher Ausgaben demokratisch gewählte Regierungen überlassen.

Eine Langfassung dieses Artikels, sowie die entsprechenden Quellennachweisen finden Sie in der kommenden Ausgabe der wirtschaftspolitik-standpunkte 4/2016.