Anfang 2014 kündigte die EU-Kommission überraschend an, die Verhandlungen zu den umstrittenen Investor-Staat-Klagerechten im geplanten Freihandelsabkommen zwischen EU und USA (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) vorerst auszusetzen und eine Konsultation dazu durchzuführen. Die Antwort darauf hat die Kommission nun für November in Aussicht gestellt. Doch schon jetzt ist klar: Noch nie haben sich so viele Menschen an einer EU-Konsultation beteiligt. Sind die Konzern-Klagerechte damit so gut wie vom Tisch? Steht womöglich das gesamte EU-USA Freihandelsabkommen „auf der Kippe“, wie Spiegel Online meldete? Ein Deutungsangebot in fünf Thesen.
These 1: Der Widerstand gegen die Konzern-Klagerechte im TTIP trägt Früchte
Wenngleich die EU-Kommission mit ihrer Konsultation zu den Investorenrechten im TTIP eine eigene Agenda verfolgt (siehe These 3) und es sich eher um eine kluge PR-Offensive als ein echtes Diskussionsangebot mit offenen Ausgang handelt (siehe These 2)– ohne den Widerstand gegen die Konzern-Klagerechte hätte es die Konsultation nichtgegeben. Hunderttausende haben im Internet dagegen unterschrieben. Über 99% der 150.000 Antworten auf die Konsultation kamen von Einzelpersonen – davon wiederum zahlreiche generiert über Online-Kampagnen-Plattformen, die gegen die Investorenrechte mobil machen. Bis hinein in bürgerliche Mainstream-Medien hagelt es Kritik an der Paralleljustiz „im Namen des Geldes.“ Und in den Parlamenten rumort es. Die Kommission musste reagieren.
Ob Umweltorganisationen, OnlineaktivistInnen, Gewerkschaften oder VerbraucherInnenschutz-Organisationen – der Teil der Zivilgesellschaft, der sich kritisch mit dem TTIP auseinandersetzt, hat sich ausnahmslos gegen die geplante „transatlantische Verfassung der Konzerne“ ausgesprochen, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. Konzerne könnten die Klagerechte nutzen, um vor privaten internationalen Schiedsgerichten Politik zum Schutz des Gemeinwohls zu bekämpfen – und Entschädigungen in Milliardenhöhe zu kassieren. Gewinneinbußen einzelner Unternehmen, die durch politische Reformen verursacht sind, würden auf diese Weise sozialisiert. Über 3.000 internationale Abkommen ermöglichen das schon heute.
So verklagt Vattenfall derzeit Deutschland auf über 4 Milliarden Euro Entschädigung, weil dem schwedischen Energiekonzern der Atomausstieg nicht passt. In Australien und Uruguay geht Philip Morris gegen Warnhinweise auf Zigarettenpackungen vor. Der kanadische Öl- und Gaskonzern Lone Pine verklagt über eine US-Niederlassung seine eigene Regierung auf 250 Millionen Dollar Schadenersatz, weil die Provinz Quebec aufgrund massiver Umweltrisiken ein Moratorium für die umstrittene Bohrtechnik ‚Fracking‘ erlassen hat. Die Klagen werden vor Schiedsgerichten aus meist drei Privatpersonen verhandelt. Sie orientieren sich am exzessiven Eigentumsschutz im Investitionsrecht – und nicht etwa an der Sozialpflichtigkeit des Eigentums oder dem Schutz des Gemeinwohls.
Gefahr für die Demokratie
Investor-Staat-Klagerechte im TTIP wären auch eine Gefahr für die Demokratie. Weltweit gibt es Beispiele von geplanten Regulierungen, die allein aufgrund der Androhung einer teuren Klage verwässert wurden oder ganz in der Schublade verschwanden. Fünf Jahre nach Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko, Kanada und den USA (NAFTA) beschrieb ein kanadischer Regierungsbeamter dessen Auswirkungen wie folgt: „Bei beinahe jeder neuen umweltpolitischen Maßnahme gab es von Kanzleien aus New York und Washington Briefe an die kanadische Regierung. Tatsächlich nutzen Unternehmen Investitionsrecht heute immer häufiger als Waffe in politischen Auseinandersetzungen, um striktere Regulierungen zu verhindern.
Entsprechend fokussiert sich der Protest gegen die Konzern-Klagerechte im TTIP auf ihre Gefahr für die Demokratie, öffentliche Haushalte, Politik zum Schutz des Gemeinwohls und laufende Klagen, die diese Gefahren veranschaulichen. In der Folge hat sich das niederländische Parlament gegen die Konzern-Klagerechte ausgesprochen. Im französischen Senat kommt Kritik aus allen Lagern. Der deutsche Wirtschaftsminister und Österreichs Bundeskanzler halten die Klagerechte ob des starken Rechtsschutzes auf beiden Seiten des Atlantiks für überflüssig. Das Cato Institut, ein einflussreicher libertärer Washingtoner Think Tank, hat sich ebenfalls dafür ausgesprochen, sie von der TTIP-Agenda zu streichen – um das Projekt als Ganzes zu retten. Das zeigt, wie sehr traditionelle AnhängerInnen des Investitionsschutzes in Zugzwang geraten. In Ländern wie Deutschland und Österreich, wo der TTIP-Widerstand stark ist, schießt sich aktuell politisch ins Abseits, wer sich ohne wenn und aber hinter die Sonderklagerechte für Konzerne stellt. Der Widerstand trägt also Früchte.
These 2: Der EU-Apparat ist ausreichend abgeschottet, um den Widerstand ins Leere laufen zu lassen
Wenngleich der Protest gegen die Konzernagenda im TTIP EU-Kommission, Rat und Parlament erreicht – im politischen System EU ist es wahnsinnig schwer, ein Projekt wie TTIP oder den Investitionsschutz zu Fall zu bringen. Gleich einem „internationalisierten Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch) ist das EU-Staatsapparate-Ensemble populär-demokratischer Kontrolle weitgehend entzogen. ‚Massenintegrativere‘ Apparate wie das Europaparlament und deliberative Diskussionsprozesse sind extrem schwach – technokratische, nicht gewählte AkteurInnen wie die Kommission dagegen stark. Apparate, die eher auf globalen Wettbewerb und Wirtschaftsinteressen ausgerichtet sind wie nationale Wirtschaftsministerien oder die Generaldirektion Handel der EU-Kommission haben mehr Macht als solche, in denen sich andere gesellschaftliche Interessen verdichten, wie Umweltministerien oder die Generaldirektion Verbraucherschutz.
Die öffentliche Konsultation der Kommission zu den geplanten Konzern-Klagerechten im TTIP zeigt das sehr deutlich. Denn trotz des öffentlichen Aufschreis ging es darin nicht um die Frage, ob und warum es den Investitionsschutz in einem EU-USA-Abkommen überhaupt braucht, sondern allein darum, wie er ausgestaltet sein soll. Es ging auch nicht um andere problematische Aspekte der TTIP-Verhandlungen, geschweige denn die Konzern-Klagerechte in anderen Abkommen wie z. B. zwischen EU und Kanada, das gerade fertig verhandelt wurde, und zwar inklusive der Klagerechte. Es ging der Kommission also nicht um eine offene Diskussion ihrer Agenda mit offenem Ausgang. Vielmehr war die Konsultation eine geschickte PR-Offensive, um die eigene Agenda zu verkaufen, auszufeilen und dabei eine offene Debatte zu suggerieren.
Auch das Verhalten des Europaparlaments und der EU-Mitgliedstaaten im Rat zeigt, dass Widerstand in Berlin oder Paris wenn überhaupt nur stark gefiltert auf EU-Ebene ankommt. Selbst Frankreich, das sich aufgrund des öffentlichen Drucks eindeutig gegen Investor-Staat-Klagerechte im TTIP positioniert hat, ist noch nicht dadurch aufgefallen, dass es versucht, im Rat eine Mehrheit gegen dieses Projekt zu organisieren. Und während Abgeordnete der Sozialdemokratie im Europawahlkampf fleißig anti-TTIP-Parolen gedroschen haben, haben sie gemeinsam mit der konservativen Mehrheit im Europaparlament Mitte März still und leise einer Verordnung zugestimmt, die Investor-Staat-Klagen gegen die EU und ihre Mitgliedstaaten überhaupt erst möglich macht.
These 3: Der Reformdiskurs der Kommission dient der Re-Legitimierung eines global umkämpften Disziplinierungs-Regimes
Die Agenda der Kommission ist klar: Sie möchte die Investorenrechte reformieren – um sie wieder salonfähig zu machen. Denn das globale Investitionsregime ist zunehmend umkämpft: Weltweit skandalisieren soziale Bewegungen erfolgreich einzelne Investor- Staat-Klagen; kritische WissenschaftlerInnen brandmarken die Risiken für staatliche Regulierung, öffentliche Haushalte und die Demokratie; Staaten wie Bolivien, Ecuador, Südafrika und Venezuela haben angefangen, bestehende Investitionsschutz-Verträge aufzukündigen und versuchen, Alternativen aufzubauen; und auch unter den VerfechterInnen des Regimes wird von einer Legitimationskrise gesprochen, die es zu bearbeiten gilt.
In diesem Kontext hat die Kommission erkannt, dass es Reformen braucht, um das Investitionsrecht global zu re-legitimieren und erhalten. So sollen Investorenklagen gegen Staaten in Zukunft transparenter ablaufen. Der Unabhängigkeit wegen sollen die SchiedsrichterInnen, die die Klagen entscheiden, einen (ziemlich laschen) Verhaltenskodex unterzeichnen. Und es wird in zukünftigen EU-Verträgen die Rede sein vom „Recht zu regulieren“. Selbst hohe Beamte der Kommission geben zu, dass das keine Folgen haben wird für die Rechtsprechung. Aber es klingt gut.
Am harten Kern des Investorenschutzes wird durch die Reförmchen der Kommission aber nicht gerüttelt. Auch der Investitionsschutz a la EU wird ausländischen Investoren (bzw. Kapiteleignern, die sich durch gewiefte ‚Strukturierung‘ ihrer Investition über Niederlassungen im Ausland zu solchen machen) weitreichendere Privateigentumsrechte einräumen, als sie in nationalen Verfassung und im EU-Recht enthalten sind. Und mit der privaten Schiedsgerichtsbarkeit wird ihnen weiterhin ein exklusives und konzernfreundliches paralleles Rechtssystem zur Verfügung stehen, um diese Rechte einzuklagen. Auch die zukünftigen EU-Investitionsabkommen wären also Teil dessen, was der kanadische Politikwissenschafter Stephen Gill einst „neuen Konstitutionalismus“ genannt hat: politisch-juridische Strukturen, welche den Neoliberalismus und bestehende Eigentumsverhältnisse durch die Einschränkung staatlicher Interventions- und demokratischer Kontrollmöglichkeiten quasi konstitutionell absichern. Regierungen würden dadurch weiter diszipliniert und gegenhegemoniale AkteurInnen bzw. Umverteilungsprozesse empfindlich einschränkt.
These 4: Die Auseinandersetzung um die Konzern-Klagerechte im TTIP ist global relevant
Der Ausgang der EU-internen Debatte um die Zukunft des Investitionsrechts wird nicht nur Folgen haben für das geplante EU-USA-Abkommen, sondern für den globalen Kampf gegen die „Globalisierung der Konzernherrschaft“. Gelingt es, die Konzern-Klagerechte aus dem TTIP zu kegeln, stärkt das weltweit soziale Bewegungen und linke Regierungen, die sich transnationalen Konzernen entgegen stellen und versuchen, aus einst geschlossenen neoliberalen Knebelverträgen auszubrechen. Gelingt es dagegen der EU, ihre ‚reformierten‘ Investoren-Rechte im TTIP zu verankern, wird das dem global umkämpften Investitionsschutz-Regime einen Legitimationsschub geben. Genau das hat die Kapitalseite im Sinn, wenn sie von TTIP als einem „globalen Goldstandard“ für weltweite Investitionsabkommen spricht.
These 5: Der TTIP-Widerstand braucht einen langen Atem und muss breiter werden
Wie lässt sich der ‚globale Goldstandard‘ TTIP verhindern? Ein Patentrezept gibt es sicher nicht. Und aufgrund der Abschottung des EU-Apparats wird es auch nicht leicht (siehe These 2). Dennoch bietet der Streit um die Konzern-Klagerechte ein Möglichkeitsfenster – eines, dass es auch ob der globalen Bedeutung des Kampfes zu nutzen gilt.
In der Geschichte des Widerstands gegen Freihandels- und Investitionsabkommen gab es immer wieder Erfolge – wenn es gelang, die im Geheimen verhandelten Verträge öffentlich zu machen und zu politisieren. So scheiterte in den 1990er Jahren der MAI-Vertrag, ein Investitionsabkommen der OECD. So wurden die GATS-Verhandlungen zur Dienstleistungs-Liberalisierung in der Welthandelsorganisation WTO blockiert. Und so wurde das ACTA-Abkommen zur Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte gekippt.
In all diesen Fällen verschärfte der Widerstand bestehende Konflikte auf Ebene der Verhandlungen. Und diese Konflikte gibt es auch in vielen TTIP-Verhandlungsbereichen – zwischen EU und USA, EU-Kommission und Mitgliedstaaten sowie innerhalb der Kommission.
Um diese Konflikte entscheidend zu verschärfen, braucht der TTIP-Widerstand einen
langen Atem. Und er muss ausgeweitet werden – z. B. auf EU Länder, in denen TTIP bisher noch nicht oder kaum Thema ist, darunter weite Teile Ost- und Südeuropas. Das gilt auch für fernab der Öffentlichkeit verhandelte „Blaupausen“ wie das EU-Kanada Abkommen
„CETA“. Zudem muss die Kritik über den Kreis der üblichen AktivistInnen, linken Gruppierungen und Parteien erweitert werden. Die Sonderklagerechte für Investoren müssten z. B. auch einigen EuroparechtlerInnen, Liberalen und Konservativen ein Dorn im Auge sein – denn sie unterwandern das Europarecht, benachteiligen Unternehmen mit Sitz innerhalb der EU und brechen mit rechtsstaatlichen Kernprinzipien wie der richterlichen Unabhängigkeit.
Wer weiß, vielleicht gibt es in sechs Monaten einen Aufstand der VerfassungsrechtlerInnen gegen TTIP? Oder das Europaparlament kippt wegen der Konzernklagerechte das Abkommen mit Kanada? Auch dann stünde TTIP noch nicht „auf der Kippe“. Aber es wäre diesem Punkt ganz schön nah.
Dieser Blogbeitrag ist die gekürzte Fassung eines Artikels der im Rahmen eines Debattenforums der Zeitschrift Kurswechsel erschien. Das gesamte Debattenforum kann hier eingesehen werden.