Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) hat Anfang September beschlossen, den Leitzins auf 0.05 Prozent zu senken und umfangreiche Anleihekäufe vorzunehmen. Was sich hinter dieser Ankündigung verbirgt ist vielen unklar. Auch die meisten Analysten waren sich lediglich darin einig, nicht zu wissen was mit der EZB-Entscheidung passiert war, jedenfalls aber etwas Wichtiges. Ich bin der Meinung, dass sie ein Richtungswechsel in der EZB-Geldpolitik ist, auch wenn sich die unmittelbaren Auswirkungen vorerst in Grenzen halten werden.
Geldpolitik ist nicht mehr was sie einmal war
Die EZB ist in erster Linie dem Erreichen einer geringen Inflationsrate von 2 Prozent verpflichtet. Sinkt die Inflationsrate deutlich darunter, etwa weil die Nachfrage zu gering ist, so verringert die Zentralbank normalerweise den Zinssatz. Damit wird für die Banken der Zugang zu Geld billiger, welches sie dann gegen einen Aufschlag verleihen. Firmen und Haushalte können sich leichter finanzieren, investieren und konsumieren daher mehr, was die Wirtschaft (zumindest kurzfristig) beflügelt. Und weil die Nachfrage nach Gütern schneller wächst als das Angebot, steigt auch die Inflation zurück auf 2 Prozent. Soweit die konventionelle Theorie.
Doch die Zeiten in denen Zentralbanker lediglich an der Zinsschraube drehen mussten, sind zumindest für eine Weile vorüber. Zum einen, weil der Leitzinssatz nicht unter die Schranke von Null fallen kann, da man sonst Zinsen dafür erhalten würde, Geld auszuborgen und unter den Kopfpolster zu legen. Bei dieser Schranke ist der EZB Leitzins aber de facto angekommen. Zum anderen, weil Zinssenkungen keinen effektiven Transmissionsmechanismus mehr darstellen, um die Preise zu beeinflussen. Vereinfacht gesagt geht die konventionelle Theorie nämlich davon aus, dass Banken Geld ganz einfach an die „Realwirtschaft“ weiterverborgen. Je billiger sie Geld erhalten, desto mehr davon. Doch hält dieser Zusammenhang in der gegenwärtigen Liquiditätsfalle nicht: für die Entscheidung von Banken, zusätzliches Geld zu verborgen ist die derzeitige wirtschaftliche Unsicherheit relevanter als marginal billigere Refinanzierungsmöglichkeiten bei der EZB. Ferner fragen aber wichtige Unternehmen auch nicht mehr Kredit nach, da die bestehenden Produktionskapazitäten bei weitem ausreichen, um die tümpelnde Nachfrage zu bedienen, also kaum Anreize zu Investitionen bestehen. Ein um 0.1 Prozentpunkte niedrigerer Zinssatz ändert an dieser Investitionsfalle wenig. Die Senkung des EZB-Leitzinssatzes auf 0.05 Prozent ist daher vor allem kosmetischer Natur.
Neue Wege: Kreditlockerung und quantitative Lockerung
In den letzten Jahren haben sich Makroökonomen dementsprechend auf die verzweifelte Suche nach Möglichkeiten begeben, doch noch Geld in die „Realwirtschaft“ zu bringen. Beispielsweise wurde die Klasse von Anlagen ausgedehnt, welche die EZB von Banken als Pfand nimmt, wenn diese Geld bei der Zentralbank ausleihen („Kreditlockerung“). Erleichtert es die EZB den Banken zum Beispiel, gebündelte Kleinkredite (asset backed securities, ABS) als Pfand zu hinterlegen, so haben Banken mehr Anreize, überhaupt Kleinkredite zu vergeben. Durch den Ratsbeschluss Anfang September geht die EZB aber gehörig weiter, indem sie diese ABS-Anleihen direkt aufkauft, auf Ihre Bilanz nimmt, und darüber die Menge des umlaufenden Zentralbankgeldes erhöht. Dadurch sollen sich die realwirtschaftlichen Finanzierungsbedingungen verbessern und/oder durch mehr umlaufendes Geld die Inflation zurück Richtung 2 Prozent gebracht werden. Obwohl es EZB-Vertreter noch vermeiden, dabei von sogenannter „quantitativer Lockerung“ (QE) zu sprechen, kann die EZB-Strategie getrost als eine solche bezeichnet werden, da sie implizit auf eine Reduzierung der Geldhortung von Banken bei der EZB abzielt (siehe unten) und andererseits ziemlich klar definiert, wohin sich die Zentralbank-Bilanz entwickeln soll (auf das Niveau von Anfang 2012 nämlich), was man als QE-Merkmale bezeichnen könnte.
Trotz „quantitativer Lockerung“ keine wirkliche Lockerung der Geldpolitik
Entscheidend für die realwirtschaftlichen Finanzierungsbedingungen ist letztlich der Realzinssatz, der durch niedrigere Inflation (bzw. Inflationserwartungen) erhöht wird. Grafik 1 zeigt dass die langfristigen Inflationserwartungen (für 2018) Mitte 2013 noch gut verankert am EZB-Ziel von 2 Prozent lagen, seither aber gefallen sind. Eine ähnliche Entwicklung ist für die kurzfristigen Inflationserwartungen (für 2015) festzustellen. Diese Tendenz wirkt jeder expansiven Geldpolitik entgegen. Untätigkeit der Geldpolitik in einer Phase fallender Inflation(serwartungen) ist daher gleichbedeutend mit einer restriktiven Geldpolitik, was in einer wirtschaftlichen Stagnationsphase verheerende Effekte haben kann. Nichtsdestotrotz sind die jüngsten EZB-Maßnahmen im Großen und Ganzen als effektive Lockerung zu verstehen, die in ihrem Ausmaß aber vorerst beschränkt bleibt.
Leitzins, Inflation, und Inflationserwartung in der Eurozone