Wie Irland zu 26 % BIP-Wachstum kommt

30. August 2016

Das irische Statistikamt überraschte vergangenen Juli mit der Veröffentlichung der Revision der inländischen BIP-Wachstumszahlen. Das reale Bruttoinlandsprodukt stieg demnach im Jahr 2015 um 26,3 %. Obwohl die Zahlen korrekt sind, bilden sie dennoch den tatsächlichen Zustand der irischen Volkswirtschaft nicht richtig ab. Der ganz überwiegende Teil des Anstiegs resultiert lediglich aus Patenten für Wirtschaftsaktivitäten außerhalb von Irland. Jene Aktivitäten trugen bisher zum BIP eines anderen Landes bei, werden nun allerdings dem irischen BIP zugerechnet. Die Wirtschaftsaktivitäten selbst haben sich dabei nicht verändert. Das durch diesen Vorgang gestiegene BIP verfälscht alle jene Indikatoren, die im Verhältnis dazu ausgedrückt werden. Eine sinnvolle Wirtschaftspolitik wird somit erschwert.

Ausgangspunkt für die revidierten Wachstumszahlen war ein „on-shoring“ geistiger Eigentumsrechte nach Irland im ersten Quartal 2015, das aufgrund der neuen Buchhaltungsregeln zu einer massiven Erhöhung des irischen Kapitalstocks und des BIP-Wachstums geführt hat. Würde das „on-shoring“ und die damit verbundenen Aktivitäten herausgerechnet, bliebe womöglich ein BIP-Wachstum von rund 5 % übrig.

BIP Irland 2015 © A&W Blog
Quelle: CSO (irisches statistisches Zentralamt). © A&W Blog
Quelle: CSO (irisches statistisches Zentralamt).

Den angekündigten 26,3 % BIP-Wachstum wurde daher sowohl innerhalb Irlands als auch international berechtigterweise mit Skepsis begegnet. Vor allem unter irischen Ökonomen ist man sich über das verzerrte Bild der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) für die eigene Volkswirtschaft im Klaren und weiß daher, dass solche BIP und BNP Veränderungen nur mit größter Vorsicht zu interpretieren sind.

BIP-Wachstum fluktuiert durch Unternehmerverhalten

Speziell im Fall Irlands ist das BIP-Wachstum schwer zu deuten, da es vom Verhalten weniger multinationaler Unternehmen (MNE) und deren Buchungspraxen und Steuerplänen abhängt, welche das irische BIP oftmals verzerren. In einem Papier aus dem Jahr 2015 hat John Fitzgerald eine Reihe von Ursachen identifiziert, die zu einer solchen Verzerrung in der VGR führen können, darunter die Praxis des „re-domiciled PLC“, bei der Firmen ihren Sitz zu Steueroptimierungszwecken in ein anderes Land, beispielsweise nach Irland, verlegen. Dadurch wird das BIP des jeweiligen Landes nach oben verzerrt. Als weitere Ursache nennt Fitzgerald die vollständige Integration von Flugzeug-Leasing Firmen in die VGR, welche gerade im Falle Irlands ebenfalls zu stärkeren BIP-Effekten führen kann. Die größten Auswirkungen in der nun durchgeführten Revision machten jedoch Aktivitäten aus, die als „contract manufacturing“ bezeichnet werden können.

Contract Manufacturing – Produktion und Verkauf im Ausland

Mit „contract manufacturing“ (Fertigungsverträgen) ist die Herstellung von Gütern im Ausland für eine inländische Firma gemeint, wobei diese Güter anschließend direkt an Drittländer verkauft werden. Die Güter selbst befinden sich also nie im Inland. Da unter den neuen ESA 2010 Regeln ausschließlich der Eigentümerwechsel von Gütern zählt, wird der Verkauf von Gütern, welche im Auftrag einer irischen Firma im Ausland produziert wurden, als irischer Export gerechnet. Denn der Eigentümer der Güter war bis zu deren Verkauf die in Irland gemeldete Firma.

Fitzgerald stellt dazu fest: “Bei MNEs ist es üblich, dass Güter aus dem Land, in dem sie produziert werden, direkt in das Land, in dem deren Konsum stattfindet, transportiert werden, ohne jemals jenes Land betreten zu haben, in dem die MNEs ihren Firmensitz haben (zum Beispiel Irland). […] unter den alten Buchungsregeln (ESA 1995) wären diese Güter nicht in den VGR-Statistiken jenes Landes aufgeschienen, in dem sich der Sitz des Eigentümers der Güter (MNEs) befindet.“ Unter ESA 2010 zählt jedoch der Eigentümer. Das bedeutet: Wenn eine in Irland ansässige Firma ihre im Ausland produzierten Güter an ausländische Konsumenten verkauft, zählt dies zum irischen Export – obwohl die Herstellung dieser Güter nicht auf irischem Boden stattgefunden hat. 

Wie kam es nun zum Wachstum?

Im ersten Quartal 2015 stiegen die Direktinvestitionen in Irland massiv an. Irlands Bruttokapitalstock erhöhte sich 2015 von 750 Milliarden auf 1.050 Milliarden Euro, eine Erhöhung von 300 Milliarden beziehungsweise 120 Prozent des BIP.

Kapitalstock 2011-2015
(brutto, inklusive Transaktionen und Reklassifizierungen)

Dekoratives Bild © A&W Blog
Quelle: CSO (2015 vorläufige Werte). © A&W Blog
Quelle: CSO (2015 vorläufige Werte).

Das erfolgte durch eine kleine Zahl von MNEs, welche größere Mengen von immateriellen oder geistigen Eigentumsrechten durch die Verlagerung von Firmensitzen nach Irland verschoben haben. Es wird angenommen, dass das „on-shoring“ solchen geistigen Eigentums direkt aus Steueroasen kam – eine mögliche Reaktion auf das OECD BEPS Projekt. Diese geistigen Eigentumsrechte hängen jedoch eng mit dem vorher beschriebenen „contract manufacturing“ zusammen: Denn die Firmen lassen Güter im Ausland produzieren, welche auf ebendiesen geistigen Eigentumsrechten basieren. Da unter ESA 2010 die Eigentumsregel zählt, wird die Produktion der Güter dem irischen BIP hinzugerechnet. In anderen Worten: Aktivitäten, welche ursprünglich zum BIP anderer Länder zählten, werden nun zum irischen BIP gerechnet. Die Aktivität selbst hat sich nicht verändert – lediglich der Ort der geistigen Eigentumsrechte.

Die irische Bruttowertschöpfung stieg dadurch zwischen 2014 und 2015 von 174,9 Milliarden auf 236,6 Milliarden Euro an. Diese absolute Zunahme um 61,5 Milliarden Euro fand zu einem großen Teil in der „Industrie“ (siehe Tabelle 3, Reihe 42A) statt, wahrscheinlich im Pharmasektor. In der Industrie (exklusive dem Bauwesen) beträgt das Wachstum der Bruttowertschöpfung rund 50,7 Milliarden und stieg von 41,1 Milliarden in 2014 auf 91,8 Milliarden Euro in 2015. Das kommt einem sektoralen Wachstum von 123,2 % gleich und beträgt 82,4 % des Wachstums der gesamten Bruttowertschöpfung. Der Effekt trat im ersten Quartal 2015 ein und kam in der Industrie nahezu einer Verdoppelung der Bruttowertschöpfung gegenüber dem letzten Quartal 2014 gleich.

Das „contract manufacturing“ scheint zwar in den VGR-Güterexporten auf, nicht jedoch in der Außenhandelsstatistik. Diese beinhaltet lediglich Gütertransaktionen, welche physisch die irische Grenze überqueren. Der gesamte irische Güterexport betrug 2015 rund 195 Milliarden Euro, während jener in der Außenhandelsstatistik lediglich 112 Milliarden ausmachte. Diese enorme Diskrepanz verdeutlicht die Dimension des „contract manufacturing“ in Irland.

Fazit

Es ist somit klar, dass die irischen VGR-Daten heute eine erhebliche Summe an Wirtschaftsaktivitäten außerhalb Irlands beinhalten und damit kein korrektes Bild über den Zustand der irischen Volkswirtschaft liefern. Diese Entkopplung der VGR von den realen Geschehnissen in der irischen Ökonomie zieht jedoch Konsequenzen nach sich: Der plötzliche Ansprung des BIPs wirkt sich beispielsweise auf den irischen Beitrag zum EU-Budget aus.

Zudem schwindet die Aussagekraft jeglicher Indikatoren, welche im Verhältnis zum BIP ausgedrückt werden, wie zum Beispiel der Schuldenquote oder anderer fiskalischer Größen. Auch hat die BIP-Revision zur Folge, dass die Bewertung Irlands im europäischen „Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht“ schwieriger wird. Durch den Anstieg des „contract manufacturing“ liegt Irlands Leistungsbilanz nämlich nun bei einem Überschuss von 10,2 % am BIP.

Die Verzerrung der VGR-Statistiken hat damit eine Reihe von ernstzunehmenden wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Implikationen und erschwert letztendlich eine vernünftige Wirtschaftspolitik.

Dieser Beitrag wurde für den Blog von Max Mayerhofer übersetzt und überarbeitet.