Das Verhältnis von Demokratie und Kapital neu verhandeln

10. März 2022

Die jüngere ökonomische Globalisierung hat die politische Spielanordnung zwischen Demokratie und Kapital zugunsten des Letzteren verschoben. Seit Kurzem lässt sich jedoch ein wiederentdecktes Regulierungsinteresse beobachten. Dies deutet auf eine Korrektur des politischen Ungleichgewichts zwischen Demokratie und Kapital hin. Insofern wäre es angezeigt, die strategischen, industriepolitischen und Regulierungsinteressen des Staates neu zu artikulieren.

Die internationale Wirtschaftsverflechtung hat während der jüngeren Globalisierung stark zugenommen. Einmal durch die Etablierung des EU-Binnenmarkts, zum anderen fand eine außereuropäische Globalisierung statt, die durch die Liberalisierung des Güter- und Kapitalverkehrs vorangetrieben wurde. Für Österreich lässt sich dies seit dem EU-Beitritt 1995 am Anstieg der Bestände von Direktinvestitionen sowie am steigenden Warenhandel verdeutlichen.

Indikatoren zur jüngeren Globalisierung der österreichischen Volkswirtschaft

Indikator (Anteile am Bruttoinlandsprodukt)19952019
Warenimportquote27,5%39,7%
Warenexportquote23,9%38,6%
Bestand passiver Direktinvestitionen8,9%43,4%
Quelle: Statistik Austria, Oesterreichische Nationalbank

Relativer Bedeutungsverlust der Importe aus dem Euroraum

Augenfällig ist in diesem Kontext die strukturelle Änderung der Zusammensetzung der Handelspartner:innen. Osteuropa (neue EU-Mitgliedsländer, Russland und Türkei) sowie Asien gewannen, die Eurozone verlor an relativer Bedeutung für den österreichischen Außenhandel. Der Trend ist bei den Einfuhren stärker ausgeprägt als bei den Ausfuhren.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Verschärfter Standortwettbewerb setzt Demokratie unter Druck

Insgesamt hat die jüngere ökonomische Globalisierung zu einer Verschärfung des Standortwettbewerbs geführt und die politische Spielanordnung zwischen Demokratie und Kapital zugunsten des Letzteren objektiv verschoben. Hinzu kommt im öffentlichen Diskurs eine subjektive, interessengeleitete Überbetonung dieses Ungleichgewichts. Steuern, Löhne oder ökologische Regulierung, so das Argument, würden Kosten verursachen und Wettbewerbsfähigkeit im Bereich des Außenhandels und der Direktinvestitionen reduzieren. Insgesamt entsteht dadurch ein erheblicher Druck auf demokratisch gewünschte Standards bei Steuern, Löhnen, Arbeitnehmerrechten sowie ökologischer und konsumentenschutzrechtlicher Regulierung.

Nichtpreisliche Wettbewerbsfähigkeit überwiegt

Umso beachtlicher ist, dass sich in der jüngeren empirischen Literatur keine Hinweise auf eine starke Bedeutung des Kostenarguments in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit im Export finden. Die meisten Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung der Nachfrage der Handelspartner:innen einen erheblichen Teil der Exportperformance eines Landes erklärt, während preisliche Wettbewerbsfähigkeit, die überwiegend auf Kosten beruht, wenig Bedeutung zukommt. Eine wesentlich größere Rolle dürften Qualität, Technologie, Serviceorientierung oder Vertrauen spielen, wie Unternehmensbefragungen auf Mikroebene verdeutlichen. Der Erfolg der österreichischen Exportindustrie beruht im Wesentlichen auf nichtpreislicher Wettbewerbsfähigkeit.

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 „Comeback des Staates“ seit der Krise

Mit Ausbruch der Finanzkrise 2007/08, spätestens aber seit Beginn der COVID-19-Pandemie 2020 beobachten wir eine stetige Verschiebung wirtschaftspolitischer Paradigmen. Dies lässt sich am besten an der vollständigen Abkehr des Internationalen Währungsfonds, der ehemaligen Herzkammer des Neoliberalismus, vom Washington Consensus festmachen. Seitdem ist nicht nur in der Industriepolitik von einem „Comeback des Staates“ die Rede. Insofern wäre es angezeigt, die normativen Interessen des Staates und damit der Demokratie gegenüber dem Kapital in einer globalen Ökonomie neu zu artikulieren.

Strategische Interessen des Staates

Dabei geht es erstens um strategische Interessen des Staates. Der Staat möchte in ausgewählten Branchen eine krisensichere Versorgung seiner Bevölkerung garantieren – etwa in der Lebensmittelproduktion, der Energieversorgung oder bei pharmazeutischen Erzeugnissen. Im Rahmen der COVID-Pandemie wurde den europäischen Gesellschaften ihre eigene Vulnerabilität vor Augen geführt, weil sie beispielsweise für medizinische Schutzausrüstung auf Importe aus China und bei Penicillin auf Einfuhren aus Indien abhängig waren. Dies führte zu einer Diskussion rund um die Verkürzung von Wertschöpfungsketten und Inscourcing.

Industrielle Interessen des Staates

Hinzu kommen zweitens industrielle Interessen des Staates. Industriepolitik bedeutet, Investitionen ganz gezielt in Bereiche zu lenken, in denen der Staat eine Weiterentwicklung für angezeigt hält, der Markt es aber von selbst nicht tut – das betrifft vor allem die gigantische Herausforderung der ökologischen Transformation.

Regulierungsinteressen des Staates

Zuletzt gibt es drittens Regulierungsinteressen des Staates. Es liegt im Interesse der Demokratie, dass in allen Branchen hohe normative Standards herrschen. Hierbei lässt sich sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene zunehmend politisches Engagement beobachten. Neben kleineren arbeitsrechtlichen und ökologischen Regulierungen auf EU-Ebene einigten sich die G-20 letztes Jahr auf eine globale Mindest-Körperschaftsteuer von 15 Prozent. Initiativen der EU-Kommission und des EU-Parlaments zur Einführung von Mindestlöhnen oder zur Steuervermeidung durch die Harmonisierung von Bemessungsgrundlagen scheitern vorerst noch an nationalen Partikularinteressen.

Aus österreichischer Perspektive ist klar, dass der entscheidende Hebel zur Durchsetzung von Regulierungsinteressen die europäische Ebene ist. Das Gros aller Sorgen um den Standort verliert in dem Moment an Bedeutung, wo Regulierungen den gesamten Binnenmarkt gleichermaßen betreffen. Die Neuverhandlung des Verhältnisses von Demokratie und Kapital muss wesentlich auf Ebene der europäischen Union erfolgen.

Eine ausführlichere Auseinandersetzung zum Thema wurde von Dr. Nikolaus Kowall in der Wirtschafts- und sozialpolitischen Zeitschrift WISO veröffentlicht und ist auf seiner Website abrufbar.

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