Die strukturellen Aspekte der Ungleichheit

24. Februar 2016

Offenbar glauben viele Politiker, dass sich das Thema Ungleichheit erledigt, sobald die Wirtschaft wieder wächst. Das dürfte sich als Illusion herausstellen. Denn die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat bereits zu tiefgehenden Veränderungen geführt – für die ein stärkeres Heilmittel benötigt wird.

Trotz der bisher noch nie dagewesenen Aufmerksamkeit, die die Einkommens- und Vermögensungleichheit im US-Präsidentschaftswahlkampf und bei etlichen Wahlen in Europa erhält, kann man eigentlich nur den Eindruck gewinnen, dass für die meisten gemäßigten Politiker das Thema Ungleichheit nur eine Eintagsfliege ist. Ich denke sie glauben, dass die Menschen das Gerede über die Ungleichheit wieder vergessen und sich alles auf den Stand von vor 20 Jahren zurückfahren lässt, sobald die Volkswirtschaften wieder robuste Wachstumsraten von mindestens 2 bis 3% pro Jahr erzielen und die Arbeitslosigkeit unter 5% (oder in Europa in den einstelligen Bereich) fällt.

Das ist meiner Meinung nach eine Illusion, weil es die strukturellen Veränderungen in den Gesellschaften ignoriert, die durch den langen und anhaltenden Prozess von steigender Einkommens- und Vermögensungleichheit in den letzten 40 Jahren entstanden sind. Bei solchen tiefergehenden strukturellen Veränderungen, ähnlich dem Prozess, der sich in Lateinamerika im 20. Jahrhundert überwiegend abgespielt hat, verlieren aggregierte Indikatoren wie die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft (die nichts anderes ist als die Wachstumsrate der Einkommen im Mittel der Einkommensverteilung, die etwa im 65. oder 70. Perzentil liegt) ihre Bedeutung, welche sie normalerweise in ökonomisch homogeneren Gesellschaften haben.

Ich sehe drei dieser strukturellen Veränderungen: Die „Disartikulation“ vieler westlicher Gesellschaften, der politische Einfluss des „Big Money“ (Plutokratie) und die Chancenungleichheit.

Disartikulation

Der Begriff „Disartikulation“ wurde von der Dependencia-Literatur der 60er und 70er Jahre benutzt, um sowohl die Divergenz von Interessen als auch die unterschiedlichen Positionen in der internationalen Arbeitsteilung verschiedener Klassen in der entwickelten Welt auszudrücken. Einerseits gab es eine mit dem internationalen Kapitalismus verbundene heimische Elite, die sowohl über die Produktionsseite (als hochqualifizierte Arbeiter oder als Kapitalisten) als auch durch den Konsum (als Verbraucher internationaler Güter und Dienstleistungen) in die Weltwirtschaft eingebunden war. Und dann gab es noch die Mehrheit der Bevölkerung, die keinerlei Verbindung zur Weltwirtschaft hatte und lokal produzierte und konsumierte.

Die Situation in den reichen Ländern ist heutzutage ähnlich, vor allem in den USA. Es gibt eine Elite (egal, ob es nun die berüchtigten 1%, 5% oder 15% sind), die vollkommen an die Weltwirtschaft angeschlossen ist und global lebt und konsumiert. Und dann gibt es eine schrumpfende Mittelschicht, deren Einkommen seit 30 bis 40 Jahren stagniert und die mit der Weltwirtschaft auf eine negative Art und Weise verbunden ist. Sie lebt wegen des Wettbewerbs mit ärmeren Ländern oder Migranten in einer permanenten Angst vor dem Job- oder Einkommensverlust.

Sie bildet, viel stärker noch als die untere Schicht der Einkommensverteilung, diejenige Gruppe, die so leicht von Donald Trumps protektionistischen Reden gewonnen werden kann. Ich rede nicht darüber, ob ihre Erwartungen jemals in einer globalisierten Wirtschaft erfüllt werden können oder nicht; Ich will lediglich auf die tiefe Abkopplung der Interessen der Menschen an der Spitze von denen der Mittelschicht hinweisen, ein Bruch, der durch die Globalisierung und steigende Einkommensungleichheit entstanden ist.

Wenn die ökonomischen Interessen dieser zwei Gruppen so unterschiedlich sind, wird es schwer, überhaupt von so etwas wie einem „nationalen wirtschaftlichem Interesse“ zu sprechen; vielmehr überträgt sich die Divergenz der Interessen auf eine Zahl von anderen Divergenzen in der Lebensgestaltung, der Wahrnehmung von Politik oder kulturellen Wünschen. Das ist die erste strukturelle Lücke.

Big Money

Die zweite besteht einfach in der Ausdehnung der ersten in die Politik. Aufgrund einer Reihe von Gerichtsprozessen – der berühmteste von ihnen ist der Prozess von Citizens United gegen die Federal Electoral Commission – hat sich das Gewicht des in den USA schon immer wichtigen „Big Money“ in der Politik noch weiter verstärkt. Aber selbst ohne diese erleichternden Gerichtsentscheidungen (und diese Entscheidungen könnten wiederum als endogen für den Prozess der Einkommensdifferenzierung angesehen werden) hätte der starke Anstieg der Einkommensungleichheit den Reichen größere politische Macht gebracht.

Eine höhere Konzentration von ökonomischer Macht bedeutet, dass es weniger Menschen gibt, die ausreichend Mittel haben, um Politiker und politische Anliegen zu unterstützen, die ihnen gefallen oder (eher wahrscheinlich) von denen sie profitieren. Somit führt die Konzentration ökonomischer Macht logischerweise zu einer Konzentration von politischer Finanzierung. Letztendlich spiegelt der Einfluss auf die Politik lediglich ungleiche ökonomische Macht wider. Das wiederum führt zu politischen Entscheidungen, die die Elite wirtschaftlich bevorzugen und zu einer weiteren Vertiefung der ökonomischen Differenzierung, wie es etliche Politikwissenschaftler bereits erörtert haben (u. a. Benjamin Page, Larry Bartels und Jason Seawright sowie Martin Gilens` “Affluence and Influence”).

verfestigte Ungleichheit der Einkommen erhöht Chancenungleichheit

Die dritte strukturelle Veränderung, die durch die Einkommensungleichheit entstanden ist, ist die Chancenungleichheit. Wenn sich die Einkommensungleichheit verfestigt, endet das nicht einfach nur in einer aktuellen Einkommensungleichheit, sondern wird auch auf die nächsten Generationen übertragen. Die Chancen von Kindern aus reichen Elternhäusern und denen aus armen Familien klaffen auseinander.

Ähnlich wie wir es in Lateinamerika beobachten können ist diese Spreizung nicht auf vererbten Reichtum begrenzt, sondern überträgt sich auch auf den Zugang zu Bildung, wobei die zunehmende Bedeutung von privater Bildung den Trend noch verschärft. Das gilt auch für familiäre Beziehungen und Netzwerke, die oft ausschlaggebend für den Erfolg sind.

Diese strukturellen Ungleichheiten werden nicht verschwinden, sondern sich eher vertiefen, wenn die Wirtschaft wieder auf ihren langfristigen Wachstumspfad zurückkehrt. Höhere Wachstumsraten und eine niedrigere Arbeitslosigkeit könnten ausreichend sein, bevor diese strukturellen Bruchlinien sehr stark werden, weil das Wachstum diese Differenzen überdecken könnte. Aber wenn die strukturellen Spaltungen tief sind, wird Wachstum alleine nicht genug sein (noch einmal: wir haben das in Lateinamerika beobachten können).

Es wird ein stärkeres Heilmittel benötigt

Wenn ich eine Analogie aus der Medizin bemühen darf: Eine gewöhnliche Erkältung kann durchaus dadurch geheilt werden, in dem man sich ins Bett legt und etwas mehr trinkt. Schritt für Schritt kehren wir später zum vorherigen Status Zustand zurück. Aber wenn die Erkältung eine Weile anhält und sich zu einer ernsthafteren Krankheit entwickelt – und das ist es, was der lange Prozess der Ungleichheit mit der politischen Gemeinschaft gemacht hat – dann werden stärke Heilmittel benötigt.

Ich habe kürzlich noch einmal einige von Simon Kuznets´ Schriften aus den 60er Jahren gelesen. Er argumentiert, dass jede Einkommensverteilung anhand von drei Kriterien beurteilt werden sollte: Angemessenheit, Gleichheit und Effizienz. Die Angemessenheit stellt sicher, dass selbst die Ärmsten ein Einkommensniveau haben, dass im Einklang mit den lokalen Gebräuchen und der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft steht. Gleichheit bedeutet die Abwesenheit von Diskriminierung, egal ob es nun beispielsweise um Verdienstunterschiede aufgrund von Rasse oder Geschlecht oder um die zukünftigen Möglichkeiten (wir nennen das jetzt „Chancenungleichheit“) geht. Die Effizienz schließlich ist das Erreichen von hohen Wachstumsraten.

Hinsichtlich des Zusammenspiels von Gleichheit und Effizienz sieht Kuznets eine Wechselwirkung: Es kann für das Wachstum schädlich sein, zu stark auf Gleichheit zu drängen, wie etwa in einem völligen Egalitarismus. Aber in anderen Fällen benötigt das Erreichen höherer Wachstumsraten eine größere Gleichheit, sei es nun, weil ein wichtiger Teil der Bevölkerung ansonsten sozial ausgegrenzt wird und nicht zum Wachstum beitragen kann, oder weil es sonst zu einer Fragmentierung der Gesellschaft und zu politischer Instabilität kommt.

Ich glaube, dass Simon Kuznets heutzutage feststellen würde, dass sich die entwickelten westlichen Volkswirtschaften an diesem zweiten Punkt befinden und argumentieren würde, dass eine Politik zugunsten höherer Gerechtigkeit keine Verschwendung von Ressourcen, sondern vielmehr eine Investition – vielleicht sogar die Voraussetzung – für künftiges Wachstum wäre.

Dieser Beitrag wurde in der Vorwoche im – allgemein sehr empfehlenswerten – wirtschaftspolitischen Online-Magazin Makronom auf Deutsch erstveröffentlicht.