In öffentlichen Debatten zu Mehrsprachigkeit findet sich häufig ein problemorientierter Blick: Es geht um „Sprachdefizite“, „Sprachenwirrwarr“, „Integrationsunwilligkeit“, bis hin zu angedachten Sprachverboten am Pausenhof. Dabei stützen sich Politik und Medien auf verfügbare Zahlen, die diesen Blick vermeintlich belegen, ohne deren Zustandekommen ausreichend zu hinterfragen. Denn bisweilen stehen hinter diesen Zahlen ungenaue Begriffe und statistische Entscheidungen, die der tatsächlichen Komplexität nicht gerecht werden. So spitzt sich die Debatte dann auf Deutsch(kenntnisse) zu und blendet die mehrsprachige Lebenswelt der Menschen in Österreich aus.
Sprachbezeichnungen und „Muttersprache“
In öffentlichen Debatten und im alltäglichen Sprachgebrauch werden diverse Bezeichnungen für jene Sprachen verwendet, die wir sprechen oder im Laufe unseres Lebens erwerben: Muttersprache/n, Erst- vs. Zweitsprache/n, Familiensprache/n, Fremdsprache/n, Herkunftssprache/n etc. Bei genauerem Blick erweisen sich die verschiedenen Begriffe allerdings als nur bedingt geeignet, um biografisch relevante Sprachen zu beschreiben, wie etwa der Blick auf den Begriff „Muttersprache“ verdeutlicht:
- Zunächst suggeriert „Muttersprache“ ein Bild vom Spracherwerb, das eine enge Bindung zur Mutter voraussetzt. Der Begriff geht oft mit der Erwartungshaltung einher, dass Kinder die Sprachen der Eltern auf einem gewissen Niveau beherrschen. Die tatsächlichen Spracherwerbskontexte sind allerdings oft komplexer, und verschiedene Bezugspersonen spielen dabei eine Rolle. Außerdem werden in vielen Familien mehrere Sprachen (und Dialekte) gesprochen – eine erste oder dominierende Sprache ist nicht immer gegeben bzw. ändert sich oft im Laufe der Zeit (z. B. beim Schuleintritt von Kindern).
- Daraus resultiert, dass die Frage nach der/den „Muttersprache/n“ oft gar nicht so einfach bzw. eindeutig zu beantworten ist. „Muttersprache“ stellt also einen ungenauen Begriff dar, mit dem Sprecher*innen Verschiedenes verbinden. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass Befragte oft andere Sprachen als „Muttersprache“ angeben, als sie tatsächlich überwiegend mit der Familie bzw. den Eltern sprechen (siehe hier).
Auch die anderen Begriffe erweisen sich für wissenschaftliche und statistische Erhebungen nur bedingt als geeignet, da sie
- beispielsweise eine Reihung forcieren (Erst- oder Zweitsprache),
- nur auf bestimmte soziale Domänen fokussieren, die ebenso dynamisch bzw. wandelbar sein können (Familiensprache),
- oder einen unklaren Zusammenhang erheben (Umgangssprache – diese kann je nach kommunikativem Kontext unterschiedlich ausfallen; Herkunftssprache – wessen Herkunft ist dabei gemeint? Jene der Eltern oder der Sprecher*innen?).
Bei allen Begriffen zeigen sich erhebliche Unzulänglichkeiten, weshalb sie keine aussagekräftigen bzw. umfassenden Einblicke in die sprachlichen Ressourcen von Sprecher*innen geben.
Sprachbezeichnungen, Nationalstaat und Kategorien
Wissenschaftlich gesehen ist es dabei oft gar nicht so eindeutig, wann eine Sprache als eigenständige Sprache gilt (und wann zum Beispiel als Dialekt). Außerdem sind Fragen der Sprachverwendung und Sprachbezeichnung oft eng mit nationalstaatlichen Ideen verbunden. So waren beispielsweise die Trennung und Benennung der Einzelsprachen Bosnisch, Serbisch und Kroatisch politisch motiviert: Nach dem Zerfall Jugoslawiens ging die Gründung der neuen Nationalstaaten auch mit einer begrifflichen Trennung des Serbokroatischen einher, um angenommene Differenzen der Nationen auch an vermeintlichen sprachlichen Unterschieden festzumachen (siehe hier).
Bezeichnungen von Sprache/n hängen immer mit Ideologien und Normen zusammen, etwa mit Vorstellungen über (Nicht-)Zugehörigkeiten und nationale Identität. Sogenannte „Sprachideologien“, wie die Vorstellung einer Einheit von Sprache, Staat und Nation (siehe hier) oder Einsprachigkeit als Norm, halten sich dabei besonders hartnäckig, obwohl die Mehrheit der Weltbevölkerung mehrsprachig ist (siehe hier).
All dies hat auch konkrete und teils problematische Auswirkungen auf Individuen und Gruppen – vor allem dann, wenn es darum geht, Sprachen und Sprecher*innen zu kategorisieren. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn im Rahmen von statistischen Erhebungen sprachbezogene Daten durch unscharfe Kategorien erhoben werden und diese dann Debatten über „Integration“ und erwartete Deutschkenntnisse anfeuern.
Zur Kategorisierung von Sprachen in der Schulstatistik und ihrer Verwendung im „Integrationsbericht 2019“
Derlei problematische Interpretationen tauchen selbst in Publikationen des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres sowie der Statistik Austria auf, wie eine kritische Stellungnahme des Verbands für Angewandte Linguistik (verbal) zum Integrationsbericht 2019 ausführt.
Reduktion sprachlicher Vielfalt
So geht es im Integrationsbericht an mehreren Stellen um „Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Umgangssprache“, meist in einem problemorientierten Zusammenhang (wie schlechteren Bildungserfolgen). Dabei stützt sich der Bericht auf schulstatistische Daten der Statistik Austria, die zur Ermittlung der sprachbezogenen Zahlen folgende Herangehensweise anführen:
„Datenbasis bildet jeweils nur die erste Angabe beim Merkmal ‚im Alltag gebrauchte Sprache(n)‘ der Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Datenerhebung zur Schulstatistik gem. Bildungsdokumentationsgesetz, unabhängig davon, ob bei der/den weiteren im Alltag gebrauchten Sprache(n) auch Deutsch angegeben wurde.“
D. h. während Schüler*innen in der Befragung noch bis zu drei Alltagssprachen angeben können, wird in der Darstellung des Berichts nur mehr die erstgenannte berücksichtigt. Diese ausschließliche Fokussierung auf die erste angegebene Sprache blendet also sämtliche anderen sprachlichen Ressourcen der Schüler*innen aus. Eine dichotome Betrachtung, die in der Folge eindimensionale Darstellungen der österreichischen Schüler*innen als deutschsprachig oder nicht-deutschsprachig begünstigt. Zudem sagt die erste angegebene Sprache weder etwas über die Kompetenz in dieser Sprache noch deren Gebrauch oder ihr Verhältnis zu den anderen Sprachen aus. Eine Reduktion erfolgt jedoch nicht nur in der Darstellung des Berichts, sondern wird bereits in der Befragung selbst vorgenommen. Denn ein Blick auf die zur Auswahl stehenden Sprachencodes der Befragung verrät, dass überhaupt nur aus einem Pool von 83 Sprachen (bzw. Sprachgruppen, inklusive „sonstige Sprache/n“) ausgewählt werden kann und dieses nicht die globale Sprachenvielfalt wiedergibt.