Sexualerziehung im 21. Jahrhundert – KLARTEXT REDEN!

08. Mai 2015

Rund um den neuen Grundsatzerlass zur Sexualerziehung ranken sich viele Mythen. Konservative werden nicht müde, Unwahrheiten in die Welt zu setzen und Horrorszenarien zu kreieren – von Gruppen-Masturbation im Kindergarten bis zu Dildos in der Schule – es ist Zeit, dieser Polemik mit erfreulichen Tatsachen entgegenzutreten.

 

Sexualerziehung: Ein verstaubter Status Quo.

Im Bildungsministerium wird an der Überarbeitung des Grundsatzerlasses Sexualerziehung gearbeitet. Es ist der Versuch einer Weiterentwicklung der Richtlinien für den Unterricht hin zu einer Sexualpädagogik, die ganzheitlich funktioniert und auf die tatsächlichen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eingeht. Der derzeit gültige Erlass stammt aus dem Jahr 1990 und ist mehr als überholt. Das hat vielfältige Gründe. Die Welt in der Jugendliche zu Erwachsenen werden, war vor 25 Jahren eine gänzlich andere. Das Internet wurde zu einem der Hauptinformationskanäle, wenn es um Fragen rund um Sex, Körper und Gefühle geht. Es ist aber ganz und gar keine verlässliche Quelle, finden sich dort doch unzählige Halbwahrheiten. Um diese zu enttarnen, brauchen junge Menschen fundiertes Wissen und einen kritischen Blick. Diese Tatsache wird von der ständigen Problematisierung jugendlicher Sexualität seitens Erwachsener überschattet: Das Internet erachten viele als „gefährlich“ weil einerseits Pornos jederzeit verfügbar sind und andererseits ein „neues“ Phänomen namens Sexting aufgekommen ist. Alle paar Jahre ploppt ein Thema auf, das öffentlich diskutiert und problematisiert wird – ohne, dass junge Menschen selbst zu Wort kommen – und nach medialen Empörungen geschieht einfach nichts.

Sexualität: Mehr als Faktenwissen und Moralvorstellungen.

Heute noch kommen Jugendliche mit Sexualerziehung meistens zweimal in ihrer Schullaufbahn in Berührung, im Biologie- und im Religionsunterricht. Da wird einerseits trockenes Faktenwissen vermittelt, das oft nur weitere Fragen aufwirft und die Gefühlsebene rund um das aufregende Thema völlig ausblendet. Und andererseits geht es um Moralvorstellungen, die am Leben der Jugendlichen völlig vorbei ziehen. Eine zeitgemäße Sexualpädagogik ist umfassend. Sie erkennt Sexualität als einen schönen und ganzheitlichen Teil des Lebens an, der allen früher oder später einmal begegnet. Sexualpädagogik hilft Kindern und Jugendlichen, selbstbestimmt erwachsen zu werden und zu lernen, ihren Körper und ihre Gefühle in Einklang zu bringen. Sie schafft für möglichst alle die Voraussetzungen, ihre eigenen Grenzen zu kennen und dadurch auch andere zu verstehen und zu respektieren.

Kompetenzen: Die Basis für Selbstbestimmung.

Der neue Erlass sieht vor, dass Sexualpädagogik als inhaltlicher Schwerpunkt in Pflichtgegenständen verankert ist, sich aber in allen Lehrplänen auch als Unterrichtsprinzip wieder findet. Damit wird eine Orientierung auf den Erwerb von unterschiedlichen Kompetenzen möglich. SchülerInnen wird ermöglicht, ihr Wissen auszubauen, zu reflektieren und neue Informationen kritisch zu bewerten. Sie können in der Schule mehrere Haltungen entwickeln, deren Basis ein positives Gefühl zu sich selbst und ihren eigenen Bedürfnissen ist. Darauf aufbauend werden SchülerInnen darin gefördert, eigene Werte zu entwickeln und für sich individuell bestimmen zu können, was sie wann wollen – oder eben nicht. Ausgehend davon können junge Menschen verantwortungsbewusste Entscheidungen über ihre eigene Sexualität treffen. Wenn man Sexualität als einen elementaren Teil der lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung betrachtet, ist klar, dass fundierte Kompetenzen das Um und Auf sind. Das Bekenntnis, dass Sexualpädagogik schon in der Volksschule verankert sein soll, sorgt zum Teil für Hysterie. Doch an den Befürchtungen, dass Kinder in diesem Alter schon mit Fakten über sexuellen Praktiken konfrontiert werden sollen, ist nichts dran. Es geht darum, dass die PädagogInnen vor kindlichen Fragen zu ihrem Körper oder Gefühlen nicht erschrecken, sondern darauf angemessen reagieren können. Sie sollen Kinder mit unterschiedlichen pädagogischen Methoden – zum Beispiel angelehnt an Theaterpädagogik – darin unterstützen, ein positives Selbstbild zu entwickeln, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und zu erkennen, was ihnen gut tut und was nicht. Außerdem ist es in diesem Alter wichtig, soziale Regeln rund um Körper und Nähe festzulegen, die für alle gelten. Regeln, an die sich Menschen ein ganzes Leben lang halten, die müssen besprochen werden, auch in der Volksschule.

Transparenz: Anhaltspunkte für alle Beteiligten.

In den Debattenbeiträgen von GegnerInnen einer neuen Sexualpädagogik kommt immer wieder vor, dass der neue Erlass Eltern völlig ausblenden würde. Das Gegenteil ist der Fall. Im Erlass wird Transparenz für alle drei Parteien – PädagogInnen, SchülerInnen und Eltern – geschaffen. Den PädagogInnen sollen Anhaltspunkte gegeben werden, mit denen sie eine passende Haltung gegenüber ihren SchülerInnen einnehmen können, wenn erste Fragen aufkommen. Eltern wird klar und verständlich dargelegt, dass Sexualität ein Teil der Persönlichkeitsentwicklung aller Kinder und Jugendlichen ist und deshalb einen fixen Platz in der Schule braucht. Jugendliche lernen, dass nur sie über ihre Sexualität bestimmen.

Grundsätze: Raum für Entwicklung.

Die Ziele des Erlasses haben Grundsätze als Fundament, an denen sich Lehrpersonen nicht nur orientieren sollen, sondern die ihnen auch die pädagogische Umsetzung erleichtert. Es geht darum, dass PädagogInnen die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen respektieren und sie als etwas Positives bewerten. Sie müssen nicht jede Frage beantworten und nicht mit jedem Problem umgehen können, aber sie dürfen nicht ablehnend agieren und müssen wissen, dass ExpertInnen (auch im Unterricht) weiterhelfen können. Sexualpädagogik beginnt mit dem Schuleintritt und zieht sich durch die gesamte Laufbahn, natürlich altersadäquat und sensibel. Es ist aber nicht die Aufgabe der Schule, bestimmte Werte zu vermitteln. Stattdessen müssen Räume geschaffen werden, in denen Kinder und Jugendliche ihre eigenen Werte entwickeln können und wo ihre eigenen Vorstellungen von ihrer Identität, ihrem Körper, ihren Gefühlen und ihren Wünschen wachsen und gedeihen. Der Erlass bezieht sich auf die „Standards für Sexualaufklärung in Europa“, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegt wurden, und andere international anerkannte Empfehlungen für Sexualpädagogik. Es wird klar festgehalten, dass Kinder und Jugendliche, die in gleichgeschlechtlichen Elternhäusern aufwachsen, genauso wenig abgewertet werden dürfen, wie Jugendliche, die selbst homosexuell sind – ganz im Gegenteil soll Vielfalt sichtbar gemacht und Gleichstellung gelebt werden. Begleitet von einem geschlechtssensiblen Ansatz und einem Bekenntnis zu den unterschiedlichsten Lebens- und Liebesweisen steht einer erfolgreichen Sexualpädagogik nichts mehr im Weg.

Schluss mit den Tabus!

Mit einem neuen Erlass reagiert die Politik auf den Wunsch von Jugendlichen nach mehr Wissenstransfer in der Schule. Sie haben keine Lust, sich vielleicht falsche Infos aus dem Internet zu suchen. Sie wollen oft nicht mit ihren Eltern über ihre intimsten Themen sprechen. Sie wissen, dass es schwierig sein kann, ohne passenden Rahmen mit LehrerInnen ihre Fragen zu besprechen, wenn es die gleichen sind, die im nächsten Moment eine Note eintragen. Es ist an der Zeit, dass Tabus aufgebrochen werden und eine Sprache für das scheinbar Unaussprechliche entwickelt wird. Nicht Jugendliche schämen sich für ihre Sexualität, es sind noch immer Erwachsene, die rot werden und herumstammeln. Da wird lieber ein Mantel des Schweigens drüber gelegt und so getan, als hätte Sexualität mit jungen Erwachsenen gar nichts zu tun. Diese Ignoranz übt schon viel zu lange Macht aus.

Die Stimmen gegen eine neue Sexualpädagogik werden immer lauter. Dieser Widerstand gegen Fortschritt für junge Menschen ist schon längst langweilig. Jene, die sich fürchten, verabscheuen vermutlich auch die gültige Sexualerziehung. Sie brüllen nach Lösungen und erkennen nicht, dass Kinder und Jugendliche ernst zu nehmen sind. Eine fundierte Sexualpädagogik treibt niemanden zu verantwortungslosem Umgang mit der eigenen Intimität, ganz im Gegenteil. Wer gut informiert ist, übernimmt Verantwortung für sich und andere und kann sich selbstbestimmt auf dem Parkett der Sexualität bewegen, ein Leben lang.