Nordische Gewerkschaften und Gent-System unter Druck

25. Mai 2018

Die nordischen Länder galten lange Zeit als Paradies für gute und stabile Arbeitsbeziehungen, nicht zuletzt dank starker Gewerkschaften. Seit Ende der 1990er-Jahre haben aber auch die Gewerkschaften in Schweden und Dänemark mit erheblichen Mitgliederverlusten zu kämpfen – auch aufgrund einer aggressiven Politik rechter Regierungen. Den wichtigsten Angriffspunkt bildete in diesen Ländern das Gent-System, also die von den Gewerkschaften verwaltete Arbeitslosenversicherung, traditionell ein wichtiges Rekrutierungsmittel nordischer Gewerkschaften. Der Konflikt um das Gent-System steht dabei stellvertretend für Angriffe marktliberaler Kräfte auf gewerkschaftliche und sozialpartnerschaftliche Institutionen, wie sie momentan auch in Österreich zu beobachten sind.

Das Gent-System: gewerkschaftliche Verwaltung der Arbeitslosenversicherung 

Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern verfügen Schweden, Dänemark und Finnland nicht über eine gesetzliche, einkommenssichernde Arbeitslosenversicherung, sondern über ein freiwilliges, von den Gewerkschaften verwaltetes Versicherungssystem (das sogenannte Gent-System). Anders als in Österreich und anderen europäischen Ländern sind ArbeitnehmerInnen also nicht automatisch über die staatliche Arbeitslosenversicherung gegen Arbeitslosigkeit abgesichert, sondern nur, wenn sie Mitglied in einer der gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen sind. Aus diesem Grunde hat sich das Gent-System in der Vergangenheit als exzellentes Rekrutierungsmittel für die Gewerkschaften erwiesen. Der „Gent-Effekt“, von dem die Gewerkschaften profitieren, resultiert dabei aus einer Reihe von Faktoren:

  1. Die Leistungen für Arbeitslose sind im internationalen Vergleich traditionell sehr hoch, weshalb sich die Mitgliedschaft in einer Arbeitslosenkasse insbesondere für Beschäftigte mit unsicherem Arbeitsplatz lohnt.
  2. Die Finanzierung des Arbeitslosengelds erfolgt hauptsächlich über Steuern und Arbeitgeberbeiträge. Die Mitgliedsbeiträge fallen dadurch moderat aus. So lagen die Beiträge in Schweden im Jahre 2000 bei umgerechnet 8 bis 9 Euro pro Monat.
  3. Die Mitgliedschaften in Gewerkschaft und Arbeitslosenkasse sind traditionell eng miteinander verbunden, da die Arbeitslosenkassen ebenso wie die Gewerkschaften entlang der einzelnen Berufsgruppen organisiert sind.

Die sozialwissenschaftliche Forschung zeigt, dass das Gent-System maßgeblich für den hohen Organisationsgrad nordischer Gewerkschaften verantwortlich ist. Außerdem sorgte die gewerkschaftliche Arbeitslosenversicherung dafür, dass die nordischen Gewerkschaften lange Zeit dem internationalen Trend sinkender Mitgliederzahlen widerstehen konnten.

Gewerkschaftlicher Organisationsgrad im europäischen Vergleich

 1960199020002013
Finnland31,972,575,069,0
Schweden72,179,479,167,7
Dänemark56,975,373,966,8
Belgien*39,353,956,255,1
Norwegen60,058,554,452,1
Italien24,738,834,837,3
Irland45,348,538,029,6
Österreich67,946,936,627,8
Großbritannien40,438,230,225,8
Deutschland34,731,224,618,1
Niederlande41,724,622,917,8
Schweiz31,022,720,216,2
Frankreich19,610,08,07,7

* Partielles Gent-System: gesetzliche Arbeitslosenversicherung, aber Gewerkschaften sind an der Verwaltung der Arbeitslosenversicherung beteiligt.

Anm.: Länder mit Gent-System grau unterlegt.  

Quelle: OECD.

 

Wie die Tabelle zeigt, hat der Negativtrend seit der Jahrtausendwende aber auch die nordischen Gewerkschaften erfasst. Ein Blick nach Schweden und Dänemark verdeutlicht, dass die gegen das Gent-System gerichtete Politik rechter Regierungen maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen hat. Die bürgerlichen Regierungen in Schweden und Dänemark bedienten sich dabei allerdings unterschiedlicher Reformstrategien.

Schweden: Aushöhlung des Gent-Systems

 In Schweden erfolgte die erste Attacke auf das Gent-System und die Gewerkschaften bereits Anfang der 1990er-Jahre. Die Strategie der damaligen Regierung unter Führung der Konservativen bestand darin, die gewerkschaftlichen Arbeitslosenkassen durch eine staatliche Arbeitslosenversicherung zu ersetzen.

Die offizielle Begründung einer besseren Abdeckung der Arbeitslosen erwies sich dabei als fadenscheinig, da unter den verschärften Bezugskriterien weniger Personen Anspruch auf Arbeitslosengeld gehabt hätten als unter dem alten System. Entscheidender war, wie einige Regierungsvertreter offen zugaben, das „Monopol“ der Gewerkschaften zu brechen. So bezeichnete eine Sprecherin der Konservativen das bestehende System in der parlamentarischen Debatte als „ein gewerkschaftliches Monopol, das zum gewerkschaftlichen Imperium gehört, welches die Sozialdemokraten aufgebaut haben“. Das zugehörige Gesetz passierte 1994 mit Unterstützung der Rechtspopulisten den schwedischen Reichstag. Die wenige Monate später ins Amt kommende sozialdemokratische Regierung war jedoch in der Lage, die Reform rückgängig zu machen.

Der zweite Angriff von Seite der rechten Parteien erwies sich als deutlich erfolgreicher. Unter der Führung des konservativen Regierungschefs Fredrik Reinfeldt zielte die bürgerliche „Allianz für Schweden“ nach 2006 auf die Aushöhlung des Gent-Systems. Dabei setzte die Regierung in drei Bereichen an:

  1. Leistungssenkungen: Zum einen wurde die nominelle Lohnersatzrate nach 200 Tagen Arbeitslosigkeit von 80 % auf 70 % gesenkt. Darüber hinaus fand in der gesamten Regierungszeit von 2006 bis 2014 keine Anpassung der Leistungsobergrenze an die Lohnentwicklung statt, sodass die reale Lohnersatzrate kontinuierlich sank. Für einen Alleinstehenden mit Durchschnittslohn lag das Arbeitslosengeld 2014 nur noch bei 42 %.
  2. Verschärfung der Anspruchskriterien: Zusätzlich wurden die Bezugskriterien für das Arbeitslosengeld verschärft. Die Teilnahme an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik wird seitdem ebenso wenig angerechnet wie Studienzeiten.
  3. Erhöhung der Mitgliedsbeiträge: Die folgenreichste Änderung betraf allerdings die Finanzierung des Arbeitslosengelds. Die Umstellung auf eine deutlich stärkere Finanzierung über Mitgliedsbeiträge sorgte dafür, dass diese sich zum Teil vervierfachten. Besonders verheerend war in diesem Zusammenhang die Kopplung der Beiträge an die branchenspezifische Arbeitslosigkeit. Dadurch hatten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit unsicheren Jobs (und niedrigen Löhnen) deutlich höhere Beiträge zu zahlen als GutverdienerInnen!

Der Effekt auf die schwedischen Gewerkschaften war verheerend. Als Folge der massiven Beitragserhöhungen verließen viele ArbeitnehmerInnen die Arbeitslosenkassen – und damit auch die Gewerkschaften. Insgesamt verloren diese von 2006 bis 2008 etwa 8 % ihrer Mitglieder, ein historisch einmaliger Rückgang. Die Verluste waren dabei äußerst ungleich verteilt, da das Gent-System vor allem für Menschen in prekärer Beschäftigung an Attraktivität verlor. Im Hotel- und Gaststättengewerbe verließ beispielsweise fast ein Drittel der Beschäftigten die zugehörige Gewerkschaft. 

Dänemark: Entkopplung von Gewerkschaften und Arbeitslosenkassen 

Auch in Dänemark setzten die bürgerlichen Parteien – in diesem Fall unter Führung der rechtsliberalen Venstre und unter Mithilfe der Rechtspopulisten – beim Gent-System an, um die Gewerkschaften zu schwächen. Dabei setzten sie auf eine andere, allerdings nicht weniger erfolgreiche Strategie. Diese bestand in der Zulassung branchenübergreifender Arbeitslosenkassen im Jahre 2001. Diese Änderung erwies sich, wie geplant, als Einfallstor für „alternative Gewerkschaften“, die nicht der ArbeiterInnenbewegung angehören und häufig arbeitgeberfreundlich sind. Gegenüber den traditionellen Gewerkschaften verfügen die alternativen Gewerkschaften über den Vorteil, dass sie die Arbeitslosenversicherung zu einem deutlich niedrigeren Preis anbieten können (um etwa 300 Euro im Jahr), weil sie keine finanziellen Mittel für Kollektivverhandlungen, Arbeitskämpfe etc. benötigen.

Die Folge der Reform war neben einem spürbaren Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades vor allem eine Wanderung von den traditionellen zu den alternativen Gewerkschaften. Die LO, der Dachverband der ArbeiterInnengewerkschaften, verlor von 2000 bis heute über 300.000 Mitglieder. Das entspricht mehr als einem Viertel der ursprünglichen Mitgliederschaft. Die Mitgliederzahlen der alternativen Gewerkschaften haben sich im gleichen Zeitraum fast vervierfacht (von 68.000 im Jahr 2000 auf 253.000 im Jahr 2015). Rechnet man die eher arbeitgeberfreundlichen alternativen Gewerkschaften aus der Gewerkschaftsbewegung heraus, waren im Jahre 2015 nur noch 58,2 % der Beschäftigten in Dänemark Mitglied einer Gewerkschaft (im Vergleich zu 68,9 % im Jahr 2000).

Ausblick: progressive Reformen des Gent-Systems als Rettung? 

Die Reformen bürgerlicher Regierungen trugen also in beiden Ländern entscheidend zum Mitgliederschwund der Gewerkschaften bei. Doch konnten linke Regierungen gegensteuern, um den Trend zu stoppen oder gar umzukehren?

Im schwedischen Fall scheint dies der Fall zu sein. Nachdem bereits die bürgerliche Regierung unter massivem Druck der Gewerkschaften die Beiträge wieder gesenkt hatte, kam es unter der aktuellen rot-grünen Regierung zu einer deutlichen Anhebung des Arbeitslosengelds. Dies trug dazu bei, den Rückgang der Mitgliederzahlen zu stoppen. Im gebeutelten Hotel- und Gaststättengewerbe konnten die Gewerkschaften 2014 und 2015 sogar deutliche Zuwächse verzeichnen.

In Dänemark scheint eine Umkehr des Trends über eine Reform des Gent-Systems dagegen äußerst unwahrscheinlich. Zum einen ist das preisgünstigere Angebot der alternativen Gewerkschaften bei vielen WählerInnen beliebt. Und zum anderen ist in Dänemark eine klare Entfremdung zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften zu beobachten. Statt gegenzusteuern, war die Politik der letzten sozialdemokratischen Regierung unter Helle Thorning-Schmidt (2011–2015) durch Konflikte mit den Gewerkschaften geprägt, u. a. ging es um die Beschneidung der Frühpensionen und die Verschärfung von Arbeitsverpflichtungen für SozialhilfeempfängerInnen. Im Gegensatz zu Schweden scheinen die dänischen Gewerkschaften also in Zukunft auf sich allein gestellt.

Über die Ländergrenzen Schwedens und Dänemarks hinweg verdeutlicht der Fall des Gent-Systems, dass rechte Regierungen auch in Ländern mit einer starken Gewerkschaftsbewegung nicht davor zurückschrecken, historisch gewachsene Einrichtungen zu schwächen, die den ArbeitnehmerInnen zugutekommen. Gegen welche Institutionen sich diese Angriffe richten, ist jedoch von Land zu Land unterschiedlich, wie die aktuelle österreichische Debatte um die Pflichtmitgliedschaft in den Kammern zeigt.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Artikels „ Nordische Gewerkschaften unter Druck – Der Angriff rechter Parteien auf das Gent-System in Schweden und Dänemark“ in den WSI-Mitteilungen 2/2018.