Mindestpersonalschlüssel in der Pflege: Utopie oder Wirklichkeit

20. Juli 2016

Beschäftigte in den österreichischen Alten- und Pflegeheimen klagen, dass die Arbeit immer dichter wird und ständig neue oft pflegeferne Aufgaben dazu kommen. Es bleibt – so Schilderungen – immer weniger Zeit für die Bewohner/-innen. Grund dafür: Personalausstattungen, die teils seit über 20 Jahren nicht verändert wurden und oft als Höchstschlüssel ausgelegt werden. Der Beitrag gibt Einblicke in aktuelle Entwicklungen und zeigt Handlungsfelder anhand einer aktuellen Studie der Arbeiterkammer Oberösterreich.

 

„Mobil vor stationär“, ein politischer Grundsatz, der derzeit im deutschsprachigen Raum weit verbreitet ist. Dass auch in Zukunft Einrichtungen der stationären Langzeitpflege nicht komplett substituierbar sein werden, zeigt nicht zuletzt eine Wifo-Studie aus dem Jahr 2014.  Derzeit leben in Österreich knapp 77.000 Menschen in rund 890 Alten-und Pflegeheimen. Diese werden laut österreichischem Pflegevorsorgebericht von cirka 40.510 Beschäftigten gepflegt. Sie leisten wertvolle Arbeit und das 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Die Beschäftigten, mit einem Frauenanteil von derzeit rund 85 % haben hohe Ansprüche an sich und ihre Tätigkeit. Nicht selten stoßen sie aber an persönliche Grenzen bzw. zahlen mit einem hohen Preis – ihrer eigenen Gesundheit. Eine der wesentlichen Gründe, warum es immer schwieriger wird hochwertige und sinnstiftende Arbeit zu erbringen sind Personalausstattungen, die meist in den 1990er-Jahren erarbeitet wurden und seither kaum eine Anpassung erfahren haben, so das Fazit einer aktuellen Studie der Arbeiterkammer Oberösterreich zum Mindestpflegepersonalschlüssel in den ÖO. Alten- und Pflegeheimen. Bereits 2013 erarbeitete ein bundesweites Pflegekonsilium unter Federführung der Arbeiterkammer Steiermark ein konkretes Forderungspaket aus. Erste Forderungen werden – zumindest in der Steiermark derzeit teilweise umgesetzt.

9 Bundesländer – neun unterschiedliche Vorgaben in der Pflege

Die Regelung der Errichtung und des Betriebes von Heimen für Personen, die wohl ständiger Pflege, aber bloß fallweiser ärztlicher Betreuung bedürfen und somit auch die Personalausstattung fällt gemäß Art 15 Abs 1 B-VG in Kompetenzbereich der Länder. Die Gestaltung der Strukturqualitätsvorgaben zur Personalausstattung ist dabei sehr unterschiedlich. Sie reicht von einer Koppelung von Beschäftigten zu Personal an die Pflegegeldeinstufung über Anhaltszahlen, Minutenwerte bis zu keinen quantitativen Vorgaben. Auch die qualitativen Vorgaben sind sehr unterschiedlich gestaltet und bringen einen unterschiedlichen Qualifikationsmix mit sich. Allen Vorgaben eins ist, dass es sehr schwierig ist, die einzelnen Vorgaben miteinander zu vergleichen. Zugleich sagen sie wenig über die derzeitige Praxis in den Heimen aus, siehe dazu auch die aktuelle Studie der Arbeiterkammer Oberösterreich. Wie die Vorgaben derzeit gestaltet sind, wird am Beispiel von Oberösterreich und der Steiermark dargestellt.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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DGKP: Diplomierte/r Gesundheits- und Krankenschwester/-pfleger/-in; FSB: Fachsozialbetreuer/-in; DSB: Diplomsozialbetreuung; PH: Pflegehilfe.

Quellen: § 1 Verordnung der Steiermärkischen Landesregierung vom 27. April 2009 über die Personalausstattung in Pflegeheimen in der Fassung GZ Nr. 55/2016 vom 1. März 2016; § 16 (3) Verordnung der Oö. Landesregierung vom 11. März 1996 über die Errichtung, den Betrieb sowie über die zur Sicherung einer fachgerechten Sozialhilfe in Alten- und Pflegeheimen erforderlichen sonstigen Voraussetzungen (Oö. Alten- und Pflegeheimverordnung).

Auffällig ist, dass es wenig Angaben dazu gibt, wie die derzeitigen Vorgaben entstanden sind und was die konkreten Grundlagen waren. Eine arbeitswissenschaftliche Bewertung der Tätigkeiten und Anforderungen an die Arbeit der Pflege- und Betreuungsberufe im Heim ist daher ein Gebot der Stunde.

Handlungsfelder bei der Gestaltung von Personalvorgaben

Wie tauglich sind die gesetzlichen Vorgaben für die Ausrichtung der stationären Langzeitpflege im 21. Jahrhundert? Wie erleben ExpertInnen im Feld die gesetzlichen Vorgaben? Wie werden die Vorgaben erfüllt? Wo stoßen Führungskräfte, BetriebsrätInnen, Beschäftigte aber auch manche Träger an Grenzen? Welche Ideen haben Menschen, die täglich im Heim arbeiten? Antworten auf diese Frage gibt die Studie der AK Oberösterreich. Bereits im Pflegekonsilium  kam eine Expertenrunde unter Federführung der AK Steiermark im Jahr 2013 zu ähnlichen Befunden. Exemplarisch werden einige Handlungsfelder skizziert.

Demenz völlig unterbewertet 

Die Zahl an dementen BewohnerInnen nimmt kontinuierlich zu. Der Pflege- und Betreuungsaufwand im Zusammenhang mit dementen BewohnerInnen ist im Vergleich zu nichtdementen BewohnerInnen erwiesenermaßen deutlich erhöht. Dieser zusätzliche Aufwand ist derzeit in den österreichischen Personalschlüsselberechnungen nicht abgebildet und führt bei Beschäftigten in der Pflege und Betreuung zu einer erheblichen Mehrbelastung. Die Zunahme an demenzerkrankten BewohnerInnen verlangt, dass der damit im Zusammenhang erhöhte Pflege- und Betreuungsaufwand auch in den Personalschlüsselberechnungen abgebildet wird.

Wenig Fokus auf Betreuung und Interaktion 

Beschäftigte schildern, dass in der Praxis bedingt durch zahlreiche Mehraufgaben immer weniger Zeit für Beziehungs- und Interaktionsarbeit bleibt. Als Grund dafür wird oft die Koppelung der Personalausstattung an die Pflegegeldeinstufung genannt. Diese nimmt nur wenig Rücksicht auf Betreuung von BewohnerInnen und die zeitlichen Anforderungen. Die Befragten in der Studie der Arbeiterkammer Oberösterreich sehen einen Handlungsbedarf: „Man kann in dieser, nur sehr kurz vorhandenen Zeit, auch nicht wirklich auf die Gefühle der einzelnen Bewohner eingehen. Daher wäre mein Wunsch, dass dies besser im Personalschlüssel berücksichtigt wird, es sollen nicht nur auf die körperlichen Leiden und Mängel, sondern auch auf die geistigen Schwächen der Bewohner eingegangen werden. Es sollte einfach mehr Zeit eingeplant werden, um sich auch diesen Dingen entsprechend widmen zu können,“ sagt z. B. ein DGKP, der sich kurz vor seinem 50. Geburtstag entschieden hat, die IT-Welt zu verlassen, weil er mehr Zeit mit Beziehungsarbeit verbringen wollte.

Fehlzeiten kaum berücksichtigt 

Die Personalschlüssel müssen Zeitaufwände für Urlaube, Krankenstände, gesetzliche Fort- und Weiterbildungen, Sonderurlaube, Abbau von Zeitgutschriften, verschiedene Projektarbeiten und alle qualitätssichernden Maßnahmen bis hin zur Zertifizierung erfassen und abbilden. Dies ist derzeit nicht der Fall.

Personalausstattungen: keine Rücksicht auf Beschäftigtenstruktur    

Meist werden Krankenstände und längere Absenzen nicht in der Personalausstattung berücksichtigt. Dies hat für die verbleibenden KollegInnen erhebliche Konsequenzen. Sie müssen den Mitarbeiterausfall zur Gänze ausgleichen bzw. schultern. Vereinbarte Freizeiten lt. Dienstplanung oder Urlaube fallen diesem dann oft zum Opfer. Erhebungen zeigen, dass kurzfristige Dienstplanänderungen von Seiten der Beschäftigten als sehr belastend empfunden werden. Faktum ist, dass die aktuellen Personalplanungs- bzw. Normkostenmodelle sehr knapp kalkuliert sind und dadurch eigentlich nicht notwendige Dienstplanänderungen de facto mit verursachen. Deshalb müssen ausreichende Personalressourcen sicherstellen, dass vereinbarte Dienstpläne im Nachhinein nicht abgeändert werden müssen.

Der Anteil an älteren MitarbeiterInnen steigt Demografie bedingt an. Das Durchschnittsalter beträgt schon jetzt teilweise 50 Jahre. Auch gewinnen Spät- und QuereinsteigerInnen immer mehr an Bedeutung, weshalb am Arbeitsplatz für Rahmenbedingen zu sorgen ist, die es auch älteren MitarbeiterInnen ermöglicht, möglichst lange und gesund im Erwerbsleben zu verbleiben.

Infolge der Komplexität der Pflegefälle hat die Informationsweitergabe im Rahmen der Dienstübergabe über die Jahre hin an Bedeutung gewonnen. Das gestiegene Maß an Teilzeitbeschäftigten verlangt daher auch mehr Zeit für die Dienstübergaben, um eine hohe Qualität in der Pflege gewährleisten zu können.

Die Personalausstattung macht keinen Unterschied, ob sich einzelne MitarbeiterInnen in einem langem Krankenstand, auf Kur- oder Rehabilitation befinden, über einen begünstigen Behindertenstatus verfügen, älter oder beispielsweise lediglich teilzeitbeschäftigt sind. Die Anforderungen verändern sich bzw. sind für jeden einzelnen dieser Berufsangehörigen unterschiedlich.

Unzureichende Regelungen für den Nachtdienst  

Der Personaleinsatz in Pflegeheimen während der Nachtstunden ist österreichweit weitestgehend ungeregelt. In den letzten Jahren haben Konsolidierungs- und Sparmaßnahmen dazu geführt, dass der Personaleinsatz während der Nachtstunden reduziert wurde. Eine Erkenntnis auf Ebene der Führungskräfte zeigt, dass derzeit darauf geachtet wird, während der Nacht so wenig Personal wie möglich einzusetzen, damit tagsüber die Pflege auf Basis des Mindestpersonalschlüssels gewährleistet werden kann.

Tatsache ist, dass z. B.in einem Pflegeheim mit 125 BewohnerInnen lediglich zwei Pflegepersonen bzw. in einem 40-Betten-Haus oftmals nur eine Pflegeperson Nachtdienst verrichtet. Durch einen derartig geringen Personaleinsatz kann weder eine bedarfsgerechte noch eine sichere Pflege und Betreuung gewährleistet werden. Die dadurch entstehende belastende Arbeitsverdichtung für das Pflegepersonal ist unzumutbar.

Steigende Dokumentationanforderungen

Der Dokumentationsbedarf hat sich in den letzten Jahren stark verändert. So hat die verpflichtende Dokumentation in allen Arbeitsbereichen der Pflege stark zugenommen. Es gilt die widerlegbare Prämisse, dass „Alles, was nicht dokumentiert ist, als nicht geleistet gilt. Rechtliche Grundlagen für die Dokumentation finden sich in nahezu allen Gesetzen und Richtlinien (z. B. in Hygienerichtlinien, dem GuKG, dem Pflegeheimgesetz, in diverse Assessments im Rahmen der Qualitätssicherung und des Qualitätsmanagements, im Heimaufenthaltsgesetz, in ArbeitnehmerInnenschutzvorschriften, im Datenschutzgesetz). Die Dokumentation ist auch von einer strikten Rechtsprechung geprägt, die eine zeitnahe Dokumentation verlangt. Der enorm gestiegene Zeitaufwand spiegelt sich bislang nicht bzw. nur unzureichend in den Personalschlüsseln wider.

Die ständig steigenden Anforderungen führen zu einer empfundenen Verdichtung bei den Beschäftigten. Zwar hat die Zeit einen wesentlichen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen und die Qualität der Pflege – so auch eine Studie zur „Guten Pflege aus Sicht der Beschäftigten“  im Auftrag der AK Wien bzw. die Erkenntnisse der aktuellen Studie der AK Oberösterreich. Alle befragten Personen in der Studie sagen, dass durch Zusatzaufgaben immer weniger Zeit für die Betreuung und direkte Arbeit mit den BewohnerInnen übrig bleibt.

Fazit für Personal in der Pflege

Der Beitrag zeigt, es braucht dringend eine Evaluierung der derzeitigen Mindestpflegepersonalschlüssel für die österreichischen Alten- und Pflegeheime. Zu betrachten sind auf arbeitswissenschaftlicher Basis die heutigen Anforderungen der stationären Langzeitpflege. Welchen Beitrag hier die Träger der stationären Langzeitpflege leisten können, wo es Grenzen und Gefahren gibt und wie das Bundesland Steiermark versucht, mit einem neuen Mindestpflegepersonalschlüssel die heutigen Anforderungen zu begegnen, ist Gegenstand des nächsten Beitrags.