Die Londoner Schulreform – eine Erfolgsgeschichte

20. Januar 2017

Die Londoner Schulen zählten zu den schlechtesten in ganz England. 2003 wurde die Londoner Schulreform – die „London Challenge“ – gestartet. Nach nur fünf Jahren zeigten sich erhebliche Fortschritte.

 

Wenn vom englischen Schulsystem die Rede ist, so verbindet man damit nicht unbedingt allzu viel Positives, im Gegenteil. Dem elitären, jahrhundertealten Privatschulsystem („Public Schools“) steht ein öffentliches Schulsystem gegenüber, das von großen Gegensätzlichkeiten geprägt ist: exzellente Schulen einerseits, das genaue Gegenteil andererseits. Schulen, die sich in jeder Hinsicht sehen lassen können stehen Schulen gegenüber, die es über Jahre hinweg nicht schaffen, ihre AbsolventInnen am Ende der Schulpflicht mit den erforderlichen Grundqualifikationen zu entlassen, die Disziplin- und Gewaltprobleme nicht in den Griff bekommen und denen schließlich die Schließung angedroht wird bzw. die dann auch tatsächlich geschlossen werden.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Das passiert in England mit so genannten „failing schools“, also Schulen, die versagen. Meist befinden sich die Problemschulen in sozial benachteiligten Milieus, in ehemaligen Industriehochburgen in Nordengland beispielsweise, oder auch in strukturell schwachen ländlichen Regionen. Man muss fairerweise der Regierung Cameron zugutehalten, dass sie die Verbesserung des öffentlichen Schulwesens zum Ziel hatte und genau dort anzusetzen versuchte, wo die Herausforderungen am größten waren. Die Regierung May hingegen scheint auf Sparkurs zu setzen sowie auf die Wiedereinführung des Gymnasiums, was selbst unter Konservativen auf viel Widerstand stößt.

Schlechte schulischen Leistungen, Disziplin- und Drogenprobleme

Auf diesem Hintergrund, auf einem bezüglich der Gesamtqualität äußerst durchwachsenen Schulsystem, lohnt es sich, die Hauptstadt näher anzusehen, denn Londons Schulwesen nimmt in diesem Gefüge eine Sonderposition ein. In den 80er- und 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die Ergebnisse der (externen) Abschlussprüfungen am Ende der Schulpflicht an den Londoner Schulen im nationalen Vergleich immer weiter zurückgefallen. Die Schulen der Hauptstadt zählten zu denen mit den schlechtesten Ergebnissen in ganz England. In den „Inner City Schools“, also in so genannten Brennpunktschulen, war die Situation besonders dramatisch. Die schlechten schulischen Leistungen standen in enger Verbindung mit Disziplin- und Drogenproblemen, Absentismus, Gewalt und Bandenkriegen sowie Mobbing. Zunehmend demotivierte LehrerInnen sahen sich immer weniger in der Lage, die Probleme in den Griff zu bekommen und Verbesserungen herbeizuführen. Mit der Zunahme der Schwierigkeiten nahm die Erwartung an Leistung und Erfolg ab.

Reformprogramm erhöht Qualifikation

Als im Jahr 2003, unter der Regierung Blair, im berühmten Globe Theatre ein groß angelegtes Reformprogramm für das Londoner Schulwesen startete, schafften nur 9% der SchülerInnen an öffentlichen Londoner Sekundarschulen die erforderlichen Qualifikationen für die Fortsetzung der Schullaufbahn auf der Sekundarstufe 2, 2015 waren es 70,5%. Die Reform hatte sich hohe Ziele gesetzt, allem voran, jedem Londoner Kind, ungeachtet seiner Herkunft, eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Die wichtigsten Zielsetzungen waren unter anderem:

  • London weltweit zur führenden Hauptstadt des Lernens und der Kreativität zu machen
  • Zeigen, dass die Verbindung von Benachteiligung und schlechter Schulbildung durchbrochen werden kann, indem die durch Herkunft bedingte Kluft geschlossen wird. Der clevere Slogan dazu „Mind the Gap“ brachte dies bildlich besonders gut zum Ausdruck, hört doch jeder Londoner U-Bahn-Gast täglich mehrmals diese Durchsage, wenn er die U-Bahn betritt oder verlässt.
  • Schulversagen abschaffen und Leistungen insgesamt erhöhen

„London Challenge“ als Schulentwicklungsprojekt

Das Reformprogramm setzte auf verschiedenen Ebenen an. Der für den Gesamtprozess Verantwortliche war der damalige Regierungsdirektor für London, Sir Tim Brighouse, der unter allen AkteurInnen hohe Akzeptanz genoss, unter den Lehrergewerkschaften, LehrerInnen, SchuldirektorInnen ebenso wie bei den lokalen Schulbehörden. Letztere haben seit der Abschaffung der zentralen Londoner Schulbehörde im Jahr 1990 die Verantwortung für die Schulen im Bezirk über. Zu diesem Gesamtverantwortlichen gab es einen für den Prozess Verantwortlichen, David Woods, auch er von allen Betroffenen respektiert und geschätzt. 2003 begann das „London Challenge“ genannte Programm in den Bezirken, in denen die Schulen besonders schlecht abgeschnitten hatten, allesamt Bezirke mit einem sehr hohen Anteil an ZuwandererInnen sowie SchülerInnen aus mehrfach benachteiligten Familien. Jede Schule erhielt einen eigenen Berater/ eine Beraterin. Dazu gab es SpezialberaterInnen wie etwa Disziplinberater, die die Schulen auf ihrem Entwicklungsprozess ganz gezielt unterstützten. Und, das soll hier explizit genannt werden, die LehrerInnen an den so genannten Brennpunktschulen wurden (und werden seither!) besser bezahlt. Zum großen Erstaunen aller Verantwortlichen wiesen alle diese fünf ersten „key boroughs“ („Schlüsselbezirke“) bereits nach nur fünf Jahren so erhebliche Fortschritte auf, dass sie aus dem Programm genommen werden konnten, um anderen Schulen Platz zu machen.

Londoner Schulreform reduziert Auswirkung des sozialen Hintergrundes

Als das Programm 2011 beendet wurde, war London aus der Region Englands mit den schlechtesten Schulergebnissen (bei den Abschlussprüfungen mit 16) zur Region mit den besten Ergebnissen geworden. Auch mehr als fünf Jahre später hat sich daran nichts geändert. Besonders bemerkenswert dabei ist ja die Tatsache, dass in London die Kluft zwischen Arm und Reich größer ist als nirgends sonst in England, aber dass diese Auswirkung sich in den Schulen am geringsten auswirkt. Ebenfalls interessant ist, dass sich die Zusammensetzung der Schülerschaft an den betreffenden Schulen kaum bis gar nicht geändert hat. Wie aber war so etwas möglich, was waren denn die besonders wichtigen Eckpunkte für dieses Erfolgsmodell einer Systemreform?

Im Zentrum die Qualität und Schulnetzwerke

Im Zentrum stand die Qualität des Unterrichts, der einzelne Lehrer, die einzelne Lehrerin, und so gab es eine intensive (Nach)qualifizierung von LehrerInnen an den teilnehmenden Schulen. Auch das Programm „Teach First“, das unserem „Teach for Austria“ entspricht, spielte dabei eine wesentliche Rolle, indem hoch motivierte junge LehrerInnen aus diesem Programm („Fellows“) an die schwierigsten Schulen kamen. Die SchulleiterInnen nahmen im Veränderungsprozess eine besonders wichtige Rolle ein, und durch Benchmarking wurden SchulleiterInnen von besonders erfolgreichen Schulen mit jenen aus nicht erfolgreichen Schulen zusammengebracht – Schulen mit gleichen Voraussetzungen wie etwa einer vergleichbaren Schülerpopulation. Diese Partnerschaften und Schulnetzwerke machen, auch im Rückblick, vermutlich den Kern des Erfolgs aus. Datenmaterial wurde gezielt eingesetzt, fallweise heruntergebrochen auf den einzelnen Schüler / die einzelne Schülerin, um diese gezielt zu fördern. Und, ja, Leistung, auf LehrerInnenseite ebenso wie auf der Seite der SchülerInnen, rückte ins Zentrum. „You can do it! You can do even better!“ war so eine Ermunterung, die man SchülerInnen mit auf den Weg gab und gibt.

Viele Faktoren brachten Erfolg

Neuere Studien, wie etwa die von Simon Burgess von der Uni Bristol 2015, machen noch andere Faktoren für den Erfolg der Londoner Schulen verantwortlich wie die Abschaffung der zentralen Londoner Schulbehörde 1990, was die lokalen Schulbehörden stärkte. Auch ein veränderter Mix der Londoner Ethnien könnte Auswirkung haben, da in den letzten 20 Jahren mehr bildungsaffine ZuwandererInnen ins Land gekommen sind (Polen, Chinesen beispielsweise). Konsens herrscht aber jedenfalls darüber, dass unter den verschiedensten Faktoren die „London Challenge“ von zentraler Bedeutung für die gelungene Systemänderung ist.

Rückschlüsse für Wien?

Und was heißt das eigentlich für eine Stadt wie Wien? Wäre so ein Prozess auch für Wien denkbar? Mit Einschränkungen, ja. Sicher, unser Schulsystem ist nicht vergleichbar, und die Schulen sind nicht so lokal organisiert wie in London. Auch die hohe Schulautonomie ist hierzulande gar nicht gegeben. Hier sind also klare Grenzen gesetzt. Andererseits könnte man, wie in London, einen großen Reformansatz dort beginnen, wo es am dringlichsten nötig ist, bei den Neuen Mittelschulen in der Hauptstadt, die die meisten Herausforderungen zu meistern haben und derzeit kaum oder nicht in der Lage sind, diese zu bewältigen. Ein Nachdenken darüber würde sich lohnen.

 

Weiterführende Links:

http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20141124154759/http://www.ofsted.gov.uk/resources/london-challenge

https://www.instituteforgovernment.org.uk/sites/default/files/publications/Implementing%20the%20London%20Challenge%20-%20final_0.pdf

http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20130401151715/http://www.education.gov.uk/publications/eOrderingDownload/DfES-0368-2003.pdf

https://www.instituteforgovernment.org.uk/sites/default/files/publications/Implementing%20the%20London%20Challenge%20-%20final_0.pdf