Den Euro krisenfest machen: Finanzpolitischer Pragmatismus ist gefragt!

23. Mai 2019

Nach Beruhigung der schweren Krise im Euroraum schien vielerorts Einigkeit zu bestehen, dass es weitreichende Reformen der Euroraum-Governance brauche, um zukünftigen Krisen besser zu trotzen. Emmanuel Macrons Reformvorschläge haben der Diskussion zwischenzeitlich neuen Schwung verliehen. Die fundamentalen Interessengegensätze zwischen den Euro-Staaten lassen entsprechende Reformen jedoch auf absehbare Zeit unrealistisch erscheinen. Angesichts der Reformblockaden plädieren wir dafür, die im europäischen Regelwerk vorhandenen fiskalischen Handlungsspielräume im Krisenfall pragmatisch zu nutzen, statt auf eine Fiskalunion zu setzen, die vielleicht niemals kommt.

Anforderungen an eine Stabilisierung der Eurozone

Was muss geschehen, um den Euro krisenfest zu machen? Insgesamt müssen drei Anforderungen erfüllt werden.

(1) Bessere Absicherung nationaler Staatsschuldpapiere: Sie ist notwendig, um Vertrauenskrisen auf den Finanzmärkten vorzubeugen, nachdem die Mitgliedstaaten ihre nationalen Zentralbanken aufgegeben haben. Am wirkungsvollsten wäre, wenn die EZB zum Ankauf von Staatsschuldtiteln nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet wäre.

(2) Aufwertung der Fiskalpolitik: Die Austeritätskrise hat gezeigt, dass die Fiskalpolitik makroökonomisch weitaus wirksamer ist, als von vielen angenommen wurde. Die Fiskalpolitik muss die Geldpolitik besonders in Krisenzeiten bei der Konjunkturstabilisierung unterstützen, weil die Geldpolitik mit ihrer herkömmlichen Zinspolitik irgendwann an Grenzen stößt. Der nationalen Finanzpolitik kommt dabei eine zentrale Rolle als Konjunkturstabilisator zu, weil sich die EZB bei ihrer Zinssetzung am Euroraum-Durchschnitt orientieren muss und daher nicht auf unterschiedliche Konjunkturverläufe in einzelnen Ländern reagieren kann. Schließlich muss die Finanzpolitik in der Lage sein, durch öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung langfristig ein hohes Produktivitätswachstum zu gewährleisten. Die akute Krise in den Ländern der europäischen Peripherie konnte – zumindest vorläufig – nur durch eine Lockerung der fiskalischen Regeln und damit eine wesentlich weniger restriktive Fiskalpolitik entschärft werden.

Dekoratives Bild © A&W Blog
© A&W Blog

Diese Abbildung zeigt mittels des strukturellen Budgetsaldos und des strukturellen Primärsaldos für vier Krisenländer (Griechenland, Italien, Portugal und Spanien) die Ausrichtung der Fiskalpolitik und stellt sie der Wachstumsentwicklung gegenüber. Steigen (sinken) die strukturellen Salden, signalisiert das eine restriktive (expansive) Fiskalpolitik. Wie ersichtlich wird, brach im Zuge der Austeritätspolitik von 2010 bis 2013 – der strukturelle Budgetsaldo wurde in nur drei Jahren um über 6 Prozent des BIP verringert – die Binnennachfrage extrem stark ein. Der zunächst zarte und dann etwas kräftiger werdende Aufschwung seit 2014 wurde spiegelbildlich von der Binnennachfrage getragen und fällt mit einer spürbaren Lockerung der Konsolidierungspolitik zusammen.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt betrifft die Entwicklung der öffentlichen Investitionen: In der akuten Austeritätsphase stürzten die öffentlichen Nettoinvestitionen in der Peripherie von 2009 bis 2012 um gut 2,4 Prozent des BIP ab. Erst ab dem Jahr 2012 gelang eine Stabilisierung, allerdings auf dem negativen Niveau von etwa minus 0,5 Prozent des BIP.

(3) Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte: Neben dem mangelnden Gleichlauf der nationalen Konjunkturzyklen entwickeln sich einige Volkswirtschaften im Euroraum auch strukturell auseinander, was durch starke und anhaltende Leistungsbilanzungleichgewichte zum Ausdruck kommt. Ungleichgewichte können zu Verschuldungs- und damit Finanzmarktkrisen führen und sind somit eine Quelle großer Instabilität. Es gibt verschiedene Gegenmaßnahmen. Eine auf unterschiedliche binnenwirtschaftliche Dynamiken zurückzuführende Divergenz kann durch eine koordinierte Fiskalpolitik bekämpft werden. Beruhen die Divergenzen auf unterschiedlicher preislicher Wettbewerbsfähigkeit, liegt der Fokus eher auf einer koordinierten Lohnpolitik. Bei unterschiedlicher nichtpreislicher Wettbewerbsfähigkeit ist eine aktive Industrie- und Regionalpolitik gefragt, die zumeist fiskalpolitische Transfers benötigt.

Die blockierte Euro-Reform

Zur Beurteilung der Erfolgsaussichten von Reformvorschlägen muss man die politische Logik der Eurorettung verstehen: Die Eurokrise hat zu einem Verteilungskonflikt zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern geführt, der sich als ein Konflikt über Risikoteilung und Risikoverminderung artikuliert, also über die Frage, wie die Lasten der Eurokrise zu verteilen sind. Risikoteilung bedeutet eine grenzüberschreitende Lastenteilung, etwa durch Finanztransfers oder eine gemeinsame Haftung für Staatsschulden. Bei Risikoverminderung liegt das Augenmerk vor allem auf der Eigenverantwortung von Staaten, wirtschaftliche Probleme durch Reformen ihrer politischen Ökonomien zu überwinden bzw. Krisen durch gemeinsame Regeln auf der europäischen Ebene vorzubeugen. Hauptelemente sind eine regelgebundene Wirtschafts- und Fiskalpolitik sowie ihre Überwachung und Durchsetzung durch technokratische Behörden. Transfers sollen vermieden werden, um den Reformdruck aufrechtzuerhalten und moral hazard zu minimieren. Diese Maßnahmen sollen verhindern, dass eine Lastenteilung zwischen Mitgliedstaaten überhaupt erst notwendig wird. Da die von einem Staatsbankrott bedrohten Länder während der Verhandlungen mit dem Rücken zur Wand standen, hielten die sogenannten Überschussländer alle Trümpfe in der Hand. Diese Machtasymmetrie besteht auch jetzt weiter fort. Da jedoch alle Akteure ein ausgeprägtes Interesse am Erhalt des Euro teilten, verschaffte dies den Krisenländern zumindest ein gewisses Druckmittel in den Verhandlungen. Daraus ergab sich ein auf das notwendige Minimum beschränktes Maß an Risikoteilung, das durch umfangreiche Maßnahmen der Risikoverminderung zulasten der Schuldnerländer abgesichert ist. Dieses Muster entspricht weitgehend den Interessen der Überschussländer. Alle neuen Instrumente, die für Risikoteilung verwendet werden könnten, wie z. B. die neuen Rettungsschirme (ESFS, EFSM, ESM), bleiben unter nationaler Kontrolle. Dagegen wurden nur diejenigen Kompetenzen an supranationale Institutionen delegiert, die ausschließlich für Risikoverminderung eingesetzt werden können.

Vor diesem Hintergrund waren die Erfolgsaussichten für Macrons Reformvorschläge von vornherein eher gering, was sich auch im aktuellen Verhandlungsstand widerspiegelt: Jede weitere Lastenteilung ist an weitere Konditionalitäten gebunden und hat zusätzliche Maßnahmen zur Risikoverminderung zur Vorbedingung. Transfers sind weiterhin ausgeschlossen; Unterstützungen werden nur in Form zurückzuzahlender Kredite gewährt. Ferner verbleiben alle neuen Instrumente, die eine grenzüberschreitende Umverteilung beinhalten könnten, unter nationalstaatlicher Kontrolle, während die Überwachungsinstrumente an supranationale, technokratische Organe (Kommission und ESM bzw. EWF) delegiert werden. Die Diskussionen über eine automatische Stabilisierungsfunktion (z. B. EU-Arbeitslosenversicherung) und eine Europäische Einlagensicherung für Banken sind blockiert. Damit befinden sich die Beschlüsse hart an der Grenze zur reinen Symbolpolitik – die Widerstandsfähigkeit der Eurozone wird dadurch kaum gestärkt werden.

Handlungsspielräume innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens nutzen

Um die Währungsunion zu stärken und durch die nächste Konjunkturkrise zu manövrieren, bleiben dennoch pragmatische Optionen. So müsste die EU-Kommission den von ihr ohnehin schon erweiterten nationalen fiskalischen Spielraum noch flexibler auslegen, um öffentliche Investitionen zu steigern und die konjunkturelle Flexibilität der Finanzpolitik zu erhöhen.

Sieben Optionen für eine expansive Finanzpolitik und höhere öffentliche Investitionen

(1) aktiverer Einsatz der „Investitionsklausel“
(2) befristete Investitionsprogramme zulassen (analog zum EFSI)
(3) Interpretation befristeter Investitionsprogramme als Strukturreform
(4) Ansatz eines realistischen Investitionsmultiplikators bei der Haushaltsanalyse
(5) Spielraum in ökonomisch schlechten Zeiten nutzen
(6) Ausnahme für schwerwiegenden Abschwung in EU oder Eurozone nutzen
(7) Einsatz besserer Konjunkturbereinigungsverfahren

Quelle: eigene Zusammenstellung auf Basis von EU-Kommission.

Wir schlagen dazu sieben Einzelmaßnahmen vor (siehe Tabelle). (1) Zunächst könnte die sogenannte Investitionsklausel weiter gefasst werden, z. B. indem sämtliche von der EU kofinanzierten Investitionsprojekte ohne weitere restriktive Bedingungen nicht auf die Haushaltsdefizite angerechnet werden. (2) Darüber hinaus könnten auch andere Investitionsprojekte analog zum Vorgehen der Kommission beim EFSI ausgenommen werden. (3) Bestimmte zentrale Investitionsprojekte könnten zudem als Strukturreform interpretiert werden und so eine vorübergehende Abweichung vom Konsolidierungspfad begründen. (4) Bei der Überwachung der nationalen Haushaltspolitik sollten zudem realistische (Investitions-)Multiplikatoren in einer Größenordnung von deutlich über eins angesetzt werden: Zusätzliche öffentliche Investitionen finanzieren sich zu einem erheblichen Anteil selbst, weshalb sie – zumindest im Rahmen des Defizitverfahrens – (annähernd) irrelevant sein könnten. (5) Schließlich sollte generell der Spielraum für eine expansivere Finanzpolitik genutzt werden. Dies kann (a) unter Hinweis auf die schlechte Konjunktur in einzelnen Mitgliedstaaten, vor allem aber (b) unter Inanspruchnahme der Ausnahmeregel einer außergewöhnlichen Rezession im Euroraum geschehen. Ein kräftiger Abschwung mit Disinflation und einer bereits an der Nullzinsgrenze operierenden Geldpolitik böte hierfür sicherlich eine ausreichende Rechtfertigung. (6) Unterstützt würden sämtliche Maßnahmen, wenn die Kommission bei der Haushaltsüberwachung eine andere Methode der Konjunkturbereinigung anwenden würde. Wenn das potenzielle BIP weniger schwankungsanfällig geschätzt würde, würden die der Konjunktur zugeschriebenen Schwankungen des BIP und der Budgetsalden vergrößert. Im Aufschwung müssten die Defizite schneller zurückgeführt werden, im Abschwung entstünden symmetrisch größere fiskalische Spielräume. Analysen zeigen, dass eine weniger konjunkturanfällige Methode allen Mitgliedstaaten in der letzten akuten Krise nach 2010 erhebliche Spielräume eröffnet hätte. Insgesamt könnte der stabilisierende Effekt der hier skizzierten Maßnahmen enorm sein. Multiplikatorgestützte Simulationsrechnungen legen nahe, dass eine Aufstockung der öffentlichen Nettoinvestitionen in der EWU-12 auf 1,5 Prozent des BIP von 2016 bis 2020 in Kombination mit der dabei zu erwartenden Aufwärtsrevision des potenziellen BIP einen positiven fiskalischen Impuls von 3 Prozent des BIP und eine Steigerung des realen BIP um über 5 Prozent hätte ergeben können.

Bei pragmatischem Handeln in diesem Sinne besteht also durchaus Hoffnung für die Zukunft der Währungsunion. Sollten die Prozesse, die eine durchgreifende Reform bislang verhindert haben, jedoch selbst eine solch pragmatische Politik blockieren, wird der Euro dies nicht überstehen.

 

Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von Seikel, Daniel/Truger, Achim (2019): Die blockierte Vollendung der Europäischen Währungsunion: Plädoyer für eine pragmatische Nutzung von fiskalischen Handlungsspielräumen, der in „Wirtschaft und Gesellschaft“, Heft 1, Jahrgang 45, erscheint. Teile dieses Textes wurden bereits im WSI Blog und auf Makronom veröffentlicht.