Deflation in der Eurozone: Lohn- und fiskalpolitischer Kurswechsel erforderlich, sonst ist Quantitative Easing der EZB wirkungslos

12. Oktober 2015

Die jährliche Inflationsrate betrug im September 2015 im Euroraum -0,1%. Der anhaltende Deflationsdruck droht den Euroraum in eine längerfristige Phase wirtschaftlicher Stagnation abrutschen zu lassen, weil KonsumentInnen in Erwartung fallender Preise Konsumausgaben aufschieben und Unternehmen mit Investitionen zurückhalten. Zudem erhöht der Deflationsdruck den realen Schuldenwert und erschwert so eine rasche Entschuldung jener AkteurInnen, die mit ihren Ausgaben zurückhalten, weil sie weiterhin mit dem Schuldenabbau beschäftigt sind. Dieser Beitrag zeigt auf, dass die EZB – auf sich alleine gestellt – unter den vorherrschenden Rahmenbedingungen nicht dazu in der Lage ist, die Deflationsspirale wirkungsvoll zu bekämpfen. Um die gefährliche Deflationsspirale zu durchbrechen, bedarf es eines lohn-und fiskalpolitischen Kurswechsels.

Geldpolitisches Pulver der EZB verschossen?

Anhand der Abbildung ist zu erkennen, dass die EZB ihr Preisstabilitätsziel, das nahe aber unter 2% definiert ist (grüne Linie), erheblich und systematisch verfehlt. Die jährliche Wachstumsrate des harmonisierten Verbraucherpreisindex ist seit Ende 2011 drastisch gefallen und liegt seit mehr als einem Jahr durchgehend unter 0,5% (rote, gestrichelte Linie). Die Kerninflationsrate, welche die volatilen Preise für Energie und Lebensmittel herausrechnet, liegt in der Eurozone seit geraumer Zeit unter 1% (blaue, gepunktete Linie). Dazu kommt, dass die Inflationserwartungen nach unten zeigen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
Daten: Eurostat (Download am 2.10.2015) © A&W Blog
Daten: Eurostat (Download am 2.10.2015)

Die fallenden Inflationserwartungen nähren Sorgen, dass die Inflation über einen langen Zeitraum äußerst niedrig ausfallen und den Euroraum in eine Stagnationsphase zwingen könnte. Dies wäre angesichts einer bei etwa 11% verharrenden Arbeitslosenrate im Euroraum und hoher Schuldenstände äußerst problematisch. In dieser kritischen wirtschaftlichen Situation ist die Handlungsfähigkeit der EZB jedoch durch die Nulluntergrenze für Nominalzinsen beschränkt. Die Leitzinsen liegen seit September 2014 bei 0,05% und können damit nicht weiter abgesenkt werden, um Wirtschaftswachstum und Beschäftigung anzukurbeln.

Vor dem Hintergrund des weiter zunehmenden deflationären Drucks brachte die EZB am 22.1.2015 ein Ankaufprogramm von Staatsanleihen und anderen Wertpapieren auf den Weg, das unter „Quantitative Easing“ (QE) firmiert. Das Gesamtvolumen dieses Programms beträgt monatlich 60 Mrd. Euro und läuft vorläufig bis Ende September 2016. EZB-Präsident Mario Draghi betonte jedoch, dass der Anleihenankauf fortgesetzt werde, bis sich eine nachhaltige Anpassung der Inflationsentwicklung in Richtung des Preisstabilitätsziels der EZB einstellt. Die Erfahrungen der letzten Monate machen deutlich, dass das QE-Programm bislang nicht dazu in der Lage war, Konjunktur und Inflation anzuheizen. Angesichts des nach wie vor bestehenden Deflationsdrucks wird innerhalb der EZB derzeit über eine Ausweitung des QE-Programmes diskutiert. Doch auch eine noch aggressivere Geldpolitik würde neuerlich daran scheitern, jene zugrundeliegenden makroökonomischen Probleme im Euroraum zu lösen, welche die viel zu niedrigen Inflationsraten verursachen. Warum ist das so?

Was kann Quantitative Easing bewirken – und was nicht?

Indem die EZB Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten kauft, druckt sie real kein Geld; sie schreibt den Geschäftsbanken vielmehr Zentralbankgeld auf deren Reservekonten gut, welche diese bei der EZB haben, um dort Einlagen – sogenannte Bankreserven – zu halten: Die Staatsanleihen, die sich zuvor im Besitz des Privatsektors befanden, werden durch den EZB-Ankauf in Bankreserven eingetauscht. Dadurch steigt die sogenannte Geldbasis, zu welcher der ganze Bestand an umlaufenden Banknoten und Münzen sowie die durch den Ankauf der Staatsanleihen ansteigenden Einlagen der Geschäftsbanken bei der EZB zählen.

Eine erhöhte Geldbasis bewirkt jedoch noch keinen wirtschaftlichen Aufschwung und Inflation; denn Bankreserven stehen nicht für Konsum und Investitionen zur Verfügung. Die EZB setzt zwar darauf, dass die erhöhte Liquidität von den Geschäftsbanken für eine verstärkte Kreditvergabe an private Haushalte und Unternehmen genützt werden wird, sodass Konsum und Investitionen angekurbelt werden: Höhere Bankreserven würden – unter der Vorstellung eines „Geldschöpfungsmultiplikators“ – zu einem Vielfachen an privaten Krediten führen. Tatsächlich kann eine Zentralbank jedoch die Kreditvergabe an den Privatsektor und die Geldmenge – definiert als Geldbestand in den Händen von Nicht-Banken – nicht nach ihrem Belieben steuern; der Geldschöpfungsmultiplikator funktioniert nicht.

Folgt man dem Ökonomen Richard Koo, dann lassen sich die hartnäckigen gesamtwirtschaftlichen Probleme in der Eurozone nur dadurch verstehen, dass sich mehrere Länder – Spanien, Irland, Portugal und Italien – in einer Bilanzrezession befinden. Eine Bilanzrezession ist eine besondere Art von Rezession, in der die Bilanzen des Privatsektors nach dem Platzen einer Vermögensblase – wie den Häuserpreisblasen in Spanien und Irland – unter Wasser stehen, da die Vermögenswerte stark fallen, während die Verbindlichkeiten weiter bedient werden müssen. In einer solchen Situation sehen sich Unternehmen und Haushalte gezwungen, ihre Schulden abzubauen und zu sparen, um ihre Bilanzen sanieren zu können. Dieser Entschuldungsprozess führt dazu, dass der Privatsektor seine Ausgaben massiv zurückfährt und die Kreditnachfrage – trotz niedriger Zinsen und extrem günstiger Finanzierungsbedingungen – äußerst verhalten bleibt.

Geldpolitik ist unter diesen Rahmenbedingungen ineffektiv, wenn nicht die zuständigen Regierungen über defizitfinanzierte Staatsausgaben die durch den Schuldenabbau im Privatsektor entstehenden Nachfragelücken schließen, bis der Privatsektor den Schuldenabbau abgeschlossen hat und bereit ist, seine Kreditnachfrage zu erhöhen. Eine Ausweitung der Geldbasis durch den Ankauf von Staatsanleihen muss hinsichtlich der Ankurbelung von Wirtschaft und Inflation ineffektiv bleiben, solange nicht gleichzeitig expansive Fiskalpolitik (also beispielsweise staatliche Investitionen) betrieben wird, weil der Privatsektor in den von einer Bilanzrezession betroffenen Ländern gar nicht bereit ist, mehr Ausgaben zu tätigen.

Koo verweist darauf, dass nicht nur die Erwartungen in Bezug auf positive makroökonomische Effekte von QE niedrig anzusetzen sind; er diskutiert auch zwei zentrale, mit QE verbundene Risiken. Erstens, die Verstärkung von Finanzmarktinstabilitäten durch das aggressive Nach-unten-Drücken der langfristigen Zinsen: Eine Ausweitung der Geldbasis durch QE bedeutet, dass im Finanzsektor mehr Liquidität zur Spekulation bereit steht, während der Privatsektor (Nicht-Banken-Unternehmen und private Haushalte) Schuldenabbau betreibt, mit Ausgaben zurückhält und die Realwirtschaft in einer anhaltenden Krise feststeckt; dadurch besteht die Gefahr des Anheizens von Vermögenspreisblasen auf Aktien- und Immobilienmärkten. Zweitens sind erhebliche unerwünschte Komplikationen beim „Exit“ aus dem QE-Programm wahrscheinlich, da es für eine Zentralbank schwierig ist, die Liquidität zur richtigen Zeit – nämlich wenn die Sanierung der Bilanzen des Privatsektors abgeschlossen ist – wieder den Finanzmärkten zu entziehen, ohne dabei die wirtschaftliche Erholung durch einen Anstieg des langfristigen Zinsniveaus zu torpedieren.

Andere ÖkonomInnen sind bezüglich der Wirksamkeit von QE-Programmen mitunter viel weniger kritisch als Koo: Die Zentralbank müsse, ebenso wie die fiskalpolitischen VerantwortungsträgerInnen, alles in ihrer Macht stehende tun, um die Erwartungen der WirtschaftsteilnehmerInnen positiv zu beeinflussen und dem Absacken der Inflationserwartungen entgegenzuwirken. KritikerInnen argumentieren, Koo unterschätze die positiven Effekte von QE – insbesondere vor dem Hintergrund der institutionellen und politischen Situation in der Eurozone, in der expansive Fiskalpolitik nicht als wirtschaftspolitisches Instrument zur Verfügung stehe; dies mache es umso wichtiger, dass die EZB alle Hebel in Bewegung setze, um ihre Handlungsfähigkeit angesichts des bereits bestehenden Deflationsdrucks unter Beweis zu stellen.

Koos kritische Position hat angesichts der vorherrschenden Ausrichtung in der europäischen Wirtschaftspolitik, welche der Geldpolitik völlig die Aufgabe der Konjunkturbelebung zuschreibt, jedoch erhebliches Gewicht: Wenn die Konjunktur keine wirtschaftspolitische Unterstützung durch expansive Fiskalpolitik erfährt, wird die aggressive Geldpolitik der Zentralbank nicht die erwünschte anhaltende Belebung der Wirtschaft bringen können; letztlich werden vielmehr die aus Instabilitäten auf den Finanzmärkten erwachsenden Verwerfungen schwerer wiegen als die begrenzten positiven QE-Wirkungen auf die Güter- und Arbeitsmärkte.

Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen

Nur ein lohn- und fiskalpolitischer Kurswechsel ermöglicht eine wirksame Bekämpfung der Spirale aus steigender Verschuldung und sinkender Inflation, die in der Eurozone bereits voll im Gang ist. Die EZB ist mit dieser Aufgabe überfordert, wenn sie auf sich alleine gestellt ist; eine Ausweitung des QE-Programmes würde keine effektive wirtschaftspolitische Lösung darstellen. Ein Kurswechsel zur Bekämpfung der Deflation müsste vielmehr konkret zwei Aspekte berücksichtigen: Erstens gilt es durch eine Abkehr von der Austeritätspolitik in den bereits unter Deflation leidenden Ländern in Südeuropa die Konsum- und Investitionsnachfrage anzuregen; auch der gezielten Lohnkürzungspolitik, welche die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zusätzlich schwächt, ist ein Ende zu bereiten.

Durch eine aktive Rolle der Fiskalpolitik ließen sich dort, wo der Privatsektor weiterhin mit dem Schuldenabbau beschäftigt ist, die durch den Entschuldungsprozess entstehenden, deflationären Nachfragelücken reduzieren. Dies würde Wachstum und Beschäftigung stärken und den Deflationskräften entgegenwirken. Zweitens müssten jene Eurozonenländer, deren wirtschaftspolitischer Spielraum größer ist – Deutschland, Österreich und andere sogenannte Kernländer – durch eine kräftige Ausweitung der öffentlichen Investitionen und höhere Lohnabschlüsse dazu beitragen, dass die Nachfrage angekurbelt, die bestehenden Ungleichgewichte im Euroraum abgebaut und die Deflationsverzerrungen in der Eurozone korrigiert werden.