CETA: Ein Dammbruch mit Vorsatz

04. Oktober 2016

Bei CETA geht es nur zweitrangig um Kanada. Denn – soweit sind sich BefürworterInnen und GegnerInnen einig – mit der CETA-Debatte wird die Zukunft der europäischen Handelspolitik bestimmt. Während die nächsten Abkommen schon in den Startlöchern stehen, sind die Folgen für staatliche Handlungsfähigkeit möglicherweise verheerend.

Die zuständige EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström hat es leicht, wenn sie sagt „Wer sollte mit uns Handel treiben, wenn wir nicht einmal mit Kanada ein Abkommen zustande bekommen?“ Denn Kanada, das ist das Land der Elche, Mounties und Ahornblätter und nicht jenes des Raubtierkapitalismus und der Billigprodukte. Doch der Eindruck täuscht: CETA ist das erste Abkommen der neuen Generation, das radikal mit (mehr oder weniger) bewährten Praktiken der alten Handelspolitik bricht – zu Gunsten multinationaler Konzerne und zu Lasten der Staaten. Sollte CETA tatsächlich zum Vorbild für weitere Abkommen werden, wäre es multinationalen Konzernen und ihren HelferInnen tatsächlich gelungen, den staatlichen Möglichkeiten, Fehlentwicklungen zu korrigieren, einen schweren Schlag zu versetzen.

Fortschritt – in die falsche Richtung

Wie ein roter Faden zieht es sich durch den Vertragstext: Staaten sollen freiwillig auf ihre Möglichkeiten verzichten, in Märkte einzugreifen. Dass damit auch die Möglichkeit zur Korrektur von Fehlentwicklungen sowie ein Verlust demokratischer Kontrolle einhergeht, hat der US-Ökonom Dani Rodrik in seinem Buch „Das Globalisierungs-Paradox“ als „Trilemma der Weltwirtschaft“ beschrieben (eine Rezension des Buches findet sich auf http://www.taz.de/!307136/). Freihandel, Demokratie und Nationalstaat – so Rodrik – vertragen sich nicht. Einer der drei muss den Kürzeren ziehen und das solle besser nicht Demokratie oder Nationalstaat sein, wenn allgemeiner Wohlstand erhalten bleiben soll. Danach sieht es aber ganz und gar nicht aus – im Gegenteil knabbert CETA massiv an staatlicher Regulierungsfähigkeit und Demokratie.

Wen schützt „Investitionsschutz“?

Die beachtlichste Neuerung in CETA ist, dass die Investitionsschutzbestimmungen erweitert und erstmalig mit einem Sanktions- und Durchsetzungsmechanismus – dem bekannten Investor-Staat-Streitverfahren ISDS bzw. ICS – ausgestattet werden. Bislang enthält noch kein einziges EU-Handelsabkommen einen solchen Mechanismus. Die EU-Kommission hat aber immer klar gemacht, dass sie diesen in Zukunft in alle Handelsabkommen aufnehmen möchte. So ist im fertig verhandelten, aber noch nicht unterzeichneten Abkommen mit Singapur bereits ISDS vorgesehen. TTIP soll ebenfalls solche Bestimmungen enthalten, genauso wie das Abkommen mit Japan. Mit China steht die EU-Kommission kurz davor, ebenfalls ein solches System zu verankern. Und mehrere Mitgliedstaaten fordern sogar, ISDS mit einem Spezialabkommen zwischen allen EU-Mitgliedstaaten einzurichten. Der Standard, den CETA etabliert, ist also eine Zweiklassenjustiz, in der man mit Geld schneller und leichter zu seinem Recht kommt. Dass das dem Grundgedanken der unabhängigen Justiz widerspricht, vor der alle gleich sind, scheint reine Nebensache (mehr zu ISDS hier: https://kontrast-blog.at/isds-grosse-beute-fuer-grosse-konzerne/ und zur Situation mit China hier: http://ccsi.columbia.edu/files/2015/02/No-140-Berger-and-Skovgaard-Poulsen-FINAL.pdf)

Die Auswirkungen solcher Streitverfahren auf staatliche Regulierung sind jedoch deutlich. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat es wie folgt auf den Punkt gebracht: „Das Motiv hinter ISDS ist der Wunsch, neue Finanzmarktregulierung, Umweltgesetze, ArbeitnehmerInnenschutz, und Nahrungs – und Gesundheitsstandards schwerer zu machen.“ (http://rooseveltinstitute.org/beware-tpps-investor-state-dispute-settlement-provision/). Gemeinhin wird dies als „chilling effect“ beschrieben: aus Angst vor einer Klage schrecken Staaten davor zurück, neue Regelungen zu treffen. Philipp Morris hat es mit seinen Klagen gegen Verpackungsvorschriften für Zigaretten vorgemacht. Der Ölkonzern Chevron hat diesen Grund sogar ausdrücklich in seiner Lobbyingarbeit für ISDS in TTIP gegenüber der EU-Kommission vorgebracht, wie Recherchen des britischen Guardian ergaben (https://www.theguardian.com/environment/2016/apr/26/ttip-chevron-lobbied-for-controversial-legal-right-as-environmental-deterrent): „Chevron argumentiert, dass die reine Existenz von ISDS wichtig ist, da es abschreckend wirkt“. Abgeschreckt werden wohl gemerkt Regelungen, mit denen Wohlstand und Gemeinwohl erhalten werden sollen. Zusammengefasst heißt das: ISDS ist für alle schlecht außer für Konzerne.

Daran ändern auch die verfahrensrechtlichen Verbesserungen nichts, die sich unter dem Titel „Investitionsgerichtssystem“ erstmals in CETA finden. ISDS ist damit zwar verglichen mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit sozusagen im 19. Jahrhundert angekommen, aber eben noch weit von echter unabhängiger Gerichtsbarkeit entfernt. Im Übrigen ist das materielle Schutzniveau durch die Reform unverändert geblieben, was sogar den als nicht besonders umstürzlerisch bekannten Deutschen Richterbund veranlasst hat, deutliche Kritik an ISDS in CETA zu üben (http://www.drb.de/fileadmin/docs/Stellungnahmen/2016/DRB_160201_Stn_Nr_04_Europaeisches_Investitionsgericht.pdf).

Von der Positiv- zur Negativliste

Auch in einem anderen Bereich bricht CETA die bestehende Praxis. Erstmals wird zur Umschreibung, welche Dienstleistungen zwingend liberalisiert sein müssen, eine sogenannte Negativliste verwendet. Dieses Unwort beschreibt eine 360-Grad-Wendung in der europäischen Handelspolitik: war es bisher die Regel, dass nur jene Dienstleistungen einer Liberalisierungspflicht unterliegen, die im Vertrag explizit aufgeführt sind, ist das bei CETA umgekehrt. Nur was explizit ausgenommen ist, muss nicht liberalisiert werden. Oder mit anderen Worten: “Das ist, als ob Sie in den Supermarkt gehen, und alles kaufen müssen, bis auf das, was auf Ihrer Liste steht – auch alles, was in Zukunft dort herein kommt.” (http://www.zdf.de/frontal-21/streit-um-freihandelsabkommen-ceta-risiken-fuer-den-mittelstand-45281648.html)

Der Negativlistenansatz fand sich auf Druck der USA erstmals im nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA. Auf multilateraler Ebene wurde er etwa für das WTO-Dienstleistungsabkommen GATS aber verworfen. Denn der Effekt der Negativliste ist klar: das Risiko zukünftiger Entwicklungen (etwa Veränderungen im Dienstleistungssektor) und jenes unbestimmter Rechtsbegriffe und Interpretationsspielräume wird von den Konzernen auf die Staaten verlagert. Letztere sitzen mit der Negativliste im Zweifel am kürzeren Ast, weil CETA gleichzeitig sogenannte Sperrklinken- sowie Stillstandsklauseln enthält: was einmal liberalisiert wurde, darf nie wieder beschränkt werden (das betrifft auch Liberalisierungen, die erst in Zukunft nach Abschluss von CETA vorgenommen werden – außer es gibt eben eine explizite Ausnahme). Unter CETA-VerhandlerInnen kursierte daher das Sprichwort „list it or lose it“ – „Nimm’s auf die Liste oder verliere es“. Der  Verband der europäischen Dienstleistungsunternehmen, dem u.a. die Deutsche Bank, Goldman Sachs und Microsoft angehören,  jubelte zu Beginn der CETA-Verhandlungen entsprechend laut: „Nach jahrelanger Fürsprache für dieses Konzept kann die Dienstleistungsbranche auf diese wichtige Entscheidung stolz sein.“

Bei genauerem Hinsehen auf die österreichischen Ausnahmen fällt entsprechend auf, dass z.B. zwarRechtsanwälte, Notare und Skischulen Ausnahmen haben. Zugleich fällt Österreich in sensiblen Bereichen hinter die Schutzniveaus anderer Staaten zurück: So hat Frankreich beispielsweise die Gestaltungsspielräume in der Energieversorgung umfassend mit einer Ausnahme abgesichert. Im Gegensatz zu Österreich hat sich Deutschland zudem neben der Abfallwirtschaft und Abwasserbehandlung gleich umfassende Ausnahmen für seine Sozial— und Gesundheitsdienstleistungen eintragen lassen, da es den schwammigen EU-Ausnahmen (wie etwa der sog. „public utilities“ – Klausel) offenbar misstraut. Das sollte auch bedacht werden, wenn deutsche RegierungsvertreterInnen davon sprechen, dass in Deutschland keine Liberalisierungspflicht für diese Dienstleistungen herrscht.

Daran, dass die Negativliste der Standard für die EU-Handelspolitik der Zukunft werden soll, lässt die EU-Kommission keinen Zweifel: bereits jetzt hat sie die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre Ausnahmen für zukünftige Verhandlungen einzumelden und idealerweise auch gleich zu reduzieren. Auch das neue multilaterale Dienstleistungsabkommen TiSA verfolgt für bestimmte Teile des Abkommens einen Negativlistenansatz.

Mit CETA wird also auch im Bereich der Daseinsvorsorge ein Standard gesetzt, der Profitorientierung sogar in sensiblen Bereichen wie Sozialem und Gesundheit systematisch besser stellt als Gemeinwohlziele und dies in Kombination mit ISDS auch erstmals entgegen nationalen Gesetzen rechtlich durchsetzbar macht.

Doppelstandard bei Gemeinwohlzielen

Die Unterordnung von gesellschaftlichen Gemeinwohlzielen wie ArbeitnehmerInnenschutz, Umweltschutz, Bekämpfung des Klimawandels, etc. unter Profitinteressen lässt sich auch in einem anderen Teil von CETA beobachten. Zwar enthalten sowohl CETA als auch die meisten anderen EU-Handelsabkommen mittlerweile Kapitel zu diesen Themen, die im Handelsjargon als „Bestimmungen über nachhaltige Entwicklung“ bezeichnet werden. CETA hat auch ein eigenes Arbeits- und Umweltkapitel. Darin finden sich Absichtserklärungen, etwa die ILO-Kernarbeitsnormen zu ratifizieren oder Handelsvorteile durch Lohndumping zu unterlassen. Auch wenn es gut ist, dass sich die EU und Kanada darauf einigen können, die Abschaffung von Zwangsarbeit und Kinderarbeit sowie das Bekenntnis zur gewerkschaftlichen Versammlungsfreiheit gut zu finden, muss die Frage gestellt werden, ob das tatsächlich der Standard sein soll, den die EU und Kanada im globalen Handel setzen wollen. Denn die große Achillesferse dieser ohnehin unambitionierten Bekenntnise ist, dass sie nicht durchsetzbar sind. Zwar existiert ein Konsultationsmechanismus. An dessen Ende steht aber nicht ein direkt sanktionierbares Urteil eines Tribunals wie bei ISDS, sondern eine unverbindliche Empfehlung an einen gemischten Ausschuss der Vertragsparteien mit der Zusage, über diese Empfehlung auch tatsächlich zu reden.

Tatsächlich lässt sich Zynismus an dieser Stelle schwer vermeiden, vor allem wenn man die CETA-Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung mit jenen des transpazifischen Abkommens TPP vergleicht, dem Kanada ebenfalls beitreten will. Dort sind Verstöße gegen das Nachhaltigkeitskapitel mit Verstößen etwa gegen Marktöffnungspflichten gleichgestellt und auch mit Strafzöllen durchsetzbar. Außerdem wurden für mehrere an TPP beteiligte Länder gleichzeitig mit dem Vertrag Reformpläne vereinbart, die die Verbesserung von Arbeitsschutzstandards, die Einführung von Mindestlöhnen und vieles mehr zum Inhalt haben. Wer die Pläne nicht einhält, verliert auch seine Zollbefreiungen. Will die EU also wirklich Standards setzen, dann sollte sie sich an den besten bestehenden Regelungen orientieren. CETA fällt hier ganz klar durch.

Viel zu verlieren, aber wenig zu gewinnen

CETA ist im Vergleich zu anderen Abkommen, die die EU bisher abgeschlossen hat, mit Sicherheit ein gutes Abkommen. Doch wenn die Inhalte von CETA tatsächlich Standards für die Zukunft setzen sollen, dann muss CETA noch deutlich nachgebessert werden. Denn wenn – um wieder auf Malmström zurückzukommen – die EU und Kanada sich nicht darauf einigen können oder wollen, staatliche Handlungsspielräume zu erhalten und Gemeinwohlziele über Profitinteressen zu stellen, wer soll es dann können?