BÜRGERiNNENBETEILIGUNG – brauchen wir alle?

05. April 2013

Politikverdruss, sinkende Wahlbeteiligung und der Bedeutungsverlust der Großparteien dienen als Anlass um die Belebung der Demokratie zu versuchen. Beteiligung der BürgerInnen ist hier hoch im Kurs, neben Wahlen werden Volksbefragungen durchgeführt und Meinungen in Partizipationsprozessen eingeholt. Ein beunruhigender Trend ist die abnehmende Beteiligung Einkommensschwacher.

Sinkende Wahlbeteiligung – ein alarmierendes Zeichen

Anlass zur Sorge ist für manche der Rückgang der Wahlbeteiligung. Wahlen sind jenes Mittel der demokratischen Mitgestaltung, das institutionell am weitverbreitetsten genutzt wird. Die Wahlbeteiligung geht seit den 1980er Jahren in europäischen Ländern kontinuierlich zurück. Allein dieses Faktum ist noch kein Grund um das Ende der Demokratie auszurufen, da die Beteiligung durchschnittlich noch relativ hoch ist. Weitaus beunruhigender ist jedoch die Tatsache des kontinuierlichen Rückgangs der Wahlbeteiligung in Zusammenhang mit zunehmender sozialer Selektivität.

Es zeigt sich, dass die Wahlteilnahme mit Bildungsabschluss und Einkommen zusammenhängt. Die Gruppe der NichtwählerInnen innerhalb sozial benachteiligter Bevölkerungsschichten ist somit besonders groß. Mit dem Rückgang der Wahlbeteiligung wird auch der Anteil der Ausgeschlossenen größer die weniger gebildet sind und über ein geringeres Einkommen verfügen. Kurzum, die unteren Schichten sind davon bedroht im Wahlsystem signifikant unterrepräsentiert zu sein.

Hand in Hand mit der sinkenden Wahlbeteiligung geht die Erosion der Großparteien und zunehmende Unzufriedenheit mit dem politischen System. Obwohl nicht alle die Meinung teilen, dass sich die Demokratie in einer Krise befindet, so setzt sich doch der Eindruck fest, dass verschiedene AkteurInnen Handlungsbedarf in demokratischen Fragen sehen.

Demokratische Innovationen – Wagen wir mehr Demokratie?

Nicht zuletzt die Ebene der Politik versucht auf verschiedenen Wegen eine Belebung der Demokratie. Besonders hohe Konjunktur haben heute Formen der Mitgestaltung die meist mit den Begriffen Partizipation oder BürgerInnenbeteiligung betitelt werden. Im wissenschaftlichen Diskurs taucht hier des Öfteren der Begriff der demokratischen Innovationen auf. Brigitte Geißel versteht darunter neue Institutionen und Praktiken die zum Zweck der Belebung und der qualitativen Verbesserung der Demokratie eingeführt werden. Es lassen sich drei wesentliche Bereiche identifizieren die seit den 1990er Jahren auf lokaler Ebene zugenommen haben. Erstens Elemente direkter Demokratie, zweitens die direkte Beteiligung von BürgerInnen an der Entscheidungsfindung (Co-Governance Verfahren wie z.B.: Bürgerhaushalt) und drittens Formen der Beteiligung die meist konsultativen, informellen Charakter haben (deliberative Verfahren wie z.B.: Agenda 21 Prozesse).

Die Hoffnungen und Versprechen dieser neuen Verfahren scheinen mitunter darin zu liegen, wachsender Politikverdrossenheit und dem Vertrauensverlust in das politische System entgegen wirken zu können. Eine Studie von Armin Schäfer belegt jedoch, dass Einkommen und Bildung das Interesse an Politik, die Zufriedenheit mit der Demokratie, wählen und die Teilnahme an unkonventionelle Beteiligungsformen beeinflussen. Menschen mit hoher sozioökonomischer Ressourcenausstattung partizipieren mehr als andere Bevölkerungsgruppen. Besonders im Rahmen neuer Formen der BürgerInnenbeteiligung engagieren sich überwiegend Besserverdienende mit hoher Bildung, die Interessen ausgegrenzter Gruppen bleiben außen vor.

Ein besorgniserregendes Beispiel stellt in diesem Zusammenhang die Hamburger Schulreform dar, die im Hamburger Schulstreit endete. Die schwarz-grüne Koalition plante eine Schulreform die mitunter die Einführung einer sechsjährigen Primarschule (und die Abschaffung der vierjährigen Grundschule) umfasste. Diese Reform sollte besonders Kindern aus bildungsfernen Schichten zugutekommen und Selektionsmechanismen im Schulsystem entgegen wirken. Gegen die geplante Reform formierte sich die BürgerInneninitiative „Wir wollen lernen“. In Folge kam es am 18. Juli 2010 zu einem Volksentscheid.  An diesem beteiligen sich 39% der Wahlberechtigten, davon stimmen 54% gegen die geplante Reform. Es zeigte sich, dass die Beteiligung in Stadtteilen mit hohem Einkommen und niedriger Arbeitslosigkeit deutlich höher lag als in Gebieten mit hohem AusländerInnenanteil, niedrigeren Einkommen und hoher Arbeitslosigkeit. Hier steht die Befürchtung im Raum, dass die Bürgerschaft eine Reform verhinderte die eine gerechtere Verteilung der Bildungschancen, unabhängig von Herkunft, Ausbildung der Eltern oder Einkommen zum Ziel hatte.

Politische Gleichheit und soziale Ungleichheit

Politische Gleichheit ist ein grundlegendes Prinzip demokratischer Gesellschaften, in diesem vereinen sich zwei zentrale Hoffnungen. Erstens das Prinzip der politischen Gleichheit in Form der gleichen Teilnahme am demokratischen Prozess. Damit verwoben ist zweitens das Prinzip der sozialen Gleichheit, dieser Bereich der Egalität betrifft die Angleichung der Lebensverhältnisse.

In repräsentativen Demokratien ist das Prinzip der politischen Gleichheit mit der Vertretung der eigenen Interessen verbunden. Daraus resultiert wiederum die Erwartung der Angleichung der Lebensverhältnisse. Ich wähle eine Partei, deren Programm und die daraus resultierende Politik im Sinne meiner Interessen. Plakativ gesprochen bedeutet das, die an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Gruppen erwarten politisches Handeln im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit.

Sinkende Wahlbeteiligung wirkt sich nicht nur auf das Wahlergebnis aus, wesentlich davon betroffen ist auch das Moment der Repräsentation. Gerade jene Gruppen die auf eine ausgleichende, soziale und gerechte Politik angewiesen sind, wählen weniger oft und sind damit zu geringerem Anteil im Fokus der Parteipolitik. Hier besteht die große Gefahr, dass ihre Interessen in den Hintergrund rücken und politisches Handeln im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit weiter abnimmt. Die Hoffnung, dass sinkende Wahlbeteiligung und Politikverdrossenheit ausschließlich mit sogenannten demokratischen Innovationen kompensiert werden können, scheint nicht haltbar.

Während Wählen jenes demokratische Instrument ist, das bis dato am wenigsten sozial verzerrt ist, zeigt sich im Bereich der demokratischen Innovationen ein anderes Bild. Untere soziale Schichten sind in neuen Beteiligungsverfahren eklatant unterrepräsentiert. Damit bleiben auch ihre Interessen ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund zunehmender Ungleichheit ist das ein alarmierendes Zeichen. Im schlechtesten Fall bedingt wachsende soziale Ungleichheit die Abnahme politischer Beteiligung. Dann scheinen zentrale Prinzipien die mit demokratischen Regierungsformen verbunden sind bedroht, und zwar im repräsentativen, direktdemokratischen und deliberativen Bereich. Vor diesem Hintergrund scheint es geboten soziale Ungleichheit zu bekämpfen und Bildung, Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft gerecht zu verteilen.

BürgerInnenbeteiligungsverfahren die sich  Demokratisierung zum Ziel setzten aber in elitären Beteiligungsstrukturen enden, sind höchst fragwürdige Entwicklungen. Demokratiereformen und Erneuerungsideen müssen darauf ausgerichtet sein gesellschaftlichen Spaltungstendenzen entgegen zu wirken und die gleiche Teilnahme aller zu ermöglichen.