BREXIT: Welche Folgen für britische Beschäftigte zu erwarten wären

22. Juni 2016

Morgen stimmt das Vereinigte Königreich über den BREXIT ab. Die britischen ArbeitnehmerInnen haben dabei gute Gründe für einen Verbleib bei der EU zu stimmen. Denn es sind gerade EU-Richtlinien, die die Rechte der britischen Beschäftigten unter anderem hinsichtlich Arbeitszeit, Urlaubsanspruch, Entgeltgleichheit oder Elternurlaub stärken. Darauf weist auch der britische Gewerkschaftsdachverband TUC hin. Ein Austritt bzw. BREXIT hingegen würde die im Vereinigten Königreich seit Jahren betriebene arbeitnehmerInnenfeindliche Politik nur noch weiter vorantreiben.

Die Arbeitsmarktpolitik hat sich in den EU-Mitgliedstaaten in den letzten Jahren nicht gerade vorteilhaft entwickelt. Weshalb sollten ArbeitnehmerInnen trotzdem für den Verbleib und gegen einen BREXIT stimmen? Gerade in den UK dürften die Chancen für einen Wandel zu einer ambitionierten Arbeitsmarktpolitik um einiges besser stehen, wenn die BritInnen für einen Verbleib von UK bei der EU stimmen. Dieses Argument lässt sich makroökonomisch klar argumentieren, wie im Folgenden dargelegt werden soll.

ArbeitnehmerInnenfeindliche Politik Großbritanniens

Einzelne EU-Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission haben lange Lohnzurückhaltung gepredigt. Sie haben sogar ausdrücklich empfohlen, die Steigerung der Reallöhne unterhalb der Produktivitätszuwächse zu halten. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Länder sollte damit erhöht werden. Diese Politik hat zu drei Jahrzehnten wachsender Ungleichheit geführt. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist gesunken und eine neue Klasse von Superreichen ist entstanden. Ein nachhaltiges Wachstumsmodell für Europa stellt diese Philosophie jedoch definitiv nicht dar. Dabei muss eines klar sein: Diese Politik wurde dem Vereinigten Königreich nicht durch die Europäische Kommission aufgezwungen. Vielmehr war das Vereinigte Königreich selbst der Motor für die arbeitnehmerInnenfeindliche Arbeitsmarktpolitik der Lohnmoderation und hat die Globalisierung als Vorwand zu deren Umsetzung und zur Begründung ihrer Alternativlosigkeit missbraucht.

Die Forschung zeigt, dass die zunehmende Ungleichheit und der abnehmende Anteil der Löhne zu einem schwächeren und weniger stabilen Wirtschaftswachstum geführt hat. In Großbritannien und der großen Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten führt ein sinkender Lohnanteil zu geringerem Wachstum, dies nennen wir lohnabhängiges Wachstum.

Im Vereinigten Königreich verschulden sich Haushalte verstärkt, um ihren Lebensstandard halten zu können. Denn die Löhne steigen nicht angemessen. Die Finanzkrise von 2007-2009 und die anschließende Rezession hat bewiesen, wie zerbrechlich dieses Modell ist. Die wirtschaftliche Erholung Großbritanniens steht nun auf den schwachen Füßen privater Schulden und nicht auf einer gesunden Lohnsteigerung.

Statt BREXIT: Wirtschaftswachstum durch höhere Löhne

Lohnsteigerungen würden nicht nur Wirtschaftsleistung und Beschäftigung verbessern, sondern auch das nicht nachhaltige Wachstum durch steigende Verschuldung beseitigen. Höhere Löhne und eine arbeitnehmerInnenfreundliche Politik können in einem großen Land mit einem bedeutenden Binnenmarkt wie dem Vereinigten Königreich auch dann einseitig umgesetzt werden, wenn der Rest Europas oder der Welt seine Politik der Lohnmoderation nicht ändert.

Denn das Vereinigte Königreich ist eine Wirtschaft mit lohnabhängigem Wachstum. Würde dies das problematische Handelsbilanzdefizit nicht weiter verschärfen? Nicht wesentlich; Lohnsteigerungen haben nur eine geringe Auswirkung auf das Handelsbilanzdefizit. Wir schätzen, dass eine Steigerung des Lohnanteils um einen Prozentpunkt das Handelsbilanzdefizit im Verhältnis zum BIP lediglich um 0,19 % erhöhen würde. Außerdem ist ein Handelsungleichgewicht ein strukturelles Problem. Es muss durch industriepolitische Maßnahmen gelöst werden und darf nicht als Argument gegen eine gerechtere Verteilungspolitik ins Feld geführt werden.

EU-Mitgliedschaft bringt mehr Spielraum

Aber was, wenn unsere HandelspartnerInnen den Lohnanteil weiter drücken und so ihre aggressive Politik des Lohnwettbewerbs fortsetzen? Die Antwort lautet, dass eine lohnabhängige Wirtschaft wie die britische auch dann einen gewissen Spielraum hat, wenn ihre Nachbarn ihre Probleme auf das Vereinigte Königreich abwälzen. Allerdings ist dieser Spielraum wesentlich enger, wenn der Unterbietungswettlauf fortgesetzt wird und das übrige Europa diese arbeitnehmerfreundliche Politik nicht übernimmt.

Aus diesem Grund sollte das Vereinigte Königreich in der EU bleiben und sich dafür einsetzen, eine ambitionierte Wirtschafts- und Lohnpolitik auf alle ArbeitnehmerInnen auszuweiten. Auf der Plusseite wären die Auswirkungen einer arbeitnehmerInnenfreundlichen Politik wesentlich stärker, wenn diese europaweit umgesetzt würde. Eine Erhöhung des Lohnanteils um ein Prozent in der gesamten EU würde das britische BIP um 0,2 % erhöhen. Dies ist beinahe das Doppelte der Steigerung, die erzielt werden könnte, als wenn das Vereinigte Königreich diese Politik allein umsetzen müsste. Lohnsteigerungen führen außerdem zu steigender Nachfrage und damit zu mehr privaten Investitionen. Die negativen Folgen für die Handelsbilanz würden geringer ausfallen, wenn auch unsere HandelspartnerInnen eine Politik steigender Löhne und der dadurch ausgelösten zusätzlichen Nachfrage verfolgen würden.

UK: Seit 2010 Politik der niedrigen Löhne und der prekären Arbeitsverhältnisse

Die EU-Mitgliedschaft sollte als Möglichkeit betrachtet werden, Spielräume zu vergrößern. Jede Chance sollte genutzt werden, um die Zusammenarbeit arbeitnehmerInnenfreundlicher Kräfte zu verbessern. Mit einer ambitionierten Arbeitsmarktpolitik Großbritanniens in der EU könnten die europäischen EntscheidungsträgerInnen von ihrer bisherigen Position der Lohnmoderation abgebracht werden. Das Vereinigte Königreich hat als großes Land gute Möglichkeiten, Europa zu beeinflussen. Nach der Finanzkrise im Jahr 2008 hat es diesen Einfluss genutzt, um Europa und die G20 zu gemeinsamen Anstrengungen zu bewegen, mit denen eine neue Weltwirtschaftskrise verhindert werden konnte. Seit 2010 jedoch befürwortet das Vereinigte Königreich im Namen der Flexibilität eine verheerende Sparpolitik, niedrige Löhne und prekäre Arbeitsverhältnisse. Jetzt sollten wir uns daran erinnern, dass progressiver Wandel im Vereinigten Königreich für Europa und die Welt Großes bewirken kann.

Es gibt starke empirische Beweise, die den Mythos widerlegen, dass im Zeitalter der Globalisierung eine arbeitnehmerInnenfreundliche Politik in Europa nicht möglich ist. Die EU als Ganzes ist stark genug, um eine egalitäre Wachstumsstrategie zu verfolgen. Sie würde von einer koordinierten Erhöhung des Lohnanteils profitieren. Daher können und müssen sich das Vereinigte Königreich und Europa dafür einsetzen, den weltweiten Absturz des Lohnanteils radikal umzukehren.

Die Absenkung des Lohnanteils war das gewollte Ergebnis einer Politik, die die Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen geschwächt, den Wohlfahrtsstaat beschnitten und den Finanzsektor weiter vorangetrieben hat. Die Kombination dieser Maßnahmen im Vereinigten Königreich und in Europa hat zu einem Teufelskreis aus Ungleichheit, chronisch schwacher Nachfrage, geringem Wachstum, verlangsamter Akkumulation und Produktivität sowie weniger und schlechteren Arbeitsplätzen geführt. Die empirischen Daten zeigen, dass dieser Teufelskreis nur mithilfe einer neuen Wirtschaftspolitik durchbrochen werden kann: Diese beruht auf einer koordinierten Kombination von Politiken, die sich aus einer auf Gleichheit abzielenden Entwicklung und öffentlichen Investitionen zusammensetzt.

EU als Möglichkeit für eine freundlichere ArbeitnehmerInnenpolitik

Die Strategie einer lohnabhängigen Entwicklung erfordert eine Arbeitsmarktpolitik, die auf Vorverteilung und Umverteilung abzielt. Dazu gehört ua die Stärkung der Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen und eine möglichst breite Geltung von Tarifverträgen. Auch die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf das Existenzminimum und die Gleichstellung von Frauen und Männern muss vorangetrieben werden. Die Einführung und Durchsetzung von Lohnquoten zur Minderung des Lohngefälles sind dabei weitere Ziele. Die Wiederherstellung eines progressiven Steuersystems und ein Ende des Lohnstopps im öffentlichen Sektor muss ebenso angestrebt werden. Diese Politik der Einkommensumverteilung muss außerdem in eine breitere Mischung gesamtwirtschaftlicher und industriepolitischer Maßnahmen eingebettet sein, die Gleichheit, Vollbeschäftigung und ökologische Nachhaltigkeit zum Ziel haben. Dazu muss der Finanzsektor reguliert und ein öffentliches Investitionsprogramm umgesetzt werden. Umfangreiche öffentliche Investitionen insbesondere in Infrastruktur für erneuerbare Energien, öffentliche Verkehrsmittel und Wohnraum sowie soziale Infrastruktur (Pflege-, Bildungs- und Gesundheitswesen) sind anzustreben.

Die Arbeitsmarktpolitik ist nicht der einzige Bereich, bei dem es den britischen ArbeitnehmerInnen in der EU besser geht als außerhalb der EU. Denn als Teil der EU ist es wesentlich einfacher sich für eine Regulierung der Finanzbranche, Steuerkoordination  und koordinierte Investitionspolitik einzusetzen. Es gibt daher eine Vielzahl von Gründen, warum für die BritInnen ein Verbleib bei der EU besser wäre, als ein BREXIT.