Geschäftliche Verflechtungen großer Unternehmen und Konzerne sind oft schwierig zu überblicken, haben aber meist weitreichende Folgen für die sogenannten Stakeholder. Umso wichtiger ist daher die gewissenhafte Kontrolle von Vorstandsentscheidungen durch Aufsichtsräte. Mehrere empirische Untersuchungen – und eine Reihe von Unternehmensskandalen – zeigen klar: Aufsichtsräte, in denen die Vertreter:innen der Belegschaft mitwirken, führen zu zahlreichen positiven Ergebnissen. Und zwar für die Beschäftigten und das Unternehmen, aber auch für uns alle.
Aufsichtsräte ohne Mitbestimmung: Diversität und Ausgewogenheit fehlen häufig
Im September 2020 traf der Oberste Gerichtshof (OGH) eine Entscheidung, mit der drei Aufsichtsratsmitglieder zu jeweils rund 100.000 Euro Schadenersatz samt Verfahrenskosten verurteilt wurden. Es handelte sich um das Kontrollorgan der E* Aktiengesellschaft, die im Mehrheitsbesitz einer „Eigentümerfamilie“ gestanden war. Betriebsrät:innen – und damit Arbeitnehmervertreter:innen im Aufsichtsorgan – hatte es, wie so oft bei patriarchalisch geführten Unternehmen, nicht gegeben. Damit erinnert die Causa an die aktuellen Aufsichtsskandalfälle Wirecard und Commerzialbank Mattersburg, wo ebenfalls jegliche Belegschaftsmitbestimmung im Aufsichtsrat vermieden oder, rechtlich genauer, umgangen worden war. Im erstgenannten Fall juridisch-trickreich, im letzteren rustikal-plump.
Die Verurteilung zur Schadenshaftung erfolgte, weil der Aufsichtsrat sorgfaltswidrig ein Darlehen an die Muttergesellschaft genehmigte. Trotz „angespannter Liquiditätslage“ der E* AG segnete der Aufsichtsrat den Kredit an die konzerninterne Darlehensnehmerin ab, die „über praktisch keine Einnahmen aus dem operativen Geschäft verfügte“, so der OGH wörtlich.
Dem Kontrollgremium gehörten lediglich ein Bundesfunktionär einer politischen Partei Österreichs, ein Landesfunktionär derselben Partei sowie „der Sohn“ der Hauptaktionärsfamilie an. Dabei legen das Aktiengesetz und das GmbH-Gesetz seit fast 20 Jahren fachliche und persönliche Qualifikations- und Diversitätsanforderungen an das Kontrollorgan fest, nämlich „im Hinblick auf die Struktur und das Geschäftsfeld der Gesellschaft fachlich ausgewogen“ zusammengesetzt zu sein (§ 87 AktG, § 30b GmbH-Gesetz). Von Letzterem kann bei dem chemisch-technischen Treibstoffkomponentenerzeuger E* AG wohl keine Rede sein.
Zielt der Vorstand nur auf kurzfristigen Gewinn ab, widerspricht das dem Gesetz
Auch für die Vorstandsmitglieder bzw. Geschäftsführer:innen, die der Aufsichtsrat zu überwachen hat, gibt es gesetzliche Vorgaben. Diese müssen gemäß § 70 Abs. 1 des Aktiengesetzes das Unternehmenswohl unter Berücksichtigung der Interessen von Gesellschafter:innen, Arbeitnehmer:innen und der Volkswirtschaft („Berücksichtigung des öffentlichen Interesses“) beachten. Und dieses „Wohl“, in der Literatur einhellig als Sicherung des Fortbestands der Gesellschaft verstanden, hat sich wiederum am Zweck und Gegenstand des Unternehmens zu orientieren. Der Vorstand darf daher nicht ausschließlich kurzfristig orientierte Entscheidungen treffen, wie folgender Auszug aus einem Gesetzeskommentar argumentiert: „Die kurzfristige Gewinnmaximierung ist von der dauerhaften Rentabilität zu unterscheiden und kann nicht aus § 70 Abs 1 AktG als allgemeine Zielvorgabe abgeleitet werden. Pflichtwidrig handelt daher der Vorstand, wenn er ausschließlich kurzfristige Gewinnmaximierungen und Ergebnisverbesserungen verfolgt, […] zugleich aber – langfristig gesehen – mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende größere Schäden für die Rentabilität des Unternehmens verursacht“ (Reich-Rohrwig in Artmann/Karollus, AktG, Band II, 6. Aufl., Rz 91 ff zu § 70).
Und auch die Mitglieder des Aufsichtsrats sind gesetzlich daran gebunden, das öffentliche Interesse und jene der Beschäftigten zu berücksichtigen, wie der OGH in der gegenständlichen Entscheidung festhält:
„Unternehmerische Entscheidungen der Aufsichtsratsmitglieder haben sich – unter Berücksichtigung der Interessen der Aktionäre und der Arbeitnehmer und des öffentlichen Interesses – primär am Unternehmenswohl zu orientieren.“
Veranlagungs-, Beteiligungs- oder Kreditgeschäfte, die mit dem eigentlichen Unternehmensgegenstand kaum noch etwas zu tun haben, werden bei Management-Boards (Geschäftsführung und Aufsichtsrat) ohne Arbeitnehmer:innenbeteiligung vermutlich leichter, jedenfalls aber intransparenter durchführbar sein. Für Gläubiger:innen und Lieferant:innen, ebenso wie für Kund:innen kann das zu schweren Nachteilen führen. Und nicht zuletzt für die Sicherheit der Arbeitsplätze kann eine kurzfristige Gewinnmaximierungsstrategie desaströs wirken; an die eingangs erwähnten Skandalfälle der letzten Zeit sei nochmals erinnert.
Mitbestimmung hebt die Diversität und Qualität der Unternehmensführung
Welche positiven Effekte die Mitwirkung von Vertreter:innen der Beschäftigten im Aufsichtsrat haben können, zeigen eine Reihe von juristischen Kommentaren und empirischen Studien. Bei konstruktiver Ausübung der Mitwirkungsrechte können die Belegschaftsvertreter:innen eine wirkliche Bereicherung für das Überwachungsgremium darstellen, da sie (1.) eine Fülle von wichtigen Beobachtungen aus ihrem Arbeitsalltag einbringen und (2.) die tatsächliche Umsetzung von Aufsichtsratsbeschlüssen im Unternehmen überwachen können, wie ein Fachkommentar von Gahleitner anmerkt.
Die Belegschaftsvertreter:innen trifft nicht nur das Recht und die Verpflichtung, Arbeitnehmer:inneninteressen im Rahmen ihrer Aufsichtsratsaktivitäten zu verfolgen, sondern auch die Pflicht, ihr betriebliches Know-how einzubringen. Sie sind im Regelfall mehr als jede:r Kapitalvertreter:in in den täglichen Betriebsablauf eingebunden und – anders als die Kapitalvertreter:innen, die ja laut Gesetz nicht Angestellte der Gesellschaft sein dürfen – als Einzige in der Lage, betriebsinternes Wissen und Erfahrung mit den internen Abläufen einzubringen.
Dass ein mitbestimmter Aufsichtsrat zu valideren Unternehmenskennzahlen und Bilanzen führt, hat unter anderem eine 2020 veröffentlichte Studie zweier Wirtschaftswissenschafter der Universität Duisburg-Essen ergeben. Die Ergebnisse werden in der Zusammenfassung der Studie wie folgt dargestellt:
1. „Unternehmen mit starker Mitbestimmung betreiben deutlich seltener Steuervermeidung. Sie zahlen im Durchschnitt 4 Prozentpunkte mehr Steuern auf den erwirtschafteten Gewinn.“
2. „Je stärker die Mitbestimmung im Unternehmen verankert ist, desto seltener werden Bilanzierungsspielräume ausgenutzt. Hingegen reizen Unternehmen mit schwacher Mitbestimmung Bilanzierungsspielräume häufig aus, um ihre wirtschaftliche Lage besser darzustellen, als sie tatsächlich ist.“
3. „Mitbestimmung trägt zu einer verantwortungsbewussten und weitsichtigen Unternehmensführung bei. Unternehmen mit aggressiver Finanzberichterstattung weisen zwar kurzfristig eine höhere Performanz auf, schneiden jedoch langfristig schlechter ab.“
Auch eine Studie der Wiener Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) aus dem Jahr 2019 enthält einige Ergebnisse zur ausgewogeneren Berücksichtigung der Interessen mehrerer Akteure. Mitbestimmung trägt dazu bei, die Perspektive von der vorrangigen oder gar ausschließlichen Orientierung am Shareholder-Value (d. h. an den Interessen der Aktionär:innen) abzuwenden und auf den sogenannten Stakeholder-Value auszurichten, der auch die Arbeitnehmer:innen, Gläubiger:innen, Abnehmer:innen, Lieferant:innen usw. im Fokus hat. Insbesondere konnten im Aufsichtsrat Maßnahmen festgelegt werden, welche die Fluktuationsrate senken oder Motivationsprobleme in der Belegschaft reduzieren konnten, wie die Studie auf der Basis von Befragungen von Betriebsrät:innen in Aufsichtsräten zeigt.
Anke Hassel und Nicole Helmerich wiesen 2017 in ihrer Untersuchung „Worker’s Voice in the 100 largest European companies“ nach, dass aufsichtsratsmitbestimmte Unternehmen eine bessere „Corporate Governance“ haben. Dies zeigt sich in „moderateren“ Spitzeneinkommen der Führungsebene, in höheren Marktbewertungen der Unternehmen sowie in vergleichsweise höheren Einkommen der Beschäftigten.
Auch das Gleichstellungsgesetz von Frauen und Männern im Aufsichtsrat wurde unter anderem auf der Grundlage von Studien beschlossen, die belegen, dass Diversität im Aufsichtsrat nicht nur durch die größere Vielfalt der Fähigkeiten, Perspektiven und Ideen zu einer Erweiterung der Ressourcen führt, sondern dass zudem durch geschlechterspezifische Verhaltensunterschiede eine Stärkung der „Corporate Governance“ erreicht werden könne (parlamentarischer Ausschussbericht 2017, Zl. 1742 BlgNR 25. GP 2).
Menschenwürdige Arbeit durch Mitbestimmung
Menschenwürdige Arbeit und humane Arbeitsplätze („decent work“, ein Hauptziel der Internationalen Arbeitsorganisation [ILO]) können nur verwirklicht werden, wenn die Beschäftigten nicht bloß das Objekt („verdinglicht“) von Unternehmensentscheidungen sind. Der humanistische Ansatz des Arbeitsverfassungsgesetzes (ArbVG) (siehe dazu den Beitrag von Felten im Band „Betriebsrat und Information“) gebietet es, die Arbeitnehmer:innen als Menschen und nicht als betriebswirtschaftliche Faktoren oder gar nur als Produktionsmittel wahrzunehmen. Die Mitwirkung durch demokratisch gewählte Belegschaftsrepräsentant:innen in jenem Gesellschaftsorgan, das die Unternehmensleitung überwacht und strategisch berät, ist von hoher Bedeutung für die Verwirklichung dieses humanistischen Ziels. Zugleich ist sie ein gewichtiger Faktor zur Umsetzung von Vielfalt und unternehmensinterner Kenntnisbreite im Aufsichtsrat.
Wie empirische Untersuchungen zeigen, kann die Aufsichtsratsmitbestimmung in aller Regel zu einem kritischen Ausbalancieren der vielfältigen Stakeholder-Interessen beitragen, also zur wechselseitigen Berücksichtigung sämtlicher in § 70 Abs. 1 AktG genannten Ziele und Interessen: dem Fortbestand des Unternehmens, den Interessen der Gesellschafter:innen – und nicht zuletzt jenen der Arbeitnehmer:innen und der gesamten Gesellschaft.
Dieser Text basiert auf einem Artikel des Autors in der Zeitschrift DRdA infas 4/2021.
Übrigens: Wie sich Arbeitnehmervertreter:innen im Aufsichtsrat Gehör verschaffen können, wird unter anderem in den Seminaren des Instituts für Aufsichtsrat-Mitbestimmung (IFAM) von VÖGB und AK geschult.