Die EU-Kommission unter Jean Claude Juncker hat eine „gemeinsame Energieunion“ als eine ihrer obersten Prioritäten deklariert. Dem Grunde nach handelt es sich allerdings um keine Neuausrichtung, sondern sie vereint die bisherigen Vorhaben, die in den Bereichen Klimaschutz, Energieversorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit bis 2030 erfüllt werden sollen – unter dem gemeinsamen Dach der „Energieunion“.
Auf politischer Ebene wurde die grundsätzliche Ausrichtung der Klima- und energiepolitischen Ziele in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 24. Oktober 2014 festgelegt: Die verbindliche Reduzierung der EU-Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40% im Vergleich zu 1990; die Deckung von mindestens 27% des Energieverbrauchs aus erneuerbaren Quellen; die Steigerung der Energieeffizienz um 27% sowie die Vollendung des Energiebinnenmarkts durch Erreichen des 10%-Mindestziels für den aktuellen Stromverbund.
Das 4. Energiebinnemarktpaket?
Im Juli dieses Jahres veröffentlichte die EU-Kommission das „Sommerpaket“, das einige Konkretisierungen zur Energieunion enthält. Das zentrale Dokument in diesem Paket ist die Mitteilung der EU-Kommission zur Umgestaltung des Energiemarktes, auch bekannt als „Energiemarktdesign“. Allerdings steckt weniger „drin, als drauf steht“: Im Mittelpunkt steht die Umgestaltung des EU-Stromsystems maximal das “Strommarktdesign”. Angesichts der Herausforderungen auf dem Strommarkt – allen voran der massive Ausbau erneuerbarer, fluktuierenden Stromerzeugung, die wirtschaftlichen Turbulenzen, in denen sich die konventionellen Stromerzeuger befinden, und der enorme Investitionsbedarf in den Ausbau von Energieinfrastruktur – ein durchaus wichtiger Schritt. Das Paket der Kommission setzt drei Schwerpunkte: die Änderung des Marktdesigns, die Stärkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sowie Überlegungen zu Kapazitätsmärkten. Die Vorschläge in der Mitteilung sollen nach der Auswertung der Stellungnahmen in konkrete Gesetzesvorhaben münden.
Die Physik wird ignoriert
Unter Berücksichtigung der Dimension der möglichen Änderungen des EU-Energiewirtschaftsrechts sprechen manche bereits von einem vierten Energiebinnenmarktpaket bzw. einem vierten Wettbewerbsbeschleunigungspaket. Denn die EU-Kommission will zukünftig am EU-Strommarkt den Wettbewerb weiter forcieren. Wie soll das gehen? Anleitung hierfür holen sich die KommissionsbeamtInnen vom Finanzmarkt. Die neue (alte) Formel lautet: „Der Preis wird’s schon richten“. Denn dieser soll zukünftig das Maß allen energiepolitischen Handelns sein. Nach dem Denken in den Kategorien des Finanzmarktes ist es natürlich auch selbstverständlich, dass (extreme) Preisausschläge nach oben zugelassen werden. Völlig ignoriert wird, dass der politische Handlungsspielraum im Strommarkt durch die Gesetze der Physik determiniert ist. Fundamentale Faktoren des Strommarktes, wie notwendige Transportkapazitäten im Übertragungs- und Verteilnetz und die damit verbundenen Kosten, oder die Tatsache, dass eine Speicherung von Strom derzeit nicht bzw. nur sehr eingeschränkt möglich ist, werden ausgeblendet. Auch Überlegungen dahingehend, dass es sich bei (elektrischer) Energie nicht um ein gewöhnliches Gut handelt – wie zB Schuhe oder Äpfel und Birnen, sondern um eine sichere und leistbare Versorgung mit Energie – eine existentielle Grundlage für die Menschen in der modernen Gesellschaft, dürften keine Rolle gespielt haben.
Preisschwankungen für Alle
Schon jetzt wird Strom bis zu sieben Mal gehandelt, bevor er bei den EndverbraucherInnen ankommt. Jede Handelsstufe bedeutet einen zusätzlichen Preisaufschlag. Hinzu kommt, dass aufgrund der Komplexität des Strommarktes eine ex-post-Kontrolle von Marktmissbräuchen de facto nicht möglich ist. Ob kurzfristige, sehr hohe Strompreise Ausfluss von Wettbewerb oder Kollusion sind, ist jetzt schon nicht nachweisbar. Ausdrücklich forcierte Preisvolatilitäten würden diese Problemlage noch weiter verstärken.
StromverbaucherInnen als Börsenmakler
Die negativen Folgen dieser Politik sind nicht abstrakt, sondern treffen jede/n von uns: Denn die EU-Kommission möchte den/die Energiekonsumenten/in in den Mittelpunkt rücken, sozusagen „entfesseln“: Die Neuordnung der Strommärkte verspricht all jenen aktiven KonsumentInnen, die mit Eigenerzeugung und „smarten“ Systemen am Markt teilnehmen, Vorteile. Mit keinem Wort geht die Mitteilung auf Fragen zur Leistbarkeit von Energie, Energiedienstleistungen und neuen Technologien ein. Die Teilnahmemöglichkeit privater Haushalte bei der Umstellung des Energiesystems hängt aber unmittelbar von ihren finanziellen Möglichkeiten ab – dies betrifft sowohl die Durchführung von kostenintensiven Energieeffizienzmaßnahmen oder die Möglichkeiten zur Eigenerzeugung von erneuerbaren Strom als auch die Installation von intelligenten Technologien (wie zB. „Smart-Home“-Anwendungen). Werden derartige verteilungspolitische Überlegungen nicht ausreichend berücksichtigt, besteht die Gefahr der Schaffung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft von EnergieverbraucherInnen.
Das Bild der Kommission geht an Lebensrealitäten vorbei
Die EU-Kommission verabsäumt auch, eine Differenzierung zwischen drei verschiedenen Typen von VerbraucherInnen vorzunehmen: Nämlich zwischen Industrieunternehmen, kleinen und mittleren Betrieben sowie privaten Haushalten. Während die Stromerzeuger und große EnergieverbraucherInnen – wie IndustriekundInnen – sowohl die technischen als auch die administrativen Voraussetzungen haben, um am Energiemarkt aktiv teilzunehmen, ist dies nur für einen geringen Teil der privaten Haushalte möglich. Der repräsentative private Haushalt kann sein Lastverhalten nicht an kurzfristige Preisschwankungen anpassen. Eine rationale Nutzenmaximierung privater Haushalte – wie sie sich die EU-Kommission vorstellt – lässt sich in der Lebensrealität der Menschen nicht umsetzen. Die Stromnachfrage richtet sich nach geregelten Tagesabläufen (mit Strom-Nachfragespitzen überwiegend in den Morgen- und späten Nachmittagszeiten). Der Verbrauchszeitpunkt von Strom lässt sich über den Tagesablauf bei den Standard-Haushaltsanwendungen daher nur sehr eingeschränkt verschieben. Einschlägige Forschungsarbeiten bestätigen, dass Nachfrageflexibilitäten bei Haushalten vor allem auf automatisch regelbare, elektrothermische Geräte (beispielsweise Kühlschränke, Raumheizung, Warmwasseraufbereitungen) beschränkt sind. Lediglich Haushalte in den skandinavischen Ländern, wo Strom häufig für die Raumwärme eingesetzt wird, verfügen über ein größeres Ausmaß an Flexibilität bei der Stromnachfrage. Stromheizungen stellen aber in den EU-Mitgliedstaaten eher die Ausnahme dar und können daher nicht als repräsentatives Vorbild herangezogen werden.
Zweiklassengesellschaft
Völlig unrealistisch ist es auch davon auszugehen, dass durch die flexible Stromnachfrage privater Haushalte die Schwankungen in der Stromerzeugung ausgeglichen und damit auch enorme Preisvolatilitäten verhindert werden können. Durch die Finanzialisierung des Energiemarktes wird nur das Marktrisiko auf private Haushalte überwälzt. Es kommt zu einer Teilung der privaten Haushalte: Auf der einen Seite der finanziell gut ausgestattete, technikaffine und gut informierte „smarte Haushalt“, der aktiv, gleichsam als eine Art „Börsenmakler“ am Energiemarkt teilnehmen kann und die volatilen Preise für sich nützt. Dem gegenüber steht die große Masse der Haushalte, die es sich weder finanziell noch zeitlich leisten können, aktiv ihre Energienachfrage zu verwalten. Die Vorschläge der EU-Kommission begünstigen die kleine Gruppe der „smarten Haushalte“, die über die Voraussetzungen verfügen, günstige Strompreise zu nutzen. Der überwiegende Teil der Haushalte in der EU wäre in einem solchen System aber mit deutlich höheren Kosten konfrontiert: Aufgrund der Inflexibilität ihrer Nachfrage können sie einerseits hohen Strompreisen zeitlich nicht ausweichen. Andererseits würden sie von einer „Versicherung gegen Preisschwankungen“ – wie von der EU-Kommission angedacht – nicht profitieren. Denn die Kosten einer Versicherung gegen Preiserhöhungen würden die Energiehändler in den Energiepreis einpreisen. Besonders negativ betroffen sind einkommensschwache Haushalte. Aber Energiearmut existiert in einem smarten Strommarkt offenbar nicht.
Dieser Beitrag erschien zunächst in Wirtschaftspolitik-Standpunkte 4/2015. Für den Blog wurde er geringfügig überarbeitet.