Das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität – also das Volumen an produzierten Gütern und angebotenen Dienstleistungen je Beschäftigter/m – hat sich seit den 1980er-Jahren in den meisten Industrieländern verlangsamt. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 hat sich dieser Trend noch einmal deutlich verstärkt.
Nachdem die Produktivitätsentwicklung maßgeblich den (materiellen) Wohlstand einer Gesellschaft bestimmt, überrascht es kaum, dass die schwache Produktivitätsentwicklung der letzten Jahre Wissenschaft und Politik gleichermaßen Sorge bereitet.
Angebotsseitige Erklärungen dominieren
In der Wirtschaftswissenschaft hat sich unter dem Schlagwort „säkulare Stagnation“ eine rege Debatte über die Ursachen der schwachen Produktivitätsentwicklung entwickelt. Manche – wie etwa der US-Ökonom Robert Gordon – argumentieren dabei, dass die Innovationen der vergangenen Jahrzehnte weniger starke Produktivitätsgewinne bewirken als jene der Vergangenheit. Andere wie etwa die OECD sehen hingegen in der geringen Diffusionsgeschwindigkeit – also im Tempo, in dem sich technologische Neuerungen in einer Volkswirtschaft ausbreiten – eine Erklärung für das „Produktivitätsparadoxon“. Beiden Sichtweisen gemeinsam ist, dass sie vor allem die Angebotsseite im Blick haben. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage spielt für ihre Argumentation hingegen eine untergeordnete Rolle.
Die EU empfiehlt den Mitgliedstaaten neuerdings „nationale Produktivitätsräte“ einzurichten. Diese sollen die „Entwicklungen im Bereich der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit“ analysieren und sich „mit den langfristigen Antriebsfaktoren und Voraussetzungen für Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit“ auseinandersetzen. Die EU setzt dabei ebenfalls auf angebotsseitige Faktoren: Die Produktivitätsräte sollen auf Politikmaßnahmen abzielen, die „Innovation unterstützen, Fähigkeiten erhöhen und Rigiditäten in Arbeits- und Produktmärkten reduzieren“.
Einfluss des Wirtschaftswachstums auf Produktivitätsentwicklung gut erforscht
Die Ausblendung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage als mögliche Ursache einer schwachen Produktivitätsentwicklung überrascht umso mehr, als der Einfluss des Wirtschaftswachstums eine lange Tradition in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion hat und das mäßige Wirtschaftswachstum der Jahre 2011 bis 2015 vor allem nachfrageseitig bedingt ist. Der Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Produktivitätsentwicklung wird dabei meist nach seinen Urhebern „Verdoornsches Gesetz“ oder „Kaldor-Verdoorn-Gesetz“ genannt.
Beide Ökonomen haben in den 1940er- bzw. in den 1960er-Jahren argumentiert, dass ein höheres Produktionsvolumen eine stärkere Arbeitsteilung nach sich zieht. Diese erlaubt normalerweise einen effizienteren Mitteleinsatz (sogenannte statische Skalenerträge). Zudem erhöht ein stärkeres Wachstum aufgrund von Lerneffekten, verbesserten Fähigkeiten und induziertem technischen Fortschritt (dynamische Skalenerträge) die Produktivitätsentwicklung. Dies stand im Gegensatz zu der damals gerade im Entstehen begriffenen neoklassischen Wachstumstheorie, die davon ausging, dass technologischer Wandel exogen ist und somit nicht vom Wirtschaftswachstum beeinflusst wird.
Seither haben zahlreiche Studien die Existenz von Verdoorn-Effekten sowohl in der Industrie als auch in der Gesamtwirtschaft nachgewiesen. Diese finden meist „Verdoorn-Koeffizienten“ in der Höhe von 0,3 bis 0,6. Das bedeutet, dass eine um ein Prozent höhere Wirtschaftsleistung die Produktivität um etwa einen halben Prozentpunkt steigern würde.
Verdoorn-Effekte auch in Österreich und der EU
Dieser Zusammenhang lässt sich auch in Österreich und der EU empirisch nachweisen. Für die Sachgütererzeugung finden sich demnach Verdoorn-Koeffizienten zwischen 0,2 und 0,5. Positive Rückkoppelungen – etwa über stärkere Investitionen und damit einen höheren Kapitalstock – führen dazu, dass der Produktivitätszuwachs in Österreich langfristig sogar etwa zwei Drittel bis drei Viertel des Produktionsanstieges ausmacht (Abbildung). Noch deutlicher zeigt sich dieser Effekt für die EU: Hier ist der induzierte Produktivitätszuwachs praktisch gleich hoch wie der Produktionsanstieg. Auch im Bereich der Gesamtwirtschaft gibt es einen langfristigen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Produktivitätsentwicklung und Investitionen in Österreich in ähnlicher Größenordnung.
Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage fördert Produktivitätsentwicklung
Alles in allem zeigt sich also, dass es in Österreich (und in der EU) in der Sachgütererzeugung und in der Gesamtwirtschaft signifikante Verdoorn-Effekte gibt. Ein stärkerer Anstieg der Produktion verbessert demnach auch die Produktivitätsentwicklung. Das hat auch wirtschaftspolitische Implikationen: Eine Fokussierung auf rein angebotsseitige Maßnahmen wie eine bessere Ausbildung oder Ausgaben für Technologieförderung zur Erhöhung der Produktivität greift zu kurz. Eine Phase schwachen Wirtschaftswachstums wie in den Jahren 2012 bis 2015, das vor allem auf die schlechte Nachfrageentwicklung – unter anderem wegen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und schwacher Lohnentwicklung – zurückzuführen ist, hat einen direkten negativen Einfluss auf die Produktivitätsentwicklung und daher den langfristigen Wohlstand in Österreich und der EU.
Maßnahmen zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage (bzw. der Vermeidung von nachfrageschwächenden Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in Zeiten wirtschaftlicher Unterauslastung) sind daher nicht nur kurzfristig, sondern auch mittel- und langfristig wesentliche Elemente einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik, die angebotsseitige Maßnahmen zur Verbesserung der Produktivitätsentwicklung ergänzen müssen. So dürften etwa Technologie- und Bildungspolitik ihre positive Wirkung auf die Produktivität schneller und besser entfalten, wenn sie in Zeiten kräftiger Konjunktur umgesetzt werden.
Die Analyse der Ursachen schwacher Produktivitätsentwicklung und die daraus abgeleiteten Politikempfehlungen – etwa im Rahmen künftiger Produktivitätsräte – sollten daher immer auch die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage im Blick haben.