Gerade anlässlich des Jubiläums „5 Jahre nach Lehman“ feiert die Realwirtschaft in allen politischen Diskussionen ein Revival. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht dabei Industriepolitik und die Frage, was das konkret sein kann. Dafür gibt es einen guten Grund: Länder mit einer starken industriellen Basis haben die Krise besser überstanden als jene, die primär im Dienstleistungs- oder Finanzsektor ihre Stärken hatten. Die europäische Union hat sich daher zum Ziel gesetzt, die Industrieproduktion bis 2020 von rund 16% auf 20% des BIP zu erhöhen. Die Rückbesinnung auf den klassischen Produktionssektor ist aber natürlich von den wirtschaftspolitischen Haltungen der Gegenwart geprägt und führt in der aktuellen Debatte oft zur wohl bekannten Standortdiskussion. Denn ganz klar ist ja nicht, was alles unter Industriepolitik zu verstehen ist und was nicht.
Industriepolitik – ein Begriff mit vielen Bedeutungen
Die westlichen Nachkriegsökonomien waren von einer interventionistischen Industriepolitik des Staates – aber auch der EU: Bsp Stahlindustrie, Atomenergie, … – geprägt. Die Maßnahmen reichten dabei von direkten und indirekten Eingriffen in einzelne Branchen und Betriebe bis hin zur Einflussnahme auf die industrielle Entwicklung durch verstaatlichte Unternehmen.
Demgegenüber lehnte die neoliberale Wirtschaftspolitik der 1990er Jahre direkte Eingriffe in Branchen oder die Beeinflussung von Strukturen strikt ab. Im Mittelpunkt stand in dieser Phase industriepolitischer Konzeptionen – besonders auch in der Europäischen Union – die Verbesserung allgemeiner Rahmen- und Standortbedingungen für Unternehmen (Deregulierung, Verwaltungsreduktion, Förderung von F&E…). Irgendwie war alles Industriepolitik – oder auch nichts.
In Folge der Krise änderte sich – zumindest ein wenig – die völlige Ablehnung direkter staatlicher Intervention. Neben allgemeiner Standortpolitik ist auf EU-Ebene nun auch wieder von branchenspezifischen Aktivitäten die Rede. Folgende vier Punkte sieht die EU-Kommission in ihrer industriepolitischen Mitteilung vom Oktober 2012 dabei als relevant an: Definition von Bereichen zur Förderung von Technologie und Innovation, Humanressourcen & Qualifikation, Finanzierung und Kapitalmarkt und die Verbesserung von Markzugängen. Und konkret werden von der Kommission branchenspezifische Aktionspläne (etwa zum Stahl- oder auch Automobilsektor) zur Diskussion gestellt.
Der Zugang der ArbeitnehmerInnenvertretungen
Schon der Ausspruch „Alle Räder stehen still …“ aus einem Arbeiterlied des 19. Jahrhunderts (Gedicht von Georg Herwegh, 1863; Melodie von Hans Eisler 1920) ist ein Zeichen für die Bedeutung, die Gewerkschaften dem produzierenden Sektor historisch für die Wirtschaftsentwicklung eines Landes aber auch die eigene Organisation zuschreiben.
Ganz entscheidend ist daher die Rolle dieses Sektors hinsichtlich einer funktionierenden und tragfähigen Sozialpartnerschaft. Ein Aspekt, der bei internationalen Diskussionen um die Krisenresistenz industriestarker Staaten wie zufällig immer unter den Tisch fällt: Die Länder mit einem starken Produktionssektor sind meist auch Länder mit einer funktionierenden Sozialpartnerschaft und konsensorientierten Arbeitsbeziehungen. Nicht ganz unwichtig, wenn die Welt um einen herum plötzlich aus den Fugen gerät.
Die Kehrseite der starken Exportportorientierung
Warum konnten in Europa Länder wie Deutschland und Österreich, mit starker industrieller Basis, die Krise so gut bewältigen? Grund dafür war neben wirtschaftspolitischen Maßnahmen und einem starken Sozialstaat sicher auch die anhaltende Nachfrage nach Exportprodukten. Dieser wurde von einem Nachfrageschub aus Asien und Südamerika getragen. Wurde das starke Wachstum der aufstrebenden Volkswirtschaften durch die Krise doch nur kurzzeitig gedämpft. Jene europäischen Länder mit großen und funktionierenden Industriesektoren konnten von der wieder einsetzenden Exportnachfrage viel schneller und stärker profitieren und so rascher aus der Krise wachsen, als Länder die auf den Dienstleistungs- und Finanzsektor spezialisiert sind.
Die Exportorientierung der Industrie hat aber auch Schattenseiten. Sie erhöht die Verletzbarkeit der Wirtschaft etwa bei Nachfragerückgängen aus dem Ausland. Sie war aber auch ein Grund für weltwirtschaftliche Ungleichgewichte und damit Teil der Krisenursachen. So hat das Düsseldorfer Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung für Deutschland festgestellt, dass die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre die Stabilität in der Eurozone belastet(e). Die Exportüberschüsse entständen “auf Pump, auf den Schulden der anderen Länder”. Deutschland ist ein Land mit einer sehr wettbewerbsstarken Industrie: traditionell aufgrund hoher Produktivität und Qualität – seit vielen Jahren aber auf Kosten stagnierender Löhne und einer zunehmenden Bedeutung des Niedriglohnsektors. Die Kehrseite der relativ zurückhaltenden Entwicklung bei Löhnen ist eine schwache Binnennachfrage. Damit verbunden sind fehlende Wachstumsimpulse aus dem Inland und eine schwache Nachfrageentwicklung nach ausländischen Produkten. Die dadurch entstandenen Leistungsbilanzüberschüsse führen zu großen Leistungsbilanzdefiziten in anderen Ländern und setzten die Partner in der EU unter großen Druck. Eine gesamteuropäische Steigerung des Industrieanteils wird daher auch an diesen Ungleichgewichten in der Nachfrageentwicklung ansetzen müssen.
Forschung, Stabilität & Einkommen – Qualität in der Industriebeschäftigung in Österreich
Wichtig ist die Industrie vor allem für die Forschung (und umgekehrt): Von den privaten F&E-Ausgaben in Österreich werden etwa zwei Drittel von der Industrie – dem Produktionssektor – getätigt. Übrigens mit erheblichen staatlichen Mitteln gefördert! Der Dienstleistungsbereich hingegen spielt noch immer eine untergeordnete Rolle als Produzent, allerdings eine wichtige Rolle als Nachfrager neuer Technologien. Neuere Studien für Produktionssektor zeigen, dass Investitionen bei Unternehmen, die F&E betreiben nach der Krise deutlich schneller und stärker gestiegen sind, als bei jenen, die keine Forschung betreiben. Das ist noch kein kausaler Zusammenhang, aber ein wichtiger Hinweis, dass es eine positive Beziehung zwischen F&E und Sachgüterinvestitionen gibt. – Nicht belanglos, wenn es um Wachstum und Beschäftigung geht.
Aus Sicht der ArbeitnehmerInnen ist aber vor allem auch die Frage der Beschäftigungsstabilität und der Einkommen von großer Relevanz: In der Industrie ist im der atypischen Beschäftigungsverhältnisse sowie der Teilzeitbeschäftigten vergleichsweise gering, die Arbeitsbedingungen sind besser, die Einkommensunterschiede geringer. Das hat natürlich mit der zitierten besseren Ausbildung und den hohen Qualifikationsanforderungen in diesem Sektor zu tun. Aber eben auch mit einem höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Die Frage, ob der Weg zur Dienstleistungsgesellschaft die Einkommensungleichheit erhöht, ist empirisch nicht ganz leicht zu fassen. Der Anteil der Niedriglohnbeschäftigung ist jedenfalls im Dienstleistungsbereich höher.
Diesen positiven Aspekten des Industriesektors steht gegenüber, dass die Zahl der LeiharbeiterInnen traditionell in Industrie und Gewerbe am höchsten ist. Als Folge der Krise waren diese Arbeitskräfte 2009 besonders von Kündigungen betroffen, gleichzeitig hat die Zahl der Leiharbeitskräfte in der Industrie aber 2011 schon wieder das Vorkrisenniveau überschritten. Die Frage, die sich stellt, ist, ob es hier zur Verdrängung der Stammbelegschaft kommt bzw wie man diese Entwicklung bremsen kann.
Mehr Industrie – aber wie?
Was ist also zu beachten, will man das Gewicht des Produktionssektors in Europa stärken? Es darf jedenfalls nicht darum gehen einen „Kosten“wettbewerb zu gewinnen – Im Mittelpunkt muss der „Qualitäts“wettbewerb stehen. Ist und bleibt das Ziel doch mehr und bessere Beschäftigung, höheres Einkommen , verbesserte Lebens- und höhere Umweltqualität. Bei der Renaissance der Industriepolitik ist daher folgendes wichtig:
- Kein Wettbewerb unter den Staaten: Der Exporterfolg der Einen darf nicht zum Problem der Anderen werden.
- Neben der Exportnachfrage muss zunehmend auch die Binnennachfrage als wesentliche Wachstumskomponente im Auge behalten werden. Das Schlagwort „Standortpolitik“ darf daher kein Vorwand für niedrige Löhne sein.
- Ein entscheidendes Kriterium für den Erfolg von Unternehmen ist die Qualität der Produkte und Prozesse und damit automatisch die Qualifikation der Fachkräfte bis hin zur Qualität der HochschulabsolventInnen.
- Die Stabilität bei den Arbeitsverhältnissen ist die Stärke der Industrie. Der Ausweitung von Leiharbeit sind sinnvolle Grenzen zu setzen.
- Verbesserungen beim Wirtschaftsförderungssystem: In Österreich gibt es einen starken Hang, auf unterschiedlichen Ebenen die unterschiedlichsten Dinge zu fördern – Bereinigungen und Abstimmungen wären angebracht.
- Industrie- UND Dienstleistungspolitik als integrierte Wirtschaftspolitik verstehen: Wenn Menschen nicht wissen, ob ihre Kinder oder Alten gut betreut werden, sind sie auch als Arbeitskräfte weniger produktiv.
- Investitionen der öffentlichen Hand insbesondere in Infrastruktur, die entscheidend ist für Wirtschaftsstandort – letztere sinken in der EU.
- Strategisch wichtige Unternehmen sind mit ihren Arbeitsplätzen und wesentlichen Unternehmensfunktionen in Österreich zu halten. Zur Sicherung, zur Stärkung und zum dynamischen Wachstum solcher Unternehmen ist auch der Erhalt, der Ausbau oder das Eingehen von staatlichen Beteiligungen eine Option (etwa auch durch eine ÖIAG NEU).