Wachsende Ungleichheit schadet gesamter Volkswirtschaft

06. Mai 2016

„Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf“ – Schlagzeilen wie diese haben es in den letzten Jahren immer wieder in die Medien geschafft. Dieser Blogbeitrag soll beantworten was das eigentlich heißt, aus welchen verschiedenen Perspektiven man dies betrachten muss und warum die steigende Konzentration des Reichtums in den Händen einiger Weniger im Endeffekt der gesamten Volkswirtschaft schaden wird.

 

Das Thema „Ungleichheit“ ist in den letzten Jahren vermehrt in den Vordergrund wirtschaftspolitischer und wirtschaftswissenschaftlicher Diskussionen getreten. Die Auswirkung von „steigender Ungleichheit“ auf die „volkswirtschaftliche Entwicklung“ wird dabei höchst kontrovers diskutiert. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es hierfür mehrere Gründe.

Erstens, spielt die „Ungleichheit“ in der volkswirtschaftlichen Standardtheorie nur eine untergeordnete Rolle. Was nichts anderes heißt, als dass sich die meisten ÖkonomInnen schlicht nicht für Verteilungsfra­gen interessieren bzw. diese zumindest nicht in ihren Modellen berücksichtigen.

Andererseits aber haben in den letzten Jahren namhafte ÖkonomInnen, wie die beiden US-amerikanischen Ökonomie-Nobelpreisräger Joseph Stiglitz und Paul Krugman, das Thema verstärkt aufgegriffen. Dabei wurde immer wieder die steigende Einkommenskonzentration, also der überdurchschnittliche Anstieg der hohen Einkommen im Vergleich zu den mittleren und niedrigen Einkommen, angeprangert.

Umverteilung in der Neoklassik untergeordnet

Zweitens, ist das „Problem der Ungleichheit“ – tatsächlich sprechen WirtschaftswissenschaftlerInnen im englischsprachigen Raum meist allgemein vom „Problem of Inequality“ – sehr unspezifisch definiert. Wie wird Ungleichheit nun tatsächlich am besten ausgedrückt? Historisch gesehen wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts auf die funktionale Einkommensverteilung abgestellt, also die Verteilung des Volkseinkommens auf den Faktor Kapital und den Faktor Arbeit. Beziehungsweise – um das ganze „ideologischer“ auszudrücken: die Verteilung zwischen Kapitalisten und Arbeiterklasse. Erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt man eher auf die personelle Einkommensverteilung ab, also die Verteilung der Einkommen auf die einzelnen Personen oder Haushalte, unabhängig von der Herkunft der Einkommen (Arbeitseinkommen, Kapitaleinkommen). Außerdem muss festgehalten werden, dass innerhalb der häufig sehr allgemein geführten „Verteilungsdiskussion“ zwischen Einkommensverteilung und Vermögensverteilung unterschieden werden muss. Die drei in weiterer Folge andiskutierten Punkte können grundsätzlich sowohl für die Verteilung der Einkommen als auch für die Verteilung der Vermögen in sehr ähnlicher Weise diskutiert werden. In meiner Forschungstätigkeit habe ich mich auf die Untersuchung der Einkommensverteilung konzentriert. Daher wird auch in diesem Beitrag hauptsächlich von der Einkommensverteilung gesprochen.

Zusätzlich zu diesen Unklarheiten tritt ein sehr praktisches Problem auf: Die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion litt über Jahrzehnte an der Tatsache, dass kaum aussagekräftige Daten zur Verfügung standen. Das heißt, selbst wenn man sich darauf einigte wie man Ungleichheit jetzt definieren sollte, hatte man kaum Datenmaterial zur Verfügung, auf das man seine Argumentationspunkte stützen konnte.

Piketty/Atkinson lösen das Datenproblem

Die Veröffentlichung des Top-Income-Datensatzes brachte insgesamt Schwung in die Verteilungsdebatte. Erstens, weil nun ein Datensatz zur Verfügung steht, der Aussagen über die langfristige Entwicklung der personellen Einkommensverteilung zulässt und zweitens, weil sich gleichzeitig die personelle Einkommensverteilung als das Maß für die „Ungleichheit“ etablierte. Nur zur Anmerkung: Der Datensatz, der unter anderem auf die Arbeiten von Thomas Piketty zurückgeht, ist aber auch Gegenstand kritischer Betrachtung.

Extreme Ungleichheit ist schädlich, extreme Gleichheit aber auch

Selbst wenn man wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse außen vor lässt, scheint eine Tatsache klar zu sein: Extreme Einkommens-Ungleichheit, aber auch extreme Einkommens-Gleichheit führt zu ge­samtwirtschaftlich unerwünschten Ergebnissen. Es kann nicht erstrebenswert sein, dass sich das gesam­te Volkseinkommen auf eine einzige Person konzentriert. Aber auch die völli­ge Einkommensgleichheit – jede Person in einer Volkswirtschaft erhält unabhängig von Leistung dasselbe Einkommen – kann gesamtwirtschaftlich nicht erstrebenswert sein. In diesem Fall fehlen An­reize zur Leistungserbringung, zur Innovation und zur Übernahme von unternehmerischen Risiken nämlich zur Gänze. Konklusio aus diesem einfachen Beispiel: Die opti­male Verteilung der Einkommen muss irgendwo in der Mitte liegen. Tatsächlich treten die beiden ge­nannten Extremfälle in der Realität nie ein. Meiner Meinung nach – und diese Meinung entspricht jener vie­ler führender WirtschaftswissenschaftlerInnen – hat die Einkommenskonzentration in den letzten Jahrzehnten aber ein Ausmaß  erreicht, das in vielerlei Hinsicht „ungesund“ für die Entwicklung einer Volkswirt­schaft ist.

Verteilungsfrage aus drei Perspektiven

Wie ist eine „ungesunde Einkommenskonzentration“ zu verstehen? Grundsätzlich kann man das Thema Einkommensverteilung aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachten:

  1. Aus ethische Perspektive: Welche Einkommensverteilung ist „gerecht“?
  2. Sozialwirtschaftlich: Welche Einkommensverteilung ist aus sozial-gesellschaftlicher Sicht ideal?
  3. Wirtschaftswissenschaftlich: Welche Einkommensverteilung ist (rein) ökonomisch erstrebenswert?

Vorweggenommen sei an dieser Stelle, dass die ersten beiden Punkte hier nur andiskutiert werden sollen. Vor allem Fragen hinsichtlich „gerechter“ Einkommensverteilung bergen enorme Sprengkraft. Diskussionen diesbezüglich bewegen sich meist recht populistisch zwischen Schlagwörtern wie „Heuschrecken-Kapitalismus“ versus „Neid-Debatte“. Eine derartige Diskussion soll nicht Gegenstand dieses Beitrages sein. Nur einige Tatsachen seien hier angeführt: Eine Studie der Johannes Kepler Universität[1] aus dem Jahr 2013 zeigt, dass die reichsten 10% der ÖsterreicherInnen fast 70% des Gesamtvermögens besitzen. In Bezug auf die hier eher angesprochene Einkommensverteilung zeigt eine WU-Studie, dass auch in Österreich die Einkommenskonzentration seit Mitte der 1990er Jahr steigt. Die Vorstandsmitglieder der ATX-Unternehmen verdienen im Schnitt fast das 50-fache vom österreichischen Medianeinkommen, wie eine AK-Studie zeigt. Auf der anderen Seite gibt es, laut IHS-Studie in Österreich ohnehin schon sehr umfangreiche Transferleistungen zur Umverteilung der Einkommen auf Personengruppen, die in einer reinen Marktwirtschaft auf der Strecke bleiben würden und das oberste Viertel der EinkommensbezieherInnen zahlt, laut Statistik Austria, schließlich auch über 80% der gesamten Lohn- und Einkommensteuer. (Ein anderer, hier bewusst nicht angesprochener Punkt: ÖkonomInnen sind sich aber unüblich einig darin, dass in Österreich der Faktor Arbeit im Vergleich zu den Vermögen zu stark besteuert wird.)

Gerechte Verteilung? – Eine ideologische Diskussion

Man sieht, dass die Frage darüber, welche Verteilung „gerecht“ ist nicht abschließend beantwortet werden kann.

Auch die zweite Frage, welche Vermögens- und Einkommensverteilung aus sozialwirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Sicht optimal wäre, ist nur Nebengegenstand dieses Beitrags. Eine Gesellschaft muss sich die Frage stellen, ob tatsächlich die talentiertesten jungen Menschen die beste Ausbildung genießen, oder doch eher jene jungen Menschen, die das Glück hatten in besser-gestellte Familien hineingeboren zu werden. Studien deuten darauf hin, dass oft zweiteres der Fall ist: So haben Kinder von AkademikerInnen eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit selbst ein Universitätsstudium zu beginnen, als Kinder aus bildungsfernen Schichten. Ingolf Erler fasste dies in einem 2011 erschienen Buch wie folgt zusammen: „In keiner Gesellschaft ist es gleichgültig, in welche Familie ein Kind geboren wurde. Doch nur in wenigen westlichen „Industrieländern“ hat die soziale Herkunft einen so großen Einfluss auf den Bildungsweg wie beispielsweise in Österreich.“ Fraglich ist auch, ob eine steigende Vermögens- und Einkommenskonzentration nicht ab einem gewissen Level zu sozialen Spannungen bzw. zumindest zu steigenden Kriminalitätsraten führt – eine These, die Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem Buch schön auf den Punkt gebracht haben. In diesem Falle würde eine steigende Einkommenskonzentration im Endeffekt übrigens auch den Top-Einkommens-Beziehern schaden, da auch SpitzenverdienerInnen in keinem Land, das von Kriminalität und sozialen Spannungen gezeichnet ist, leben wollen. Die Frage der  Einkommens- und Vermögensverteilung wird in sozialwirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht die nächsten Jahre und Jahrzehnte meines Erachtens prägen. Immer mehr junge Menschen sind selbst in Industriestaaten dem Problem der Arbeitslosigkeit ausgesetzt und fühlen eine Perspektivenlosigkeit.

Soziale Konflikte durch steigende Einkommenskonzentration?!

Im Gegensatz zu älteren Generationen, die meist sichere, feste Anstellungen hatten sehen sich die jüngeren Generationen immer öfter prekären Anstellungssituationen ausgesetzt. Die Finanzierung von Eigenheim aus eigenen Mitteln ist, zumindest im (vor-)städtischen Raum, für die meisten jungen Menschen heute in weite Ferne gerückt. Das Gefühl, durch eigenes Zutun alleine nicht mehr zu Wohlstand gelangen zu können, ist in jüngeren Generationen weit verbreitet. Eine derartige Gewissheit wird vor allem durch die bestehende Vermögenskonzentration verursacht und kann für die Leistungsbereitschaft einer ganzen jungen Generation nicht förderlich sein! Eine Ansicht, die jüngst auch Joseph Stiglitz publizierte.

Einkommenskonzentration ökonomisch betrachtet

Der dritten Frage, wie sich steigende Vermögens- und Einkommenskonzentration auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt, wird im Rahmen dieses Beitrags etwas mehr Raum gewidmet.

Wie bereits erwähnt, spielt die personelle Einkommensverteilung in der vorherrschenden neoklassischen Volkswirtschaftstheorie praktisch keine Rolle und kommt in ökonomischen Modellen nicht vor. Die Frage, wie und ob eine ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben, hängt damit zusammen, wie gesamtwirtschaftlicher Konsum und Investitionen davon abhängen.

Während die Neoklassiker eben keine negativen Auswirkungen sehr ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung sehen, meinen progressivere Schulen, unter anderem Keynesianer und Post-Keynesianer, dass eine ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung Wirtschaftswachstum hemmt. Dies deshalb, weil die BezieherInnen geringerer Einkommen einen höheren Anteil ihres Gesamteinkommens für Konsum verwenden, als BezieherInnen höherer Einkommen. BezieherInnen sehr geringer Einkommen verwenden häufig sogar 100% ihres Einkommens für Konsum und würden bei höherem Einkommen noch mehr konsumieren. Sehr hohe Einkommen hingegen sparen zusätzliches Einkommen häufig, weil sie auch ohne dem zusätzlichem Einkommen alle Bedürfnisse befriedigen konnten. Das heißt im Ergebnis, dass bei möglichst gleichverteilten Einkommen die Konsumnachfrage am höchsten ist. Zwar argumentieren die Neoklassiker, dass dafür die höheren Sparquoten der BesserverdienerInnen dazu führen, dass mehr Investitionen für die zukünftige Produktion getätigt werden. Dies stimmt aber nur bedingt:

Erstens, fließt ein großer Teil dieses zusätzlichen Sparkapitals in reine Finanzinvestitionen, die aber nur zu einem gewissen Teil tatsächlich in zukünftige Produktion münden und zum anderen Teil einfach nur der Spekulation dienen. Zweitens, führt eine steigende Einkommens- und Vermögenskonzentration dazu, dass Unternehmen immer weniger in den Ausbau von Produktionstätten investieren. Und zwar mit der Begründung, dass sich breite Teile der Bevölkerung in der akutellen wirtschaftlichen Situation, in der die Wirtschaft durch geringes Wachstum geprägt ist, die Einkommenskonzentration aber steigt (d.h. in weiterer Folge die Realeinkommen breiter Bevölkerungsschichten sinken!) immer weniger leisten können. Wozu soll dann aber in neue Produktionsstätten investiert werden?

Einkommenskonzentration hemmt die Investitionstätigkeit

Dass die Investitionen in reale Produktionsmittel gerade in Österreich stagnieren, zeigt eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien (Link führt zur Presseaussendung). In dieser Studie wird dies primär auf die angeblich sinkende Attraktivität des „Industriestandort Österreich“ und die hohe Belastung des Faktors Arbeit zurückgeführt. Eine dort zitierte OECD-Studie belegt aber, dass auch das Sinken der Reallöhne, das primär die unteren Einkommensschichten betrifft, zur Investitionsunwilligkeit der Unternehmen führt. Es ist also wahrscheinlich, dass die wachsende Einkommens- und Vermögenskonzentration ein Maß erreicht hat, das wirtschaftliches Wachstum hemmt.

Daneben gibt es aber auch noch Forschungsansätze, die einen anderen Punkt aufgreifen, warum die steigende Kluft zwischen Arm und Reich aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht negativ sei: Namhafte Ökonomen, wie John Kenneth Galbraith und Joseph Stiglitz sehen darin einen der Hauptgründe für das Auftreten von Wirtschaftskrisen.

Warum eine ungleiche Verteilung zu Krisen führt

Eine kürzlich verfasste Studie zeigt, dass in den USA – wo die beiden größten Wirtschaftskrisen der letzten hundert Jahre, nämlich die „Great Depression“ (1929 – 1933) und die „Great Recession“ (seit 2007), ihren Ausgang nahmen –  die personelle Einkommenskonzentration vor beiden Krisen tatsächlich deutlich zunahm. Die Entwicklung der Top-Einkommensanteile ähnelt vor beiden Krisen nicht nur in Richtung, sondern auch in absoluten Prozentanteilen und relativen Veränderungen. Für die Zeit vor der „Great Recession“ zeigt die Studie außerdem, dass in Industriestaaten (für die Untersuchung wurden Daten zu zehn führenden Industriestaaten herangezogen) die Top-Einkommensanteile überall stark gestiegen sind. In einer weiteren Studie wurde untersucht, ob auf einen kausalen Zusammenhang zwischen steigender Einkommenskonzentration und Krisenwahrscheinlichkeit geschlossen werden kann. Insgesamt ergaben entsprechende Regressionen allgemein einen hoch signifikanten Zusammenhang. Das heißt, steigt die Einkommenskonzentration, steigt auch das Risiko einer Wirtschaftskrise. Bei länderspezifischen Detailbetrachtungen diesbezüglich blieben die Ergebnisse – auch wegen des Problems, dass verhältnismäßig wenig Daten zur Einkommensverteilung vorliegen – weniger eindeutig. Es konnte aber gezeigt werden, dass im angelsächsischem Raum der oben genannte Zusammenhang besonders stark auftritt. Gerade in diesen Staaten wird Konsum zu einem steigenden Teil über Kredite finanziert. Die steigende Kluft zwischen Arm und Reich versuchen die unteren Einkommensschichten in diesen Ländern durch kreditfinanzierten Konsum zu begegnen.

Kredit-finanziertes (Konsum-) Wachstum ist nicht nachhaltig

Dies führt zwar dazu, dass in diesen Staaten, insbesondere den USA, das Wirtschaftswachstum trotz steigender Einkommenskonzentration verhältnismäßig hoch ist, in weiterer Folge neigen aber eben diese Staaten zu einer hohen Krisenanfälligkeit. Die persönlichen Konsumwünsche breiter Bevölkerungsschichten über Kredite zu finanzieren ist nämlich nicht besonders nachhaltig.

Fazit: Ethische und sozialwissenschaftliche Probleme steigender Vermögens- und Einkommenskonzentration werden zwar häufig diskutiert, aber ebenso häufig als „Neiddebatte“ abgetan. Ein interessanter neuer Diskussionspunkt ist die Frage, ob sich die steigende Einkommenskonzentration nicht auch negativ auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auswirkt. Auch aufgrund der lange Zeit schlechten Datenlage, wird diese Frage erst seit wenigen Jahren wissenschaftlich untersucht. Neuere Studien deuten aber daraufhin, dass es auch aus rein ökonomischen Gründen sinnvoll ist, einer fortlaufend steigenden Einkommenskonzentration mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen endlich entgegenzutreten.

[1]           Gefördert aus Mitteln der Arbeiterkammern Wien und Oberösterreich