Neuere Forschungsergebnisse weisen auf einen negativen Zusammenhang zwischen ökonomischer Ungleichheit und gesamtwirtschaftlicher Entwicklung hin. Hohe Einkommensungleichheit kann angebotsseitig das Wachstumspotenzial schwächen, wenn sie z. B. zu geringeren Ausgaben für Bildung führt. Nachfrageseitig kann sie destabilisierend wirken, wenn der private Konsum zunehmend auf Verschuldung basiert. Diese Erkenntnisse sollten in Politik und Wissenschaft stärker berücksichtigt werden.
Neues Megathema Ungleichheit
Spätestens seit der Veröffentlichung des internationalen Bestsellers „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty ist die Debatte über die mit einer steigenden Einkommens- und Vermögensungleichheit verbundenen Probleme zum neuen Megathema in den Wirtschaftswissenschaften und in der Politik geworden. Dabei wird in der internationalen Debatte zunehmend die Position vertreten, dass eine steigende Einkommensungleichheit eine zentrale Ursache für geringes Produktivitätswachstum bzw. gesamtwirtschaftliche Instabilität sein kann. Die zugrunde liegende wirtschaftswissenschaftliche Forschung wurde insbesondere vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) betrieben.
In einigen bis zu den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen dominanten Ansätzen in den Wirtschaftswissenschaften wird von einem grundsätzlichen Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gleichheit ausgegangen. Insbesondere wurde lange vermutet, dass Maßnahmen zur Umverteilung von Einkommen notwendigerweise mit Wachstumseinbußen verbunden sind („big trade-off hypothesis“).
Denn nach dieser Sichtweise reduziert eine höhere Belastung mit Steuern und Abgaben die individuellen Leistungsanreize und behindert damit das Wachstum der Arbeitsproduktivität. Auf wirtschaftspolitischer Ebene war diese Sichtweise verknüpft mit dem Ansatz der „trickle-down economics“, wonach eine steuerliche und regulatorische Entlastung von Unternehmen und reichen Privathaushalten letztlich auch für die einkommensschwachen Haushalte mit ökonomisch vorteilhaften Ergebnissen einhergehen sollte.
Die jüngere internationale Forschung im Bereich der Makroökonomik zieht jedoch die „big trade-off hypothesis“ in Zweifel und mit ihr den Ansatz der „trickle-down economics“. Dabei können angebots- und nachfrageseitige Argumente unterschieden werden.
Negative Angebotseffekte durch Ungleichheit
Aktuelle Studien unterscheiden die folgenden angebotsseitigen Argumente:
- Schwächung des Humankapitals: Wenn relativ einkommensschwache Personen nicht in der Lage sind, eine gute Ausbildung und Gesundheitsversorgung zu finanzieren, reduzieren sich durch die Zunahme von Einkommensungleichheit insbesondere in der unteren Hälfte der Verteilung die Investitionen in Humankapital mit negativen Wirkungen auf das Produktivitätswachstum.
- Politische Instabilität: Ökonomische Ungleichheit kann zu politischer Instabilität führen, und die damit verbundene Unsicherheit für die MarktteilnehmerInnen kann mit geringeren Investitionen und Produktivitätseinbußen verbunden sein.
- Zunahme politischer Korruption: Hohe Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen kann dazu führen, dass finanzstarke Interessengruppen den politischen Prozess dominieren und beispielsweise eine übermäßige, wachstumshemmende Deregulierung der Finanzmärkte erwirken.
Diese Studien kommen zum Schluss, dass in Ländern mit höherer Einkommensungleichheit geringeres Wirtschaftswachstum als auch kürzere Wachstumsphasen beobachtet werden konnten. Im Gegensatz dazu hatte die staatliche Umverteilung positive Effekte auf das Wachstum. Die Hypothesen der „trickle-down economics“ erscheinen im Lichte der neueren Forschungsergebnisse jedenfalls kaum haltbar.