Was gerecht ist, versteht sich nicht von selbst. Warum daher nicht Menschen selbst fragen, was sie für gerecht erachten. Viele Gerechtigkeitsurteile werden vom Wissen bzw. Unwissen über die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft beeinflusst.
Die ÖsterreicherInnen wurden im Rahmen des Household Finance and Consumption Surveys (HFCS) gefragt, ob sie im Vergleich mit anderen ihren gerechten Anteil erhalten oder nicht. Rund 60% waren durchaus zufrieden; rund 28% befanden, dass sie etwas zu wenig bekämen und 8% empfanden ihre Lage als sehr ungerecht. Die RespondentInnen treffen ihre Ungerechtigkeitsurteile in Abhängigkeit von ihrer Stellung am Arbeitsmarkt und ihrer Bildung. Wer eine Anstellung hat oder eine Ausbildung absolviert hat, empfindet seinen Anteil eher als gerecht. Mit einer Vollzeitanstellung erreichen Menschen vergleichsweise die höchste Zufriedenheit. Die gesellschaftliche Integration erfolgt über den Arbeitsmarkt und dies zeigt, dass die Prekarisierung mit besonders unangenehmen Erfahrungen verbunden ist. Aber auch ungefähr jeder fünfte von den 5% der Vermögendsten meint, zu wenig zu erhalten. Bei Ungerechtigkeitsurteilen gibt es eben auch eine psychologische Komponente, die neben die materielle Ressourcenausstattung tritt.
Was am eigenen Leib als ungerecht erfahren wird, muss aber nicht den eigenen Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft entsprechen, und auch wer vermeint, seinen gerechten Anteil zu erhalten, muss deswegen noch nicht die Verhältnisse in Österreich als gerecht empfinden.
„Unverdientes Vermögen“
Die Mehrheit der ÖsterreicherInnen bezweifelt, dass die Reichen ihr Vermögen durch eigene Leistung erworben haben. Nur 11% der Armen glauben an Leistung als Schlüssel für Reichtum. Der Glaube an die Leistungsideologie nimmt mit dem Alter noch ab. Die Jüngeren hoffen, dass ihre eigene Anstrengung den Ausschlag für ökonomischen Erfolg geben kann. Dies wird wohl bestärkt durch ein Bildungswesen, welches sich über das Leistungsprinzip definiert. Bei Älteren macht sich hingegen Ernüchterung breit. In Wien sind fast doppelt so viele wie im Westen Österreichs skeptisch, dass die Leistung für Reichtum entscheidend sei.
In Österreich erkennt eine große Mehrheit die zentrale Bedeutung des Erbens für Reichtum. 3/4 glauben, dass man übers Erben reich wird. Die Reichen erkennen die Schlüsselstellung der Erbschaften für die Vermögensakkumulation noch klarer als die Armen. Vermögenstransfers (Schenkungen und Erbschaften) spielen eine entscheidende Rolle in der dynastischen Vermögenskonzentration. Für die Armen hingegen bedeutet das Erbschaftsthema oft nur eine Hoffnung auf unerwartete Vermögenszuwächse. Bei Reichen reflektiert ihre Einschätzung die empirischen Fakten zum Erbgeschehen, bei den Armen, die meist nichts erben, hingegen nur vage Fiktionen.
Keine faire Leistungsgesellschaft ohne Chancengleichheit
Chancengleichheit ist eine wesentliche Bedingung für eine faire Leistungsgesellschaft: Nur wenn jede/r die gleichen Chancen hat, im Prinzip jede gesellschaftliche Position zu erreichen, können Ungleichheiten mit unterschiedlichen individuellen Entscheidungen und Anstrengungen begründet werden. Die ÖsterreicherInnen sind uneinig, was die individuellen Chancen, reich zu werden, betrifft. Je älter die Leute sind, umso weniger glauben sie an Chancengleichheit. Besonders weit verbreitet ist die Skepsis bei Personen mit geringem Bildungsabschluss. Die Reichen glauben noch am ehesten, dass es jeder schaffen kann. Die Überzeugung, dass die anderen ja auch Reichtum erreichen hätten können, hilft Ihnen vermutlich bei der Abwehr von Schuldgefühlen angesichts der eigenen Privilegien. Reiche glauben doppelt so oft wie Arme, dass Chancengleichheit gegeben sei.