Viele Argumente werden zur Rechtfertigung von Ungleichheit ins Feld geführt, etwa der Verweis auf wirtschaftliche Dynamik oder die Freiheit. Häufig laufen diese Debatten im Hintergrund zu anderen Fragestellungen, wie ein Blick in den aktuellen Bestseller über Ungleichheit von Thomas Piketty zeigt. Und hinter manchen vermeintlich gemäßigten Positionen verbergen sich fragwürdige Grundannahmen, die es wert sind, enttarnt zu werden.
Rechtfertigungsmuster im Hintergrund von Ungleichheitsdebatten
Selten rücken öffentliche Debatten über Ungleichheit deren Rechtfertigung in den Mittelpunkt. Dabei laufen im Hintergrund eine Vielzahl von Argumenten für und gegen Ungleichheit mit, die die Debatten strukturieren.
Ein Beispiel ist Thomas Pikettys Erfolgsbuch über Ungleichheit, „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Hier geht es Piketty im Vordergrund um eine Zusammenstellung seiner empirischen Forschung der Ungleichheitsentwicklung insbesondere der vergangenen rund 200 Jahre. Seine Analyse zeigt, warum es plausibel ist, von einem weiteren Anstieg der Einkommens- und Vermögensungleichheit auszugehen, sofern nicht politisch – etwa durch Vermögensbesteuerung – gegengesteuert wird.
Nebenher jedoch findet bei Piketty eine interessante Auseinandersetzung mit Argumenten zur Rechtfertigung der Ungleichheit statt. Ein Beispiel ist sein Kapitel über Wachstumsraten. Hier beschäftigt sich Piketty mit dem langfristigen Zusammenhang zwischen Wachstum und Ungleichheit. So reduziere starkes Wachstum die relative Bedeutung bereits akkumulierter Vermögen.
Verweis auf wirtschaftliche Dynamik als abgenutztes Motiv
Piketty warnt jedoch davor, in Wachstum eine allheilbringende Kraft zu sehen. Zwar könne es den sozialen Aufstieg von Menschen erleichtern, beispielsweise weil neue Talente gefragt seien, die ein höheres Einkommen ermöglichen und damit die Vermögensverteilung korrigieren könnten. Gleichzeitig kritisiert er allerdings auch dieses Vertrauen auf den Bestimmungsfaktor Talent bei der Einkommensverteilung:
„An diesem Argument ist zwar durchaus etwas Wahres, aber es wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts allzu häufig verwendet, um jede Ungleichheit, wie groß sie auch sein und woher sie auch rühren mochte, zu rechtfertigen und die Nutznießer der neuen industriellen Wirtschaftsweise zu glorifizieren.“ (Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, S. 120)
Der interessante Punkt: In jeder historischen Situation war der Verweis auf Innovation, die gesellschaftlich wertvollen Talente, usw. nur recht, um bestehende Ungleichheit zu legitimieren und um vor deren Reduzierung zu warnen: Das würde wirtschaftliche Dynamik kosten.
Mit Pikettys Zusatz „wie groß sie auch sein (…) mochte“ wird dieses Argument jedoch in gewisser Weise bloßgestellt: Denn die Ungleichheit war, wie Piketty ausführlich zeigt, zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Und dennoch war sie dem kritisierten Argument zufolge immer genau so groß wie sie mindestens sein musste, um allen Wohlfahrt zu bringen.
Piketty rückt das Argument mit Fingerzeig auf den Kontrast zwischen historischer Kontinuität des Rechtfertigungsmusters und der sehr bewegten Geschichte der empirischen Ungleichheitsentwicklung in ein anderes Licht: Wer heute sagt, Ungleichheit sei nötig für die Innovationskraft unserer Wirtschaft, und dabei weiß: Das haben die Gewinner der Ungleichheit schon immer gesagt, der wird vielleicht noch einmal neu über diese Rechtfertigung von Privilegien nachdenken.
Die libertären Wurzeln einer verbreiteten Ungleichheitsrechtfertigung
Ein weiteres Argument, das häufig zur Rechtfertigung von Ungleichheit herhalten muss, ist die Ablehnung staatlicher „Interventionen“ in den Marktprozess mit dem Verweis auf die Freiheit des Einzelnen. Ungleichheit sei eben ein hinzunehmendes Resultat einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die Freiheit garantiere – je weniger staatliche „Eingriffe“, desto mehr Freiheit. Der politische Philosoph G. A. Cohen hat diese Argumente ausführlich unter die Lupe genommen.
Im Kern geht es Cohen dabei um eine Auseinandersetzung mit sogenannten libertaristischen Positionen, die einen „Nachtwächterstaat“ befürworten und die zunächst einmal nur von sehr wenigen geteilt werden. Cohen wirft den Libertaristen vor, sich in einer Zirkularität zu verstricken: Entweder, sie verwenden eine logisch nicht mögliche Definition der Freiheit – oder das, was sie als Freiheit bezeichnen, stimmt nicht mehr mit dem Wert überein, den der Begriff gemeinhin suggeriert.
Warum? Das übliche Verständnis von Freiheit, so Cohen, sei „Abwesenheit von Zwang“. Dies sei unabhängig von irgendwelchen Rechten (denn sonst wäre ein rechtmäßig verurteilter Mörder im Gefängnis ja nicht unfrei). Die Libertaristen nun koppeln aber den Freiheitsbegriff begrifflich an Eigentumsrechte, suggerieren dann jedoch im Sprachgebrauch, es handele sich um jene neutrale, von Rechten unabhängige Freiheitsdefinition.
Cohen weist aber auf die banale logische Wahrheit hin, dass die Freiheit am Privateigentum der einen Person immer eine Unfreiheit aller übrigen an diesem Eigentum bedeutet. Somit stimmt es, dass der staatliche Schutz dieses Privateigentums Freiheit garantiert – die des Eigentümers. Er setzt jedoch im gleichen Augenblick auch die (mögliche) Unfreiheit aller anderen mit Gewalt durch, nämlich in dem Moment, in dem ich mich gegen den Willen des Eigentümers an dessen Sache vergreifen will.
Weshalb sollte die Auseinandersetzung mit einer sonderbaren philosophischen Extremposition überhaupt interessieren? Cohen betont, dass sich auch in gemäßigteren und weit verbreiteten Varianten dieses Arguments ein rhetorischer Missbrauch des Freiheitsbegriffs verberge. Häufig werde eine vermeintlich „gesunde Mitte“ vertreten: Ein notwendiges Maß an sozialem Ausgleich muss es ebenso geben wie ein Mindestmaß an „Freiheit“. Doch auch diese, oft als „sozialliberal“ bezeichnete Position, tappt in die Zirkularitätsfalle des libertären Freiheitsbegriffs. Was sie mit „Mindestmaß an Freiheit“ bezeichnet müsste eigentlich „Mindestmaß an unreguliertem Markt“ oder so ähnlich heißen.
Warum Freiheit nicht Ungleichheit rechtfertigt
Bezogen auf die Wirtschaftsordnung hat diese begriffliche Genauigkeit Cohens eine wichtige Bedeutung: So ist es nämlich absurd, einen Staat, der nicht oder nur minimal (bspw. um Wettbewerb zu garantieren) in Marktprozesse eingreift, als einen Staat zu bezeichnen, der nicht „interveniert“ und damit Freiheit maximiert. Auch ein Minimalstaat, der „nur“ Eigentum und Marktprozesse schützt, interveniert eben auf diese Weise – mit der Einschränkung der Freiheit der Nicht-Eigentümer.
Und somit ist auch Umverteilungspolitik nicht automatisch Politik, die Freiheit reduziert. Im Gegenteil, sie kann möglicherweise die Freiheit vieler vergrößern, auch wenn sie unbestritten die Freiheit derjenigen einschränkt, deren bisheriges Eigentum sie antastet.
Der Verweis auf den Wert der Freiheit taugt daher nicht für ein Argument, das sich a priori gegen Umverteilung richtet. Sowohl mehr als auch weniger staatliche Eingriffe in Marktprozesse vergrößern und reduzieren Freiheit zugleich. Es ist eine empirische und dann normative Frage, welche konkrete Variante staatlicher Politik der Freiheit aller – wohlgemerkt nicht nur der Freiheit der Reichen! – eher zu Gute kommt.
Blumenstrauß an Rechtfertigungsmustern – weil es ans Eingemachte geht
Gerne springen Gegner der Umverteilung zwischen den Argumenten. Kommen sie mit dem Argument der wirtschaftlichen Dynamik nicht weiter, verweisen sie auf den Freiheitsbegriff – und andersherum. Je mehr Rechtfertigungsmuster, desto besser. So wird Ungleichheit mit einer Vielzahl von Rechtfertigungsmustern legitimiert: mit dem Verweis auf vermeintliche Chancengleichheit, auf den Wert der Freiheit als vermeintliches Verfahrensprinzip, mit dem Verweis auf die vermeintliche Natur des Menschen als Grund, warum Ungleichheit ökonomische Dynamik schaffe, und so weiter und so fort. Es gibt gute Argumente auch der Gegner der Umverteilung, und es ist eine Debatte, die sicher nie abzuschließen sein wird.
Es ist jedoch umso wichtiger, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu enttarnen. Und man sollte bei alle dem nie vergessen, warum viele Gegner der Umverteilung tatsächlich gegen Umverteilung sind: Ganz einfach, weil es ans Eingemachte geht.
Eine erste Vorversion dieses Beitrages erschien im Blog verteilungsfrage.org.