Unter dem Eindruck steigender Ausgaben im Gesundheitswesen wurden in den 80-er und 90-er Jahren weltweit Kostenbeteiligungen (Selbstbehalte) bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen eingeführt. Dennoch ist der Anteil der Selbstbehalte an den Gesundheitsausgaben der OECD-Staaten relativ gering geblieben; die meisten Staaten geben weiterhin der beitragsfinanzierten Sozialversicherung oder steuerfinanzierten Gesundheitsversorgungsystemen den Vorzug vor hohen Selbstbehalten.
Auch die gesetzliche Krankenversicherung (KV) in Österreich kennt Selbstbehalte (bei Medikamenten, Heilbehelfen, Hilfsmitteln und in Form von Kostenbeiträgen bei der Anstaltspflege, im Bereich des GSVG, BSVG und B-KUVG auch bei der ärztlichen Hilfe); für sozial schwächere Versicherte sind Begrenzungen (Rezeptgebührenbefreiung, Rezeptgebührenobergrenze) vorgesehen.
Die österreichische Gesundheitsausgabenquote (Gesundheitsausgaben in % des BIP ohne Langzeitpflege) liegt bei 9,3 % (2013: 30 Mrd Euro). Rund 25 % entfallen auf private Gesundheitsausgaben. Ein Teil davon sind Selbstbehalte in der gesetzlichen KV (rund 800 Mio Euro).
Der wissenschaftliche Diskurs über Selbstbehalte in öffentlichen Gesundheitssystemen
Eine von der Arbeiterkammer durchgeführte Literaturrecherche ergibt, dass die Diskussion über den Wert von Selbstbehalten im Gesundheitswesen etwa um 2004 den Höhepunkt erreicht hat. Der Diskurs führte zum Ergebnis, dass Selbstbehalte gesundheitspolitisch negative Folgen nach sich ziehen. Es liegen empirisch abgesicherte Erkenntnisse vor, dass sich 1. Selbstbehalte auf Aspekte sozialer Gerechtigkeit nachteilig auswirken, 2. die ökonomischen Lenkungseffekte äußerst schwach sind und 3. die finanzielle Ergiebigkeit von gegenläufigen Mehrausgaben überlagert wird.
Dieser Befund spiegelt sich in einer Reihe von Studien und in der Einschätzung von Reformen mehrerer Staaten darunter Schweden, Niederlande wider. Seither sind Selbstbehalte auch in Österreich kein gesundheitspolitisches Thema mehr. Zuletzt fanden sie jedoch Eingang in das neue Parteiprogramm der ÖVP.
Zielkonflikt und Funktionen von Selbstbehalten
Grundsätzlich werden Selbstbehalte in der KV aus zwei Gründen eingesetzt: Sie sollen Verhaltensänderungen mit dem Ziel auslösen, nur jene Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen, die für Diagnostik und Therapie von Krankheiten unverzichtbar sind, um Gesundheitsausgaben nachhaltig zu dämpfen (Lenkungsfunktion); auf der anderen Seite sollen durch Selbstbehalte Mehreinnahmen erschlossen werden (Finanzierungsfunktion).
Grundannahmen der Befürworter von Selbstbehalten und Einwände
Nach Auffassung ihrer Befürworter dämmen Selbstbehalte den Verbrauch von „unnötigen“ Behandlungen ein oder sollen bewirken, dass kostengünstigere Leistungen in Anspruch genommen werden. Selbstbehalte stellen demnach monetäre Anreize dar, Leistungen (ärztliche Hilfe, Medikamente etc.) vor ihrer Inanspruchnahme auf ihren gesundheitlichen Nutzen zu prüfen. Solche Maßnahmen seien notwendig, weil in beitrags- oder steuerfinanzierten öffentlichen Gesundheitssystemen durch den „kostenlosen“ Zugang zwangsläufig eine überzogene Nachfrage nach Gesundheitsleistungen entsteht. Solche rationale Entscheidungen setzen jedoch immer voraus, dass der/die Konsument/in vorher über die Art und Menge der Leistungen und über deren Preis (also „vollständig“) informiert ist, was in den meisten Fällen keine reale Grundlage hat.
Außerdem müssen Selbstbehalte hoch genug sein, um die erwünschten Verhaltensänderungen herbeiführen zu können. Je höher Selbstbehalte aber sind, desto größer ist auch die Gefahr, dass objektiv notwendige Behandlungen zu spät begonnen werden (Zugangsbarrieren).
Diesen Zielkonflikt aufzulösen ist die Quadratur des Kreises: Denn je höher Selbstbehalte sind, desto größer sind auch die negativen Lenkungseffekte, die mit nachteiligen gesundheitlichen Folgen und höheren Krankheitskosten verbunden sind. Die Inanspruchnahme von Leistungen sinkt zwar zunächst mit steigenden Selbstbehalten, es zeigt sich ist allerdings auch, dass der Finanzierungseffekt nur kurzfristig anhält und schon bald durch höhere Folgekosten nicht oder nicht sachgemäß behandelter Krankheiten wieder zunichte gemacht wird. Die schwedischen Erfahrungen in den 90iger Jahren mit hohen festen Selbstbehalten für ärztliche Hilfe zeigten, dass vor allem einkommensschwächere Personen vom Arztbesuch abgehalten wurden, obwohl gerade sie das Gesundheitssystem am meisten brauchen. Klar wurde auch, dass Ausnahmen wiederum hohe Verwaltungskosten zur Folge haben. In den Niederlanden wurden Selbstbehalte aus diesen Gründen wieder abgeschafft.
Informationsungleichgewicht und angebotsinduzierte Nachfrage
Verschärft wird dieses Problem noch dadurch, dass PatientInnen in aller Regel nicht in der Lage sind, die richtige Entscheidung über Qualität und Menge der Leistungen zu treffen, zumal sie nicht über die Fachkenntnisse von ÄrztInnen verfügen („asymmetrische Information“). Es ist demnach in erster Linie der Arzt, der die Nachfrage des Patienten bestimmt („angebotsinduzierte Nachfrage“), und nicht der Patient selbst, der allenfalls darüber entscheiden kann, ob er (rechtzeitig) einen Arzt aufsuchen (Erstkontakt) oder abwarten und sich mit Hausmitteln behandeln soll. Auch in diesen Fällen dürfte er als „medizinischer Laie“ in seiner Urteilsfähigkeit, ob die Symptome eine Hilfeleistung durch einen Arzt rechtfertigen oder nicht, überfordert sein. Insbesondere dann, wenn jemand wegen einer schwer-wiegenden Erkrankung in ein Spital eingewiesen wird, sind kaum Handlungsalternativen vorhanden. Selbstbehalte haben daher überhaupt keinen steuernden Effekt auf lebens-notwendige Leistungen. Auch bei der im Jahr 2002 eingeführten, später wieder abgeschafften Ambulanzgebühr konnte die Zahl der Ambulanzbesuche deshalb nicht reduziert werden, weil der Großteil der PatientInnen keine Wahlmöglichkeiten zwischen Ambulanz und niedergelassenen ArztInnen hatte.
Die angebotsinduzierte Nachfrage ermöglicht immer auch, dass ein durch einen Selbstbehalt ausgelöster Nachfragerückgang durch Mehrleistungen der behandelnden ÄrztInnen kompensiert werden kann.
Negative Verteilungswirkungen von Selbstbehalten
Selbstbehalte belasten vor allem chronisch Kranke. Nur rund 7 % der Versicherten nehmen 50 % der Leistungen in Anspruch. Es handelt sich dabei vorwiegend um ältere Menschen mit hohem Behandlungsbedarf. Ältere, chronisch Kranke bzw. von Natur aus krankheits-anfälligere Menschen müssen in einem stärkeren Ausmaß Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen.
Selbstbehalte treffen sozial Schwache stärker, weil sie ein höheres Krankheitsrisiko aufweisen. Einkommensschwache müssen daher einen höheren Anteil vom verfügbaren Einkommen für Selbstbehalte aufwenden als Gesunde. Selbst durch eine Deckelung des Selbstbehaltes kann dieser Effekt nicht zur Gänze beseitigt werden. Selbstbehalte treffen überdies unterschiedliche Berufsgruppen nicht gleich. So sind Angehörige von Berufsgruppen mit besonderem Gesundheitsrisiko (zB Bauarbeiter) relativ stärker von Selbstbehalten betroffen als andere.
Insgesamt wird durch Selbstbehalte die soziale Gerechtigkeit des Gesundheitssystems unterminiert; es ist nicht fair, Finanzierungslasten der gesetzlichen KV auf Kranke zu verlagern. Das gilt besonders für ältere Menschen, die ihr ganzes Erwerbsleben Beiträge bezahlt haben und dann, wenn sie Leistungen benötigen, „doppelt“ zahlen müssen.
Selbstbehalte verletzen Grundprinzipien des österreichischen Gesundheitssystems
Selbstbehalte widersprechen dem Versicherungsprinzip der Sozialversicherung. Dieses beruht darauf, dass Menschen unabhängig von einem Ereignis und im Voraus für einen eventuellen Versicherungsfall bezahlen, um sich gegen die finanziellen Folgen abzusichern. Selbstbehalte werden erst beim Eintritt eines Gesundheitsproblems fällig. Der Finanzierungseffekt beschränkt sich daher auf Kranke, verschont aber die Gesunden.
Das zeigt auch, dass Selbstbehalte im krassen Widerspruch zum Solidarprinzip der KV stehen, das davon ausgeht, dass die Gesunden für die medizinische Behandlung der Kranken aufkommen. Die Finanzierung erfolgt dabei nach dem „Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“; dabei werden Beiträge vom jeweiligen Arbeitsverdienst eingehoben, die Leistungen jedoch nach dem Bedarf erbracht. Dieses Solidarprinzip wird durch die Pflicht zur Entrichtung eines Selbstbehalts im Erkrankungsfall verletzt („Krankensteuer“). Besonders für kleinere Einkommen ist belastend, dass erhebliche Teile des Haushaltseinkommens für die eigene Gesundheit oder für jene der Familienangehörigen verwendet werden müssen.
Zugleich wird auch das Bedarfsprinzip der KV (Erbringung bedarfsnotwendiger Leistungen) durch Selbstbehalte unterhöhlt, zumal bewusst in Kauf genommen wird, dass infolge der abschreckenden Wirkung von Selbstbehalten vielfach auch Gesundheitsleistungen unterhalb des tatsächlichen Bedarfs erbracht werden könnten.
Da Selbstbehalte ausschließlich Versicherte treffen, entfernt sich die Finanzierung der KV mit jedem neuen Selbstbehalt vom Prinzip der Beitragsparität. Selbstbehalte sind nicht wie SV-Beiträge vor Steuern zu zahlen. Kassen mit Selbstbehalten beim Arztbesuch (SVA, BVA) haben höhere Verwaltungskosten als die Gebietskrankenkassen.