„Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu.“ Diesen Satz hat Ödön von Horváth uns ÖsterreicherInnen schon vor fast 100 Jahren ins Stammbuch geschrieben. Spätestens seit den über 70 Leichen in einem abgestellten Kleinlaster im Burgenland im Herbst 2015 und der Silvesternacht in Köln scheint es die „österreichische Seele“ wieder zu zerreißen: Hier die „Refugees welcome“-Transparente, dort die „Ausländer raus“-Parolen.
Dazwischen eine brisante Mischung: Flüchtlinge, AsylwerberInnen, subsidiär Schutzberechtigte … Unzählige Begriffe, die gerne verwechselt, vermischt oder sonst wie durcheinandergebracht werden, bis sich niemand mehr auskennt. Dazu eine Politik, die immer schneller zwischen Hilflosigkeit und Brachial-Maßnahmen hin- und herschwingt. Zäune, die nicht so genannt werden dürfen, und Richtwerte, die vielleicht auch Obergrenzen sein könnten. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte diese brisante Mischung ganze Kabarettabende füllen. So aber werden andere politische Themen in Österreich zugedeckt und es entsteht ein wirklich gefährlicher Sog nach unten.
Angst ist kein guter Ratgeber
Brisante Mischungen erzeugen oft diffuse Ängste. Daher gilt: nicht verharmlosen und nicht dramatisieren, sondern Fakten darstellen. Als meine albanische Familie vor über 50 Jahren nach Österreich flüchtete, war nicht nur die Sprache zu erlernen. Wir Kinder waren mehrfache „Dolmetscher“ für die Familie, weil es ja auch riesige kulturelle Unterschiede gab. Die Richtung für unsere Integration gab dabei mein Vater mit dem Satz vor: „Man muss so tanzen, wie die Musik spielt.“
Bevorzugte Region
Gar zu leicht vergessen wir in Österreich, dass wir in einer bevorzugten Region der Welt leben. Nicht nur, dass Demokratie und Menschenrechte fixer Bestandteil unserer Kultur sind und auch aus unseren Wasserhähnen wirklich gutes Trinkwasser fließt, gilt es an 1955 zu erinnern, als am Balkon des Belvedere der Ruf erklang: „Österreich ist frei!“
Damit ist bei uns Realität, wovon Menschen in vielen Teilen der Welt, wo Diktatur und Korruption herrschen, nur träumen. Wenn diese den Mut haben, ihre Heimat für immer zu verlassen, werden sie bei uns als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet. Es sollte schon mindestens ein Bürgerkrieg toben, damit wir unsere Mischung aus Angst und Zynismus ablegen und über Integration nachdenken.
Balance finden für Integration
Noch schwieriger wird es, wenn wir versuchen – am Beginn des 21. Jahrhunderts –, unsere Kultur zu beschreiben, in welche sich ja die „Neu-Hinzugekommenen“ integrieren sollen. Längst ist die Wirtschaft mit dem Zauberwort „Markt“ zur treibenden Kraft geworden und hat den Einfluss von Politik, Religion und Kunst weit zurückgedrängt. „Hast du etwas anzubieten? Rechnet es sich?“ erscheinen so als die einzig zulässigen Fragen dieses Marktes.
Weil aber der Mensch mehr ist als nur arbeitender Konsument und weil in unserem Leben auch andere Werte gelten sollen als nur jene, die über den Ladentisch gehen, müssen wir eine neue Balance finden. Das ist ein schwieriges Unterfangen, vergleichbar mit einem Seiltanz.
Bestimmend für einen neuen Kurs
Als GewerkschafterInnen können wir uns nicht mit den Defiziten einer Gesellschaft zufriedengeben, wie sie der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner beschreibt: Er sieht den Mangel an Gerechtigkeit, den Mangel an Gemeinschaft und den Mangel an Sinn als wesentlich.
Wir müssen diese Mängel bekämpfen und unsere Gesellschaft in eine soziale Ausgewogenheit bringen, die auch Aufnahme und Integration ermöglicht. Irgendwelche Integrationskurse werden da nicht ausreichen, vielmehr müssen wir dem derzeitigen „Sog“ entgegentreten und bestimmend für einen neuen Kurs werden!
Dieser Beitrag ist als Kommentar in der Arbeit&Wirtschaft 3/2016 erschienen, die sich unter dem Titel „Weitsicht gefragt“ den sehr kontroversiell diskutierten Themen Flucht und Integration widmet.
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