Primärversorgung in Öster­reich – wie kann sie flächen­deckend umgesetzt werden?

26. August 2024

Die Primärversorgung soll die Versorgung von kranken Menschen koordinieren und eine ganzheitliche Betreuung und Behandlung auch unter Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen gewährleisten. Ziel ist, die Gesundheit zu fördern, die Prävention zu stärken und eine effiziente Krankenbehandlung insbesondere für Kinder und Jugendliche, chronisch Kranke und die ältere Bevölkerung sicherzustellen. Nachdem die Gründung von Primärversorgungseinheiten (PVE) nach dem Primärversorgungsgesetz (PrimVG) nur langsam voranschreitet, ist es wichtig, Kooperationsformen zwischen Einzelordinationen und anderen Gesundheitsberufen zu fördern.

Chronische Erkrankungen erfordern eine integrierte Versorgung

Durch die Bevölkerungsentwicklung (steigendes Durchschnittsalter) sind chronische Erkrankungen in unserem Gesundheitssystem zur Herausforderung geworden. Knapp 66 Prozent der österreichischen Bevölkerung leiden an einer chronischen Krankheit. Die Zahl der an Diabetes mellitus erkrankten Personen in Österreich wird auf 800.000 geschätzt. 90 Prozent der Betroffenen sind an Diabetes Typ 2 erkrankt. Chronische Erkrankungen brauchen strukturierte Betreuungsprogramme und spezialisierte Behandlungszentren. Für die Patient:innen braucht es einen niederschwelligen Zugang, dieser kann durch PVE und Gruppenpraxen gewährleistet werden. Im Falle von chronischen Erkrankungen ist eine patient:innenorientierte Versorgung entscheidend. Die Versorgung sollte wohnortnah, leicht erreichbar und dennoch möglichst individualisiert angeboten werden. In PVE und Gruppenpraxen besteht ein hoher Grad an Zusammenarbeit von unterschiedlichen Gesundheitsberufen: Hier arbeiten Allgemeinmediziner:innen bzw. Fachärzt:innen eng mit Pflegekräften und z. B. Diätolog:innen, Ernährungsberater:innen und Sozialarbeiter:innen zusammen. Durch den effizienten Einsatz der unterschiedlichen Berufe und die stetige bedarfsorientierte Begleitung kann eine hohe Therapiequalität erreicht und Folgeerkrankungen können vermieden werden.

Umsetzung der Primärversorgung – der aktuelle Stand

Nach derzeitigem Stand wurden 69 PVE in Österreich gegründet. Ein Bericht des Rechnungshofes aus 2021 zeigt, dass im Vergleich zum Zielwert von 5 Prozent bis 2021 Ende 2018 nur 0,78 Prozent der österreichischen Bevölkerung in PVE versorgt wurden. Ende 2023 wurden immerhin 5,17 Prozent der Bevölkerung in PVE versorgt. 2018 waren 89 Prozent aller Allgemeinmediziner:innen mit Kassenvertrag in Form einer Einzelpraxis tätig. In Hinblick darauf und weil die Umstellung auf PVE nur freiwillig erfolgt, wird es noch längere Zeit in Anspruch nehmen, bis ein signifikanter Teil der Bevölkerung in Primärversorgungseinheiten versorgt werden kann. Aus diesem Grund ist es wichtig, einen Blick auf die Möglichkeiten der Stärkung der Primärversorgung außerhalb des PrimVG, also außerhalb von PVE, zu werfen.

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Die Gesundheitsreform 2024

Das im Zuge der letzten Gesundheitsreform erlassene Vereinbarungsumsetzungsgesetz 2024 (VUG 2024) sieht als Zielsetzung die Förderung der ambulanten Versorgung, insbesondere der Primärversorgung, vor. Weiters wird zur Optimierung der Patient:innenströme und -wege der Grundsatz „Digital vor ambulant vor stationär“ etabliert. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Gesundheitsreform finanzielle Mittel für Primärversorgung vorgesehen. Die finanziellen Mittel sollen zum einen der Anschubfinanzierung (z. B. für Infrastruktur), aber auch zur Abgeltung des finanziellen Mehraufwandes (z. B. für die Beiziehung anderer Gesundheitsberufe) dienen. Das Gesundheits-Zielsteuerungsgesetz (G-ZG) sieht den Ausbau des ambulanten, insbesondere niedergelassenen Bereichs, vorrangig in multiprofessionellen Versorgungsformen vor.

Primärversorgung außerhalb des Anwendungsbereiches des PrimVG

Primärversorgung wird in Österreich derzeit vor allem durch niedergelassene Ärzt:innen für Allgemeinmedizin in Einzelordinationen bzw. Gruppenpraxen angeboten. Bei ihrer Tätigkeit werden sie durch andere Gesundheitsberufe, wie z. B. Ordinationsassisten:innen und Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe, unterstützt. Damit eine PVE nach dem PrimVG vorliegt, braucht es zwingend einen Primärversorgungsvertrag mit der Österreichischen Gesundheitskasse. Es ist auch außerhalb des Anwendungsbereichs des PrimVG rechtlich möglich, dass Allgemeinärzt:innen im Rahmen ihrer Einzelordination auf der Basis von nur im Innenverhältnis bindenden Kooperationsverträgen zusammenarbeiten, dass sie sich zu Gruppenpraxen zusammenschließen oder dass selbstständige Ambulatorien allgemeinärztliche Leistungen erbringen. Dies auch dann, wenn sie Angehörige der gehobenen Krankenpflegeberufe beschäftigen und damit rein personell die Anforderungen des PrimVG erfüllen würden. Die Etablierung von Plattformen für die Kooperation zwischen Ärzt:innen für Allgemeinmedizin und Kinder- und Jugendfachärzt:innen sowie anderen Gesundheitsberufen (z. B. Diätolog:innen oder Physiotherapeut:innen) könnte die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen fördern. Auf diesem Weg könnten auch Ärzt:innen, die in Einzelordinationen arbeiten, Netzwerke bilden, die zwar nicht die rechtlichen Anforderungen nach dem PrimVG erfüllen, aber eine integrierte Versorgung der Patient:innen sicherstellen.

Leistungen nichtärztlicher Gesundheitsberufe in PVE

Bei Gründung einer PVE enthält der Primärversorgungsvertrag die zu erbringenden Leistungen und die entsprechende Abgeltung dafür, sowohl hinsichtlich der ärztlichen Hilfe als auch hinsichtlich der nichtärztlichen Gesundheitsberufe. Die Leistungen von Angehörigen nichtärztlicher Gesundheitsberufe werden derzeit entweder durch Pauschalzahlungen (z. B. die Übernahme der Gehälter) abgegolten oder es erfolgt eine Abrechnung auf Basis bestehender Kassentarife oder sonstiger Sondervereinbarungen.

Die PVE erhält daher die Abgeltung für die nichtärztlichen Leistungen. Im Innenverhältnis erfolgt die Abgeltung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe entweder über eine Anstellung oder über eine Beteiligung am Gewinn. Zweiteres ist erst seit der Novellierung des PrimVG im Jahr 2023 möglich, da nun auch nichtärztliche Gesundheitsberufe Gesellschafter von PVE in Form von Gruppenpraxen sein können. Wünschenswert wäre hierbei allerdings, dass nichtärztliche Gesundheitsberufe sich auch mehrheitlich an einer Gruppenpraxis beteiligen können, damit ein Arbeiten auf Augenhöhe gewährleistet wird. Das Honorar, das die Sozialversicherung einer PVE für Leistungen nichtärztlicher Gesundheitsberufe zur Verfügung stellt, sollte als Richtwert für die Gewinnbeteiligung dienen.

Leistungen nichtärztlicher Gesundheitsberufe außerhalb von PVE

Außerhalb von PVE sollte der Zugang zu und die Abrechenbarkeit von berufsrechtlich eigenständig erbrachten Leistungen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege oder Leistungen der Medizinisch-Technischen Dienste verbessert werden. Das spielt z. B. dann eine Rolle, wenn Ärzt:innen mit anderen Gesundheitsberufen Kooperationsvereinbarungen schließen und die kooperierenden Gesundheitsberufe freiberuflich Leistungen erbringen.

Die Krankenbehandlung nach § 133 ASVG wird durch die ärztliche Hilfe erbracht. Diese wird neben Ärzt:innen in unterschiedlichen Organisationsformen auch durch andere Berufsgruppen gewährt, deren Behandlungen jener der ärztlichen Hilfe gleichgestellt werden. Die gleichgestellten Gesundheitsberufe und teilweise die konkreten Handlungsfelder sind dabei gesetzlich abschließend aufgezählt. Nicht in der taxativen Auszählung enthalten sind Leistungen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege und der Diätologie, die jedoch für eine umfassende Versorgung vor allem bei chronischen Erkrankungen oft erforderlich sind. Bei einer Aufnahme dieser Leistungen ins ASVG wären diese Leistungen konkret zu definieren. Eine selbstständige Mitwirkung dieser Gesundheitsberufe wäre jedenfalls bei den Behandlungspfaden von Disease-Management-Programmen angezeigt. In Österreich gibt es derzeit nur das Betreuungs- und Therapieprogramm für Typ-2-Diabetiker:innen – Therapie aktiv. Es besteht jedoch das klare Ziel, auch für weitere chronische Erkrankungen strukturierte Behandlungsprogramme zur integrierten Versorgung in Österreich zu etablieren. Die eigenverantwortliche Tätigkeit von Personen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege und der Diätologie könnten hierbei einen maßgeblichen Versorgungsanteil erfüllen. Ein weiteres Tätigkeitsfeld, das von Gesundheits- und Krankenpfleger:innen nach ärztlicher Anordnung als gleichgestellte Leistung erbracht werden könnte, wäre das Wundmanagement.

Schlussbemerkung

Naturgemäß kann die Umstellung auf Primärversorgungs-Strukturen nicht übergangslos erfolgen. Zu hoffen ist, dass sowohl auf Ärzt:innen- als auch auf Patient:innenseite die Vorteile der Primärversorgung erkannt werden: ein niederschwelliger Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen auch an Tages- und Wochenendzeiten bei gleichzeitig verbesserter Work-Life-Balance für Ärzt:innen, Kontinuität in der Behandlung für Patient:innen, Vermeidung von Doppelbefundungen und geringere Wartezeiten für Patient:innen. Auf dem Weg dahin sollte eine integrierte Versorgung der Patient:innen auch außerhalb von PVE zügig sichergestellt werden. Dazu ist insbesondere eine verstärkte Kooperation von Ärzt:innen untereinander und mit anderen Gesundheitsberufen sowie die Verankerung von Abgeltungsmöglichkeiten nichtärztlicher Gesundheitsleistungen außerhalb von PVE notwendig.

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