Nach langen Verhandlungen hat Mitte Juli das europäische Parlament mit knapper Mehrheit doch für ein Renaturierungsgesetz gestimmt. Im Herbst beginnt nun der Trilog zwischen EU-Kommission, Rat und Parlament. Warum ist es so wichtig, dass es starke Gesetze zur Biodiversität gibt?
Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) warnte 2019 eindringlich, dass sich der Zustand der Ökosysteme weltweit in einer extremen Geschwindigkeit verschlechtert und sich der Verlust der Artenvielfalt beschleunigt. Die Wissenschafter:innen sprechen von einem nie dagewesenen Massensterben. Von den acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit sind eine Million Arten vom Aussterben bedroht, wenn nicht gegengesteuert wird. Mehr als 85 Prozent der weltweiten Feuchtgebiete sind in den letzten Jahrhunderten durch menschliches Zutun verloren gegangen, 33 Prozent der Korallenriffe und Meeressäugetiere sind in ihrer Existenz gefährdet. Auch die Wissenschafter:innen des Weltklimarates IPCC warnen in ihrem jüngst erschienenen Klimabericht sehr eindringlich: Ohne wirksame und gerechte Maßnahmen zur Eindämmung und Anpassung bedroht die Klimaerhitzung zunehmend Ökosysteme, die biologische Vielfalt sowie die Lebensgrundlagen, die Gesundheit und das Wohlergehen heutiger und künftiger Generationen.
Biodiversitätskrise – Bedrohung für den Menschen?
Der Biodiversitätsexperte und Wissenschafter des Jahres 2022, Dr. Franz Essl, gibt ebenfalls einen klaren Befund dazu ab: Dass einzelne Arten hie und da verschwinden und andere auftauchen, ist der Verlauf der Natur über Millionen von Jahren. Jedoch, die Dosis macht das Gift. Was früher ein seltenes Ereignis war, ist heute ein tagtägliches – durch die Übernutzung und Zerstörung von Lebensräumen durch eine Spezies, den Menschen. Da ökologische Funktionen verloren gehen, kommt es vermehrt zu Überschwemmungen, weil die Auen durch Kraftwerke und Dämme beeinträchtigt sind. Lawinen und Muren gehen ab, weil Schutzwälder nicht mehr intakt sind. Mit dem Verschwinden vieler Bestäuber ist die Bestäubung sowohl unserer Nutzpflanzen als auch der Wildpflanzen nicht mehr gesichert. Das sind langsame Prozesse, die aber in Summe wie viele kleine Wassertropfen zu einer großen Welle anwachsen, ein hohes destruktives Potenzial haben und gravierende gesellschaftliche Probleme verursachen.
Österreich liegt im negativen Trend
Österreich zählt aufgrund seiner topografischen und klimatischen Verhältnisse im mitteleuropäischen Vergleich zu den artenreichsten Ländern, wie Maria Stejskal-Tiefenbach und Stefan Schindler in ihrem Artikel schreiben. Aufgrund der ausgeprägten Geomorphologie von den tiefsten Lagen rund um den Neusiedler See bis hinauf zu den vergletscherten Regionen der Alpen besitzt Österreich auch eine große Formenvielfalt an Fließgewässern und stehenden Gewässern.
Es beherbergt rund 2.900 autochthone Farn- und Blütenpflanzen, rund 8.500 Algen, Moose und Flechten, 85 Säugetierarten, 430 Vogelarten, von denen 256 zumindest einmal als Brutvogel bestätigt wurden, 14 Reptilien- und 21 Amphibienarten sowie 84 Fischarten. Bei den Wirbellosen geht man von über 46.000 Arten aus. Die in Österreich vorkommenden Pilze werden auf rund 10.000 Arten geschätzt. Die Gesamtartenvielfalt Österreichs beträgt demnach rund 68.000 Arten.
Auch vor Österreich macht das Artensterben nicht halt. So sind laut Umweltkontrollbericht 44 Prozent der Lebensräume und 34 Prozent der Arten in einem ungünstigen bzw. schlechten Zustand. Besonders besorgniserregend sind die Erhaltungszustände der Lebensraumtypen und Arten in den Ökosystemen Salzlebensräume und Dünen, Süßwasserlebensräume und Moore. Auch der Erhaltungszustand von Käfern, Reptilien, Fischen, Krebsen, Amphibien und der Niederen Pflanzen ist besorgniserregend. Die Zahl der Insekten, die zentral zum Erhalt der biologischen Vielfalt und über ihre Bestäubungsleistung wesentlich für die Ernährungssicherung beitragen, ist rückläufig. Die Österreichische Biodiversitätsstrategie 2030+ soll hier eine Trendumkehr einleiten. Die Ziele orientieren sich an denen der EU-Biodiversitätsstrategie 2030, für die Umsetzung in Österreich ist ein umfassendes Maßnahmenbündel vorgesehen. Was es für die Umsetzung braucht, sind gute Rahmenbedingungen, wie eine ausreichende Finanzierung. Der österreichische Biodiversitätsrat, bestehend aus Forscher:innen und Expert:innen aus den Bereichen Biodiversität, Landschaftsgestaltung und Naturschutz, spricht von einer Milliarde Euro, die jährlich zur Verfügung gestellt werden sollte. In Österreich obliegt der Natur- und Biodiversitätsschutz den Bundesländern. Ein Biodiversitätsgesetz hätte den Vorteil, einen verbindlichen rechtlichen Rahmen zur Umsetzung von Maßnahmen zu schaffen.
Zwillingskrise Klima und Biodiversität
Franz Essl spricht von einer „Zwillingskrise“, denn die Biodiversitäts- und die Klimakrise hängen zusammen: „Beide Krisen haben dieselbe Ursache – sie sind die Folge eines zu großen Ressourcenverbrauchs. Wir leben sozusagen ökologisch auf Kredit, und jeder weiß, auf Kredit lässt sich nicht unbegrenzt leben. Treibhausgase sind der Abfall, der am Ende des Kreislaufs entsteht, und unsere Mülldeponie ist hier die globale Atmosphäre. Diese Treibhausgase sind unsichtbar, geruchlos und auch nicht giftig, aber sie verändern die Zusammensetzung der Atmosphäre – das führt zum Klimawandel. Etwa ein Viertel der Treibhausgase entsteht dabei nicht durch die Verbrennung fossiler Energie, sondern direkt aus der Zerstörung der Natur. Wenn Waldflächen gerodet werden oder Landwirtschaft intensiv betrieben wird, so entstehen Methan oder Lachgas, die wiederum zum Klimawandel beitragen. Wer Arten und Lebensräume schützt, schützt auch das Klima.“
Das bedeutet im Umkehrschluss: Naturschutz und Klimamaßnahmen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Bahnbrechendes Weltnaturabkommen
Im Dezember 2022 einigten sich 200 Vertragsstaaten im Rahmen der Weltnaturkonferenz (COP15) in Montreal auf ein neues „Weltnaturabkommen“ mit ambitionierten Zielen, um die biologische Vielfalt zu erhalten und zu schützen.
Bis zum Jahr 2030 sollen mindestens 30 Prozent der Landschaft und der Meere zu Schutzgebieten werden. Damit soll eine Trendumkehr bei der Biodiversitätskrise erreicht werden. Derzeit sind weltweit rund 15 Prozent der Landfläche und rund 7,5 Prozent der Meere geschützt. Die Länder verpflichten sich, mehr Geld in den Schutz der Artenvielfalt zu investieren: Reichere Länder sollen ärmere Länder bis 2025 mit 20 Milliarden Dollar jährlich, danach mit 30 Milliarden Dollar im Jahr unterstützen. Schließlich sind die reicheren Länder mit ihrem hohen Ressourcenverbrauch stärker verantwortlich – sowohl für den Verlust der Artenvielfalt als auch für die Klimakrise. Weiters sollen weltweit 500 Milliarden umweltschädliche Subventionen abgebaut und die Risiken aus Pestiziden und Düngemitteln für die Natur halbiert werden. Diese international vereinbarten Regeln sind – wie das Pariser Abkommen zum Klimaschutz – ein völkerrechtliches Abkommen. Die Umsetzung und der Erfolg dieser Vereinbarung hängen vom politischen Willen der einzelnen Staaten ab und dass die vereinbarten Gelder tatsächlich fließen. Damit könnte eine Trendumkehr zum Schutz der Arten und Lebensräume eingeleitet werden – wenn Klimaschutz und Artenschutz gemeinsam gedacht werden.
Biodiversität retten, statt Umweltschädigung subventionieren
Was also tun, um den Artenschwund aufzuhalten. Auch hierzu hat Dr. Franz Essl eine klare Meinung: „Es mangelt weder in der Klimapolitik noch in der Biodiversitätspolitik an politisch verbindlichen Beschlüssen. Es gibt seit Herbst 2022 globale Biodiversitätsziele bis 2050, zu denen sich auch Österreich bekennt und die in der österreichischen Biodiversitätsstrategie verankert sind. Entscheidend ist jetzt, das umzusetzen, wozu wir uns verpflichtet haben.“ Dafür sind die Rahmenbedingungen zu schaffen, um diese Ziele zu erreichen. Dazu gehört auch eine ausreichende Finanzierung. Das Geld dafür ist da. Eine Studie des WIFO hat jüngst gezeigt: Es werden allein in Österreich noch immer 5,7 Mrd. Euro für umweltschädigende Subventionen ausgegeben – jährlich!
Es gibt ausreichend politische Beschlüsse, um die Artenvielfalt weltweit zu erhalten. Nun heißt es: Ins Tun kommen. Das Renaturierungsgesetz, das auf europäischer Ebene beschlossen werden soll, ist ein wichtiger Baustein dafür.
Das Interview mit Dr. Franz Essl kann in der aktuellen Ausgabe der „Wirtschaft & Umwelt“ mit dem Schwerpunkt Biodiversität in voller Länge nachgelesen werden. Weitere Artikel dieses Schwerpunkts finden Sie in der WUM 2/2023.