Arbeit und Klima: Was sich hinter der geplanten Reform der Nachhaltigkeitskapitel in EU-Handelsabkommen versteckt

02. September 2022

Ende Juni 2022 präsentierte die Europäische Kommission ihre Pläne für eine stärkere Verankerung von Nachhaltigkeitszielen in EU-Handelsabkommen. Dabei finden sich viele schöne Formulierungen und der (nicht neue) Anspruch, die Nachhaltigkeitsagenden in Zukunft entschiedener zu verfolgen. Gleichzeitig bleibt die EU-Kommission bei ihrer grundsätzlichen neoliberalen Ausrichtung. Dass sich diese Kombination schlecht ausgeht, ist offensichtlich.

Die Überarbeitung der Nachhaltigkeitskapitel

Die nun veröffentlichte Kommissions-Mitteilung ist ein weiterer Schritt in einem jahrelangen Prozess, die EU-Handelspolitik mit Nachhaltigkeitsfragen zu verknüpfen. Vor mehr als zehn Jahren verankerte die EU in ihren bilateralen Handelsabkommen erstmals Regelungen zu Arbeits- und Umweltstandards. Im Zuge der Neuausrichtung der EU-Handelspolitik führte die EU-Kommission 2021 eine Konsultation zu den Nachhaltigkeitskapiteln durch. Sie beauftragte außerdem eine Vergleichsstudie, die sich der Frage widmet, wie Nachhaltigkeitsthemen in Handelsabkommen von Drittstaaten geregelt sind. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob der bisher von der EU-Kommission verfolgte Ansatz, bei der Durchsetzung von Arbeits- und Umweltrechten ausschließlich auf Dialog und Kooperation zu setzen, wirksam ist oder ob nachgeschärft und Sanktionen bei Verstößen verhängt werden sollten.

Nachhaltigkeitskapitel: Zahnlose Papiertiger?

Seit Jahren kritisieren Gewerkschaften und NGOs die Nachhaltigkeitskapitel in EU-Handelsabkommen als ineffektiv, bürokratisch und Feigenblatt für die bestimmenden restlichen, ganz und gar nicht nachhaltigen Teile der Abkommen. Bisher finden sich in den Nachhaltigkeitskapiteln nur unverbindliche Willensbekundungen hinsichtlich der Verbesserung von Arbeits- und Umweltstandards. Bei Verstößen oder einer mangelnden Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen gibt es letztlich keine Sanktionsmöglichkeiten. Das Handelsabkommen zwischen der EU und Südkorea, das erste Abkommen, das ein Nachhaltigkeitskapitel beinhaltet, veranschaulicht die Problematik. Nach mehreren Verstößen dauerte es Jahre, bis die Missachtung mehrerer Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) überhaupt Gegenstand des bilateralen Streitbeilegungsmechanismus wurde. Durch die fehlenden Sanktionierungsmöglichkeiten standen am Ende nur Vorschläge, wie Südkorea die Missstände beheben sollte. Ob das Land diese nun aufgreift und umsetzt, kann die EU wiederum lediglich im Rahmen des Dialogprozesses einmahnen.

Der Fall Südkorea ist keine Ausnahme. Diverse Studien zeigen, dass die in EU-Handelsabkommen verankerten arbeitsrechtlichen Bestimmungen häufig nicht in der Lage sind, die negativen Effekte auf Arbeitsbedingungen durch verstärkten Wettbewerbsdruck abzufedern oder auszugleichen. Die Ausrichtung der Handelsabkommen an sich, die dem Profitstreben transnationaler Konzerne Vorrang gegenüber breit geteiltem Wohlstand, guten Arbeitsbedingungen sowie Klima- und Umweltschutz einräumt, führt zu vielfältigen negativen Konsequenzen für Beschäftigte und Umwelt. In den genannten Studien gibt es klare Belege dafür, dass Beschäftigte in wirtschaftlichen Sektoren, die auf Grundlage von EU-Handelsabkommen geöffnet wurden, Verschlechterungen ihrer Arbeitsbedingungen erfahren oder ihre Arbeitsplätze sogar verloren haben. Die alternativen Arbeitsplätze, die in den ökonomischen Vorabeinschätzungen der Handelsabkommen versprochen wurden, kamen in vielen Fällen nicht im angekündigten Ausmaß. Vielfach dokumentiert sind auch negative ökologische Auswirkungen von Produktionspraktiken entlang von Lieferketten, die auf Kosten der Umwelt und des Klimas gehen.

Wo sieht die Europäische Kommission Verbesserungsbedarf?

An der grundlegenden Einschätzung und Ausrichtung der EU-Handelspolitik, dass Handelsabkommen einen wichtigen Beitrag zu wirtschaftlichem Wachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen leisten würden, hält die EU-Kommission auch in der vorliegenden Mitteilung fest. Nach wie vor preist sie die positiven Effekte von Wachstum an, während die oben ausgeführten Schattenseiten der Globalisierung unter den Teppich gekehrt werden. Bei der Umsetzung und Überwachung hinsichtlich von in Handelsabkommen vereinbarten Arbeits- und Umweltrechten soll die Gangart allerdings erhöht werden. Neben kleineren Prozessvorschlägen wie z. B. einer stärkeren Beteiligung der Zivilgesellschaft oder des Europäischen Parlaments schlägt die Kommission nun als große Neuerung vor, dass bei künftigen Abkommen als letztes Mittel Sanktionen bei schweren Verstößen verhängt werden sollen.

Weshalb Einschränkung auf schwere Verstöße?

Mit diesem Vorschlag greift die EU-Kommission eine langjährige Forderung von Gewerkschaften, Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen auf. Allerdings ist die Sichtweise der EU-Kommission sehr eng geführt. Einerseits sollen Sanktionen nur bei schwerwiegenden Verstößen gegen ILO-Kernarbeitsnormen oder das Pariser Klimaabkommen verhängt werden. Diese Einschränkung ist weder gerechtfertigt noch nachvollziehbar, bilden doch beispielsweise die Kernarbeitsnormen den internationalen arbeitsrechtlichen Mindestschutz, für den es keinen Schwergrade von Verstößen gibt. Hier stellt sich die Frage, was der EU-Kommission etwa als nicht schwerwiegender Fall von Zwangsarbeit oder von Repression gegen gewerkschaftliches Engagement vorschwebt.

Andererseits sollen Sanktionsmechanismen für Nachhaltigkeitskapitel erst in künftigen Handelsabkommen Eingang finden. Die beträchtliche Anzahl an bestehenden oder bereits fertig verhandelten bilateralen Handelsabkommen soll unangetastet bleiben. Darunter befinden sich Länder wie z. B. Ägypten oder Kolumbien mit zum Teil katastrophalen menschen- und arbeitsrechtlichen Bedingungen. Die Kommission lässt in ihrer Mitteilung auch offen, ob dieser neue Zugang bei bereits laufenden Verhandlungen zur Anwendung kommen wird. Insofern stellt sich die Frage, welche Wirkmächtigkeit überhaupt erzeugt werden kann, wenn ausschließlich bei zukünftigen Verhandlungspartnern Sanktionen bei Verstößen gegen grundlegende Sozial-, Arbeits- und Umweltnormen in Betracht gezogen werden.

Vor allem aber geht es nicht nur um die Frage, wie der Streitschlichtungsprozess bei Nichteinhaltung bzw. bei Verletzungen von Nachhaltigkeitsverpflichtungen gestaltet wird. Bereits zu Beginn von Gesprächen zu Handelsabkommen müssen Nachhaltigkeitsfragen in den Mittelpunkt gerückt werden. Zudem müssen soziale sowie ökologische Ziele gegenüber wirtschaftlichen Interessen priorisiert werden. In diesem Sinn ist Grundvoraussetzung, dass vor Verhandlungsbeginn alle zehn ILO-Kernarbeitsnormen von allen Vertragsparteien ratifiziert, in nationales Recht umgesetzt und angewandt werden. Eine Leerstelle fällt in diesem Zusammenhang in der Mitteilung ganz besonders auf: Die EU-Kommission erwähnt mit keinem Wort, dass bei der Einhaltung von Arbeitsrechten die Zusammenarbeit mit der ILO gestärkt werden muss. Wenn die Europäischen Institutionen eng mit der ILO kooperieren, könnte dies deren Arbeit größeres politisches Gewicht verleihen und damit Arbeitsbedingungen wirkungsvoll verbessern. Außerdem müssten keine unnötigen, kostenintensiven Doppelstrukturen geschaffen werden.

Und der Klimawandel?

Was die Thematisierung des Klimawandels und des Beitrags der Handelspolitik zu dessen Bekämpfung anbelangt, fokussiert die EU-Kommission in ihrer Mitteilung auf die Liberalisierung von Umweltgütern und -dienstleistungen und damit auf die Ausweitung der Handelstätigkeit. Vergeblich sucht man in der Mitteilung allerdings die Thematisierung der Umwelt- und Klimaschädlichkeit des Handels selbst sowie des internationalen Gütertransports. Die Emissionen des mit Handel verbundenen Frachtverkehrs sind beträchtlich und dürfen nicht unterschätzt werden. Der Klimawandel ist längst zur Realität geworden, wie die vermehrten Hitzewellen, Dürren oder Unwetterkatastrophen zeigen. Umso unverständlicher ist es, dass die Frage der mit dem Handel verbundenen Treibhausgasemissionen bisher in den Papieren der Kommission nicht aufschlägt.

Ein wichtiges Anliegen ist der EU-Kommission darüber hinaus die Sicherstellung des Zugangs zu Rohstoffen wie Lithium, Kobalt oder Nickel über EU-Handelsabkommen. Diese sind notwendig für eine grüne, dekarbonisierte Wirtschaft sowie für die Energiewende. Wenn die EU-Kommission über die EU-Handelspolitik nachhaltige Entwicklung fördern möchte, dann müsste sie auch die negativen Auswirkungen des Rohstoffabbaus thematisieren. Dieser geht häufig mit Umweltkatastrophen, schweren Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung von Beschäftigten und auch oft mit Kinderarbeit einher. Dafür braucht es ebenso Lösungen wie für eine global gerechte Verteilung der vorhandenen Rohstoffe. Denn der ökologische Umbau ist weltweit umzusetzen und sollte als gemeinsames, kooperatives Projekt verstanden werden.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Kapitel für Nachhaltigkeit ausreichend?

Nicht zuletzt gilt, dass die Nachhaltigkeitskapitel – auch in der nun vorgeschlagenen Form – nur einen kleinen Teil der Verpflichtungen aus Handelsabkommen umfassen. Selbst wenn diese effektiv wären und entsprechende arbeits-, umwelt- und klimarelevante Verpflichtungen und Sanktionsmechanismen beinhalten würden, blieben die Handelsabkommen in anderen Bereichen weiterhin hochproblematisch. Zu nennen ist beispielsweise die einseitige Bevorzugung von Investor:innen über Investitionsschutzklauseln. Auch sogenannte Regulierungskooperationen, die in undemokratischen Strukturen stattfinden und unsere Arbeits-, Gesundheits-, Konsument:innen- und Umweltschutzsysteme gefährden, oder fehlende Ausnahmen für zentrale öffentliche und versorgungswichtige Dienstleistungen müssen kritisch hinterfragt werden. Darüber hinaus ist das europäische Vorsorgeprinzip, das auf ein hohes Schutzniveau unserer Gesundheit und der Umwelt abzielt, in EU-Handelsabkommen nicht verankert.

Wenn es der EU-Kommission nicht nur rhetorisch darum geht, die EU-Handelspolitik in den Dienst des notwendigen sozial-ökologischen Umbaus zu stellen, wird es nicht reichen, nur an der kleinen Schraube der Nachhaltigkeitskapitel zu drehen. Es braucht eine gänzliche Neuausrichtung der EU-Handelspolitik, die die Reduktion der Treibhausgase, den sozial-ökologischen Umbau der Volkswirtschaften sowie Wohlstandsüberlegungen für alle in den Mittelpunkt der Handelspolitik rückt. Sämtliche bereits bestehenden bilateralen Handelsabkommen erfüllen weder in Bezug auf Arbeitsbedingungen noch hinsichtlich ökologischer Standards die Anforderungen, die für eine sozial gerechte Weltwirtschaft notwendig wären. Es besteht also dringender Handlungsbedarf.

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