Seit Anfang 2013 ist die Evaluierung psychischer Belastungen explizit im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) festgeschrieben. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist das Thema auch im betrieblichen Alltag in aller Munde. Stress, Druck, Burn-Out gab es freilich schon vor der Gesetzesänderung. Doch der eindeutige Hinweis des Gesetzgebers hier tätig zu werden, macht nun eine Befassung mit der Thematik am Arbeitsplatz unumgänglich. Die Gelegenheit wäre günstig die Arbeitswelt an aktuelle und künftige Anforderungen anzupassen. Leider üben sich viele Arbeitgeber/-innen bzw. deren Vertreter/-innen vornehmlich in Strategien des Selbstbetrugs. Das Ignorieren psychischer Arbeitsbelastungen bleibt scheinbar weiterhin das Gebot der Stunde.
Evaluierung psychischer Belastungen
Im § 4 des ASchG ist die Verpflichtung der/des Arbeitgebers/-in festgelegt sämtliche Gefahren für Sicherheit und Gesundheit zu ermitteln und zu beurteilen. Daraus müssen dann Maßnahmen abgeleitet werden, welche geeignet sind die Gefahren gänzlich zu eliminieren oder zumindest auf ein akzeptables Restrisiko zu minimieren. Dieser Prozess der Gefahrenerhebung und Maßnahmensetzung wird als Arbeitsplatzevaluierung bezeichnet.
Seit Einführung des ASchG 1995 besteht die Evaluierungsverpflichtung. Eine Einschränkung nur auf körperliche Gefahren hat es dabei nie gegeben. Deshalb sind seit gut zwanzig Jahren sämtliche physische und psychische Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten systematisch zu betrachten und auszuschalten. Tatsache ist jedoch, dass die meisten Unternehmen seit beinahe 20 Jahren den psychischen Bereich völlig unberücksichtigt lassen. Während etwa im Bereich der Arbeitsunfälle mithilfe der Evaluierung enorme Erfolge erzielt werden konnten, wurden Gefährdungen der Psyche schlicht ignoriert. Der Gesetzgeber sah sich deshalb veranlasst eine Klarstellung vorzunehmen und die psychische Komponente der Evaluierung explizit im Gesetz zu verankern.
Umsetzung im betrieblichen Alltag
Die Gesetzesänderung erzielte den gewünschten Erfolg und die Evaluierung psychischer Belastungen rutschte auf die innerbetriebliche Arbeitsschutz-Agenda. Die Fragen, welche dabei aufgetaucht sind (Wie geht das? Wer kann das? usw.) und welche mitunter noch immer einer befriedigenden Antwort harren, werden an dieser Stelle bewusst nicht thematisiert. Viel zentraler als die Frage der operativen Umsetzung ist zunächst der betriebliche Umgang mit der Thematik an sich. Manche Unternehmen bzw. betriebliche Akteure/-innen schienen schon regelrecht auf eine gesetzliche Regelung gewartet zu haben. Ein gewisser Leidensdruck aufgrund von Langzeitkrankenständen und Ausfällen geschätzter Mitarbeiter/-innen war dort schon spürbar. Andere Arbeitgeber/-innen jedoch waren wie vom Donner gerührt: Die Feststellung des Gesetzgebers, dass der Betrieb für die psychische Gesundheit seiner Beschäftigten mitverantwortlich sein soll, passte so gar nicht ins Weltbild der Kostenoptimierer/-innen, Personaleinsparer/-innen und Rationalisierer/-innen.
Wie das Problem ignoriert wird
Dass psychische Überlastung am Arbeitsplatz zu Fehlbeanspruchung und somit zu Krankheit führen kann gilt als wissenschaftlich gesichert. Da der gesundheitliche Schaden allerdings kaum auf eine konkrete Belastungssituation oder einen konkreten Zeitpunkt zurückgeführt werden kann (wie etwa beim Arbeitsunfall) ist die Evaluierung in diesem Bereich eine Herausforderung. Seitens mancher Unternehmen hat man allerdings schon seit Jahren bewährte Strategien entwickelt die eigene Verantwortung wegzuargumentieren. Für den Bandscheibenvorfall des Lagerarbeiters war beispielsweise stets das private „Häusl bauen“, aber niemals das Tragen schwerer Lasten im Betrieb verantwortlich. Die Tatsache, dass nur zwei Jahre am Eigenheim, aber Jahrzehnte im Betrieb geschuftet wurde, wurde schlicht ignoriert. Der Anteil der betrieblichen Verantwortung am Schaden ist hier nur schwer zu ermitteln und zu beweisen. Gute Voraussetzungen also um die Problematik zu ignorieren oder sich einzureden, dass der Betroffene selbst Schuld sei.
Immer weniger Beschäftigte müssen heute in schnellerer Zeit, höhere Qualität und mehr Output liefern, wobei die Leistungsschraube quasi jährlich angezogen wird. Dass dies enormen psychischen Druck auslöst liegt auf der Hand. Doch es sind angeblich die Scheidungen, die Betreuungspflichten, die instabilen Persönlichkeiten oder das mangelnde Selbstmanagement, welche als Auslöser für psychische Erkrankungen herhalten müssen. Die Wirtschaftskammer OÖ empfiehlt beispielsweise hierzu „die vielen privaten Stressfaktoren zu identifizieren bzw. abzubauen und nicht den Arbeitgeber dafür verantwortlich zu machen“ (siehe Presseaussendung vom 29.7.2014). Psychische Krankheiten, welche von der Arbeit (mit-)verursacht werden, werden auf diese Weise individualisiert. Die erkrankte Person ist „selbst schuld“, dass sie es nicht schafft. Ihr weiteres Schicksal liegt in den Händen von GKK, AMS oder PVA – auf Kosten der Allgemeinheit versteht sich. Man gibt sie nach Ausschöpfung der Arbeitskraft der Gesellschaft wieder zurück.
Ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren
Nun wird man auf Seiten der Arbeitnehmervertretung niemanden finden, der behauptet, dass psychische Krankheiten ausschließlich von der Arbeit herrühren. Es ist stets ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren – privater wie beruflicher. Allerdings verbringen Beschäftigte einen erheblichen Anteil ihres wachen Lebens am Arbeitsplatz. Eine gänzliche Negierung der betrieblichen Mitverantwortung, wie sie von einigen Arbeitgebervertretern/-innen gerne praktiziert wird, ist also absolut unrealistisch.
Es muss schließlich die Frage gestellt werden, wem diese Ignoranz nützt? Mit dem Abschieben der Verantwortung auf den Privatbereich werden die betrieblichen Probleme nicht gelöst! Die Menschen werden weiter erkranken, wenn die Arbeitsbedingungen sich nicht verbessern! Langzeitkrankenstände und Verluste von wertvollen Mitarbeitern/-innen werden die Unternehmen weiterhin massiv treffen! Und selbst wenn man tatsächlich an ausschließlich private Ursachen glauben würde: Wollen Betriebe keine Personen mehr beschäftigen die verheiratet sind (wegen „Scheidungsgefahr“)? Will man keine Beschäftigten mehr, die Kinder haben (wegen möglicher Belastung durch Betreuungspflichten)? Keine Arbeitnehmer/-innen mehr, in deren Umfeld es zu Krankheits- und Todesfällen kommen kann? Offenbar ist manchen Vertretern/-innen der Wirtschaft nicht klar, dass Menschen kommen, wenn man nach Arbeitnehmern/-innen ruft. Wer solch eine Haltung einnimmt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen für ein unmenschliches System zu stehen.
Fazit
Das Ignorieren psychischer Fehlbeanspruchungen im Betrieb verursacht menschliches Leid und schadet den Betrieben. Eine umfassende Evaluierung kann die Situation deutlich verbessern. Dabei sollte es nicht darum gehen „schuldige Chefs“ im Unternehmen zu identifizieren, sondern systemimmanente Belastungsfaktoren auszuschalten. Das Anpacken von „heißen Eisen“ wird vielen Betrieben dabei nicht erspart bleiben: Personalbemessung, Arbeitszeitgestaltung und Führungskultur sind nicht die einzigen, aber wesentliche Ansatzpunkte. Wer sich bei der Maßnahmenableitung auf Stressmanagement-Seminare und Supervisionsangebote beschränkt, wird arbeitsbedingte psychische Erkrankungen nicht nachhaltig in den Griff bekommen. Es gibt bereits einige mutige Unternehmen, die dies erkannt haben und in vorbildlicher Weise die richtigen Schritte setzen. Diese werden in Anbetracht einer älter werdenden Beschäftigtenstruktur künftig im Vorteil sein. Andere werden möglicherweise auf der Strecke bleiben. Verleugnung ist hier also eine wahrhaft unwirtschaftliche Haltung.