Saure-Gurken-Zeit? Ausbeutung für die „Gurkenhauptstadt“

11. Dezember 2023

In der von der Landwirtschaftskammer zelebrierten „Gurkenhauptstadt Österreichs“ schuften vorwiegend migrantische Erntearbeiter:innen unterentlohnt unter miserablen Arbeitsbedingungen. Eine massive Ausbeutung in der Wiener Gemüseproduktion, der mit Organizing zu begegnen ist. Die sezonieri-Kampagne setzt gemeinsam mit PRO-GE und AK Wien erste Schritte.

„Ich brauche eine Pause“, ein allein stehender Satz in der Mitte des Flipcharts. Groß in Schwarz geschrieben, wobei „brauche“ rot unterstrichen ist, so wie das letzte „e“ von „eine“. So oft werden die sitzenden Schüler:innen den Satz wiederholen, bis er sitzt, so oft wird die stehende Lehrerin sie auffordern, den Satz laut zu wiederholen, bis die Betonung richtig, die Aussprache einwandfrei ist. Eine Pause von stundenlanger schwerer Erntearbeit, ohne Unterbrechung, zwölf Stunden am Tag, mindestens sechs Tage die Woche.

Schauplatz ist der wöchentliche Deutschkurs in Wien-Simmering, den wir heuer von Mai bis Oktober jeden Sonntag den migrantischen Erntearbeiter:innen in der Gemüseproduktion angeboten haben. Wir, das ist die sezonieri-Kampagne für die Rechte von Erntearbeiter:innen in Österreich, in einer Kooperation mit der Arbeiterkammer Wien und der Produktionsgewerkschaft PRO-GE.

Der Kurs war kostenlos, niederschwellig, offen für alle Sprachniveaus, das Einsteigen jederzeit möglich. Flyer wurden auf Flohmärkten, in rumänischen Kirchen und direkt in den Unterkünften der Erntearbeiter:innen verteilt. Das Angebot umfasste dabei nicht nur das Erlernen der deutschen Sprache. Die Arbeiter:innen erhielten Informationen über ihre Arbeitsrechte, Interessenvertretungen und Anlaufstellen sowie Unterstützung in anderen Lebensbereichen. Eine Fortsetzung ist geplant.

Organizing

Die sezonieri-Kampagne wurde als Aufklärungskampagne von der Produktionsgewerkschaft PRO-GE, unabhängigen Aktivist:innen und NGOs gegründet und verfolgt das Ziel, die Beschäftigten in der Landwirtschaft über ihre Arbeits- und Sozialrechte zu informieren. Nach wie vor ist Aufklärung wesentlicher Teil unserer Arbeit, in erster Linie durch sogenannte „Feldaktionen“ – regelmäßig werden bundesweit mehrsprachige Infomaterialien auf landwirtschaftlich genutzten Feldern verteilt – und Info-Hotlines. Doch im Laufe der Jahre bestätigte sich die Annahme, dass Informationen allein nicht ausreichen. Auch wenn viele der Arbeitnehmer:innen wissen, was ihnen zusteht, nehmen sie die Missstände in Kauf, aus Angst ihren Job zu verlieren. Verständlicherweise, denn obwohl die Mehrheit seit vielen Jahren alljährlich nach Österreich kommt, muss jedes Jahr ein neuer Vertrag unterschrieben werden. Manchmal gibt es nicht einmal einen Vertrag, informelle Arbeit ist üblich.

Zustand & Missstände

In der Wiener Landwirtschaft arbeiten rund 1.500 migrantische Personen, eine genaue Zahl ist nicht bekannt. Geschätzt 90 Prozent sind aus Rumänien, die restlichen 10 Prozent stammen aus Serbien, Bulgarien und der Ukraine. Sie ernten – neben Tomaten, Paprika und Melanzani – vor allem jene Gurken, die Wien zur „Gurkenhauptstadt“ Österreichs gemacht haben. Mit einer Eigenversorgungsrate von 30 Prozent ist Wien damit in Sachen Stadtlandwirtschaft europaweit an der Spitze.

Die Teilnehmer:innen des Deutschkurses arbeiten auf der Simmeringer Haide, in kleineren oder größeren Betrieben, 12 Stunden pro Tag, mindestens 60 bis 70 Stunden pro Woche und haben – wenn überhaupt – nur einen einzigen Tag in der Woche frei. Sie berichten von fehlenden oder falschen Anmeldungen zur Sozialversicherung (offiziell Teilzeitbeschäftigte, die tatsächlich mindestens Vollzeit arbeiten), von Überstunden und Zuschlägen, die nicht abgegolten werden. Je nach Betrieb ändern sich die Arbeitsbedingungen, allen gemeinsam ist eine eklatante Unterentlohnung. Den kollektivvertraglich geregelten Netto-Stundenlohn von 7,94 Euro bekommt keine:r von ihnen, mit 5 oder 6 Euro pro Stunde werden sie abgespeist. Wer nicht angemeldet und daher nicht krankenversichert ist, bekommt Medikamente aus der Apotheke von der Chefin, wer gekündigt wird, muss die Unterkunft sofort verlassen. Im Frühling musste eine Familie aus Rumänien deshalb im Wald übernachten.

Empowerment anhand eines konkreten Beispiels

Ein Kursteilnehmer, der massiv unterentlohnt wird und kein Weihnachts- und Urlaubsgeld bekommt, beschließt zum Ende der Saison, ausstehende Ansprüche einzufordern. Wir stärken ihm den Rücken und nehmen mit seiner Arbeitgeberin Kontakt auf. Als „unfair“ bezeichnet diese die Tatsache, „dass der Arbeiter, bislang fleißig und brav, nun Probleme macht“. Eine informelle Verhandlung, die die ungleichen Machtverhältnisse offenbart: Will der Arbeiter nächstes Jahr wieder in Simmering arbeiten, darf er keine Probleme machen; soll also auf seine Ansprüche verzichten. Um nächstes Jahr wieder arbeiten zu können, verzichtet der Arbeiter auf den vollen Anspruch – ca. 2.000 Euro – und akzeptiert die angebotenen 500 Euro. Ein schlechter Deal? Keinesfalls! Vielmehr ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Der Erfolg ist folgender: Der Arbeiter erfährt über seine Arbeitsrechte und tritt für diese ein. Seine Arbeitsstelle verliert er dabei nicht. Zugleich bekommt seine Arbeitgeberin vermittelt: Beliebig bestehende Arbeitsrechte zu verletzen, das bleibt nicht unbeobachtet. Ihr gegenüber steht nun kein ausgelieferter unwissender Arbeitnehmer (mehr). Ein kleiner Erfolg, der nur durch Aufklärung und Organizing-Arbeit möglich war. Derartige Fälle haben nicht zuletzt einen Multiplikatoreffekt. Sie verbreiten sich rasch, sowohl unter den Arbeitnehmer:innen als auch unter den Arbeitgeber:innen in der Region.

Wie kann die Situation verbessert werden?

Grafik: Faire Arbeitsbedingungen für Erntearbeiter:innen © A&W Blog
© A&W Blog


Um die Situation der Landarbeiter:innen zu verbessern, greifen einige Maßnahmen sofort. Andere Themen, wie die Machtkonzentration des Lebensmittelhandels auf einige wenige Konzerne, müssen langfristig, an anderer Stelle diskutiert werden. Die Landwirtschaftskammer und die verantwortliche staatliche Aufsicht müssen daher umgehend folgende Forderungen umsetzen:

  • Mehrsprachige Arbeitsverträge zur Verfügung stellen
  • Arbeiter:innen dabei unterstützen, Lohnabrechnungen von Gewerkschaft und Arbeiterkammer überprüfen zu lassen
  • Deutschkurse für Erntearbeiter:innen mit Migrationsbiografie anbieten
  • Keine Gehaltsauszahlung in bar: Lohn darf nur noch auf ein Girokonto ausgezahlt werden
  • Verstärkte und unangekündigte Kontrollen durch die Land- und Forstwirtschaftsinspektion sowie durch die ÖGK
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