Das Bedrückendste an der europäischen Krise ist die Verbohrtheit, mit der die Führung Europas ihre Politik als die einzig mögliche darstellt und jede politische Erschütterung fürchtet, die dieses schöne Gleichgewicht stören könnte. Es ist Zeit einzusehen, dass die europäischen Institutionen selbst in Frage stehen und es keine Politik des sozialen Fortschritts ohne eine demokratische Neugründung Europas geben kann. Das heißt konkret: wenn man weitere Skandale wie LuxLeaks wirklich verhindern will, muss man alle Entscheidungen über die Besteuerung großer Unternehmen durch Mehrheitsbeschluss treffen.
Zynismus-Preis für den Kommissionspräsidenten
Der Preis für den größten Zynismus geht zweifellos an Jean-Claude Juncker, der nach den Enthüllungen von LuxLeaks den fassungslosen Europäern in aller Seelenruhe erklärt, er habe seinerzeit als Premier Luxemburgs gar keine andere Wahl gehabt, als den Nachbarn ihr Steueraufkommen abzugraben. Schauen Sie, die Industrie meines Landes lag darnieder, also musste eine neue Entwicklungsstrategie her. Was konnte ich anderes tun, als Luxemburg zur übelsten Steueroase auf Erden zu machen? Da werden sich die Nachbarn freuen. Als hätten sie nicht selber seit Jahrzehnten mit der Deindustrialisierung zu kämpfen.
Mit Entschuldigungen ist es nicht länger getan. Es ist Zeit einzusehen, dass die europäischen Institutionen selbst in Frage stehen und es keine Politik des sozialen Fortschritts ohne eine demokratische Neugründung Europas geben kann. Das heißt konkret: wenn man weitere Skandale wie LuxLeaks wirklich verhindern will, muss man sich von der Regel der Einstimmigkeit in fiskalpolitischen Belangen verabschieden und alle Entscheidungen über die Besteuerung großer Unternehmen (und idealerweise auch hoher Einkommen und großer Vermögen) durch Mehrheitsbeschluss treffen. Falls Luxemburg und andere Länder sich dem verweigern, sollte das die reformwilligen Länder nicht davon abhalten, einen harten Kern zu bilden, um auf diesem Weg voranzugehen und die nötigen Sanktionen über diejenigen zu verhängen, die weiterhin von finanzieller Intransparenz zu leben gedenken.
Deutsch-französischer Gedächtnisverlust
Der Preis für den größten Gedächtnisverlust wiederum gebührt Deutschland, mit Frankreich auf einem guten zweiten Platz. 1945 hatten beide Länder eine Staatsschuld von über 200% ihres BIP. 1950 war sie auf weniger als 30% gesunken. Was war geschehen? Waren die Haushaltsüberschüsse mit einem Mal hoch genug, um eine solche Schuld zu begleichen? Offenbar nicht. Deutschland und Frankreich verdankten den Abbau ihrer Schulden der Inflation und, schlicht und einfach, der Repudiation, also der Nichterfüllung ihrer Verbindlichkeiten. ichHätten sie versucht, Jahr für Jahr Haushaltsüberschüsse von 1-2% zu erzielen, säßen sie nicht allein heute noch auf ihren Schulden, sondern es wäre ihren Nachkriegsregierungen auch sehr viel schwerer gefallen, in Wachstum zu investieren. Und just diese beiden Länder sind es, die seit 2010/11 den südeuropäischen Ländern erklären, ihre Schulden müssten bis auf den letzten Euro beglichen werden. Wie kurzsichtig dieser Egoismus ist, zeigt der 2012 auf Drängen Deutschlands und Frankreichs verabschiedete neue Haushaltsvertrag, der über die Durchführung von Sparmaßnahmen in Europa wacht (mit einem extrem raschen Defizitabbau sowie einem völlig wirkungslosen System automatischer Sanktionen) und zu einer Ausweitung der Rezession geführt hat – während überall sonst, in den Vereinigten Staaten wie in den Ländern der Europäischen Union, die nicht der Eurozone angehören, die Wirtschaft wieder angezogen hat.
Und Verlogenheit
Den Preis für die größte Verlogenheit schließlich hat sich innerhalb dieses Duos eine französische Führung verdient, die ihre Zeit damit verbringt, alle Schuld auf Deutschland zu schieben, obwohl es sich zweifelsfrei um eine geteilte Verantwortung handelt. Von der alten Mehrheit noch unter Sarkozy ausgehandelt und von der neuen ratifiziert, hätte der neue Haushaltsvertrag nicht ohne jenes Frankreich verabschiedet werden können, das sich in Wahrheit so gut wie Deutschland zum Egoismus gegenüber Südeuropa entschlossen hat. Wenn man schon von sehr niedrigen Zinssätzen profitiert, wozu sie mit anderen teilen? In Wahrheit kann mit 18 verschiedenen Staatsschulden und 18 verschiedenen Zinssätzen, auf die die Märkte ungehindert spekulieren können, keine gemeinsame Währung funktionieren. Man müsste massiv in Bildung, Innovation und grüne Technologien investieren, aber was man tut, ist das genaue Gegenteil. Für die Zahlung von Schuldzinsen wendet Italien derzeit über 6%, für sämtliche Universitäten des Landes weniger als 1% seines BIP auf.
Linke Bewegungen könnten Bewegung bringen
Welche Schocks könnten die Dinge 2015 in Bewegung bringen? Es gibt, grob gesprochen, drei Möglichkeiten: Eine neue Finanzkrise, ein politischer Schock, der von der Linken, und ein politischer Schock, der von der Rechten ausgeht. Die europäische Führung sollte klug genug sein, um zu erkennen, dass die zweite Möglichkeit die mit Abstand beste ist. Die politischen Bewegungen, die heute am linken Rand gedeihen, wie Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland, sind zutiefst internationalistisch und proeuropäisch. Statt sie abzulehnen, sollte man mit ihnen zusammenarbeiten, um die Grundlinien einer demokratischen Neugründung Europas zu umreißen. Andernfalls läuft man große Gefahr, es mit einem Schock zu tun zu bekommen, der viel beunruhigender ist, nämlich einem, der von der Rechten ausgeht. In Anbetracht des neuen französischen Wahlsystems ist es durchaus möglich, dass der Front National bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 in ganzen Regionen den Sieg davonträgt. Aber in dieser Zeit darf man auch auf das Unmögliche hoffen. So wie es um ihn steht, wäre François Hollande gut beraten, sich seine Irrtümer von 2012 einzugestehen und Südeuropa die Hand zu reichen, um endlich mutigere Vorschläge für die Zukunft unseres Kontinents auszuarbeiten.
Anmerkung: Dieser Artikel erschien ursprünglich in Liberation am 2.1.2015, und wurde in der deutschen Übersetzung im aktuellen Buch: Thomas Piketty: Die Schlacht um den Euro. Interventionen. Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Lorenzer; 175 Seiten, € 14,95, Verlag C.H.Beck 2015 publiziert.