Mehr als die Hälfte der Menschen auf der Flucht sind Frauen und Mädchen. In vielen Ländern, aus denen Frauen derzeit fliehen, werden sie faktisch und/oder rechtlich diskriminiert. Aber die Genfer Flüchtlingskonvention kennt keine frauenspezifischen Fluchtgründe. In der Praxis fallen frauen- und geschlechtsspezifische Verfolgung (wozu auch Homosexualität gehört) unter Verfolgung als „soziale Gruppe“. So bleiben die tatsächlichen Gründe unsichtbar.
Soha nahm mit ihren vier Töchtern ein Boot in Richtung Europa. Bereits in Küstennähe begann das Schiff zu sinken, nur sie trug eine Rettungsweste, an der sich die Töchter festhielten. Sie war viel zu schwach, um allen Halt zu geben, und doch unfähig zu entscheiden, welche Tochter sie loslassen sollte, um den anderen das Überleben zu sichern. Die Zeit nahm ihr die Entscheidung ab: Nach zwei Stunden starb ihr jüngstes, dreijähriges Kind, einige Stunden später sanken die beiden älteren Geschwister ins Meer – und nach sechs Stunden rettete die Küstenwache Soha und ihre älteste Tochter. Sohas Geschichte wurde vom Journalisten Karim El-Gawhary aufgezeichnet. Das Besondere: In den meisten anderen Flüchtlingserzählungen sind die Protagonisten Männer.
Unterschiedliche Erfahrungen auf der Flucht
Amscha wiederum steht für viele jesidische Frauen: Vor ihren Augen erschoss der IS ihren Bruder und ihren Vater, sie wurde verkauft und bis zu ihrer Flucht versklavt und missbraucht. Geflüchtete Frauen dienen als Referenzpunkt für hochemotionale Berichterstattung oder wenn es um sexuelle Gewalt geht. „Gewöhnliche“ Geschichten wie jene von Ruba Suleimane, die sich mit ihrer Tochter allein nach Europa durchgeschlagen hat, nachdem ihr Mann an der Grenze zurückgeschickt wurde, erfährt man kaum. Sie erzählte sie bei der Veranstaltung „Frauen auf der Flucht“ der Universität Hamburg. Kriegerische Konflikte betreffen Frauen mehrfach und intensiver. Zu allen Zeiten gehörten systematische Vergewaltigungen zum Repertoire der Kriegsführung. Dazu kommen: Genitalverstümmelung, sexualisierte Folter, Frauenmord, Zwangssterilisation, Zwangsverheiratung, Steinigung und Arbeits- und Bildungsverbot.
In vielen Ländern, aus denen Frauen derzeit fliehen, werden sie faktisch und/oder rechtlich diskriminiert. Irene Khan, Generaldirektorin der International Development Law Organization, sagte dazu am Barbara-Prammer-Symposion zu Jahresbeginn: „Frauen stehen vielfach unter männlicher Vormundschaft. In vielen Ländern mangelt es an Rechtsstaatlichkeit und rechtlicher Gleichstellung. Oft fehlt Frauen die Möglichkeit zur eigenständigen Gestaltung ihres Lebens, zu Bildung und Selbstbestimmung über Körper und Eigentum.“ Und wo es kaum Gleichheit und Unabhängigkeit gibt, steigt die Gewalt gegen Frauen. „Wer Flüchtlingsfrauen effektiv beschützen will, muss bereit sein, die rechtliche Diskriminierung von Frauen weltweit zu bekämpfen“, so Khan.
Im Übrigen kennt die Genfer Flüchtlingskonvention keine frauenspezifischen Fluchtgründe. In der Praxis fallen frauen- und geschlechtsspezifische Verfolgung (wozu auch Homosexualität gehört) unter Verfolgung als „soziale Gruppe“. So bleiben die tatsächlichen Gründe unsichtbar. Seit 2005 wird in Deutschland geschlechtsspezifische Verfolgung als Asylgrund anerkannt, in Österreich nicht. In der Rechtspraxis soll es zwar berücksichtigt werden, unterliegt aber starken Schwankungen, wie NGOs kritisieren. Im Jahr 2013 definierte eine EU-Aufnahmerichtlinie Frauen mit Gewalterfahrungen als „schutzbedürftige Personen“ mit besonderem Anrecht auf medizinische und psychologische Betreuung. In Österreich wurde diese Richtlinie jedoch bisher nicht umgesetzt. Die Frauenorganisation LEFÖ forderte daher speziell geschultes und sensibilisiertes Personal im Asylverfahren. Derzeit kann nur das Geschlecht des/der Asyl-Interviewers/Interviewerin gewählt werden.
Unterwegs in den sicheren Hafen?
„Restriktive Migrations- und Fluchtpolitik erhöhen die Möglichkeit von Ausbeutung, Gewalt, Druck, Erpressung von Frauen drastisch“, kritisiert Renate Blum von LEFÖ. Neben finanzieller Ausbeutung sind Frauen auf der Flucht sexueller Gewalt und Nötigung ausgesetzt. Die extremen Fluchtbedingungen wie kilometerlange Märsche durch die Wüste oder Gebirge setzen Frauen besonders zu. Oft verzichten sie nahezu völlig auf das Trinken, um sich nicht in kompromittierende Situationen zu begeben. Das Netzwerk Africa-Europe-Interact organisierte in Rabat (Marokko) eine Rasthaus-Wohnung, um Frauen und ihren Kindern zumindest für einige Wochen Schutz auf ihrer Odyssee zu bieten.
Volle, unsichere Heime
Frauen haben oft Schwierigkeiten, Wasser, Lebensmittel oder Hilfsgüter für den alltäglichen Gebrauch zu erhalten, da sie sich als Familien ohne männliches Familienoberhaupt weniger durchsetzen können. Angekommen in Europa, sind die Massenquartiere der Lager oft kein sicherer Hafen. Sexuelle Belästigungen oder gar Übergriffe, nicht nur von Mitflüchtlingen, und viele Konflikte gehören zum Alltag. Die Organisation „Women in Exile“ etwa klagte die Übergriffe des Sicherheitspersonals in einem Flüchtlingslager in Köln an: „Wir sind alle täglich betroffen von sexueller Belästigung im Lager. Es gibt keine Frauen, die nicht eine Geschichte von aufdringlichen Blicken, widerlichen Kommentaren, unerwünschtem Anfassen oder gar versuchter oder tatsächlicher Vergewaltigung erzählen könnten.“ In Österreich gibt es ein Haus für allein reisende geflüchtete Frauen mit ihren Kindern, in Traiskirchen wird ein Trakt eigens bewacht, was als Anerkennung der problematischen Situation zu werten ist.
Mit der Anerkennung des Asylstatus beginnt der lange Prozess des Heimisch-Werdens. Für Frauen gibt es dabei mehrere Hürden, die meist damit beginnen, dass sie später Deutschkurse und arbeitsmarktpolitische Förderung erhalten als Männer. Frauen, die über die Familienzusammenführung nach Österreich kommen, erhalten meist einen Aufenthaltstitel, der über ihre Ehemänner definiert ist. Kommt es zur Scheidung, laufen die Frauen Gefahr, abgeschoben zu werden.
Frauen sind zudem oft von doppelter Diskriminierung betroffen, sexistischer wie rassistischer. Vermehrt berichten Frauen, die ein Kopftuch tragen, bespuckt, beschimpft, bedroht und belästigt zu werden. Die meisten Frauen möchten arbeiten, doch als (kulturübergreifend) Hauptverantwortliche der Familienarbeiten starten sie mit einer Doppelbelastung. Die ersten Schritte in den Arbeitsmarkt gehen oft in die Care-Ökonomie, oft sind sie mit einer Dequalifizierung verbunden – und sie sind meist prekär. Reinigungskräfte sind meist die Einzigen, bei denen es tragbar zu sein scheint, dass sie auch mit Kopftuch arbeiten.
Globale Ketten
Die Arbeitsteilung im Privathaushalt wiederum erinnert die Wissenschafterin Brigitte Young an das Verhältnis von Herrin und Magd: Frauen der Mehrheitsgesellschaft mit vergleichsweise stabilen, gut bezahlten Jobs beschäftigen Migrantinnen, abhängig und schlecht bezahlt. In der Soziologie spricht man von „globalen Betreuungsketten“. Zugespitzt gesagt: Die Polin putzt und betreut in Österreich, währenddessen sorgt sich eine Weißrussin um ihre Kinder. „Migration ist die Antwort auf globale Ungleichheit“, bringt es Assimina Gouma auf den Punkt, Mitbegründerin der Kritischen Migrationsforschung (KriMi). Und sie ist eine „soziale Bewegung“, die eine gesellschaftliche Veränderung erfordert. Wie dieser Wandel mitzugestalten ist, wäre eine Aufgabe der Politik. Diese suggeriert, dass es sich bei der „Flüchtlingskrise“ um ein zeitlich begrenztes Phänomen handelt, klammert sich an eine Unterscheidung zwischen politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen, als würden Begrifflichkeiten wie diese Migration stoppen.
Mehr Gleichheit und Autonomie
„Es braucht legale, sichere und geordnete Einreisemöglichkeiten für Menschen, die auf der Flucht sind“, fordert LEFÖ. Dies sei eine wesentliche Voraussetzung, um das grausame Schlepperwesen und die Erpressbarkeit von Frauen tatsächlich zu bekämpfen. In Zeiten wie diesen traut sich kaum jemand, öffentlich globale Reisefreiheit zu fordern. Für die Freiheit globaler Finanzbewegungen hingegen gibt es namhafte BefürworterInnen. Solidarität brauchen nicht nur Frauen, die nach Europa geflüchtet sind, sondern auch solche, die in ihren Heimatregionen bleiben – Unterstützung für mehr Gleichstellung und Autonomie.
Linktipp: Initiative für geflüchtete Frauen: frauenaufderflucht.wordpress.com