EU – wohin taumelst Du?

17. Januar 2014

An regelmäßige Hiobsbotschaften bezüglich der Zunahme von Armut und Arbeitslosigkeit in der EU scheinen sich viele Entscheidungsträger schon fast gewöhnt zu haben. Die Veröffentlichung entsprechender Statistiken, wie etwa des „Beschäftigungs- und Sozialberichts der Kommission“ im Oktober 2013, findet nur wenig Widerhall in der öffentlichen Diskussion – zumindest hierzulande.

Tiefe soziale Verwerfungen

Dabei sind die Fakten erschütternd: Die Jugendarbeitslosigkeit bleibt auf einem Höchstwert: 23 Prozent im EU-Schnitt, 63 Prozent in Griechenland. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist in den meisten Staaten weiter gestiegen und EU-weit auf Rekordstand. Mit absolut 26 Mio. Menschen ohne Arbeit ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie noch nie seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren, und es zeichnet sich kurz- und mittelfristig auch kein nennenswerter Rückgang ab. Zusätzlich hat sich die Kluft in Europa in den Krisenjahren vertieft. Während sich einige „Kern-Länder“ der Eurozone wie Deutschland und Österreich relativ wacker durch die mageren Jahre geschlagen haben, stürzen „Peripherie-Länder“ wie Griechenland oder Spanien immer tiefer in die Krise.

Als Reaktion darauf gibt es seitens der Europäischen Kommission (EK) immer wieder schüchterne Versuche zu einer „Stärkung der sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion“, wie der Titel einer Mitteilung der EK von Anfang Oktober 2013 lautet. Aber viel mehr als die Einführung eines neuen „Scoreboards“ für Sozialindikatoren, als „Analyse-Werkzeug“ ohne jegliche Konsequenzen, hat die EK nicht zu bieten. Sieht man von den – auch schon üblichen – moralischen Appellen für die stärkere Einbeziehung der Sozialpartner ab, die ebenso geflissentlich ignorieren, dass in vielen Mitgliedsstaaten der Einfluss der Arbeitnehmerorganisationen und der Gewerkschaften systematisch zurückgedrängt wird.

Man könnte der EK jetzt vorwerfen, dass sie den „Kopf in den Sand steckt“ oder eine „Augen zu und durch“ Strategie verfolgt, kompetenzmäßig hat sie aber im Sozialbereich gebundene Hände: Die EU ist zwar eine Wirtschafts- und Währungsunion, aber (noch) keine Sozialunion. Da waren die Mitgliedsstaaten bisher immer vor und haben eifersüchtig über ihre Kompetenz gewacht. Vor dem Hintergrund der – in manchen EU-Staaten nur mehr als dramatisch zu bezeichnenden – Verschlechterung der sozialen Lage, eine immer unverständlicher werdende Haltung.

Eindringliche Warnungen

Demgegenüber stehen eindringliche Warnungen vor den politischen Konsequenzen dieser Entwicklung: „Die globale Elite fürchtet den Aufstand der Massen“ titelt etwa „Die Welt“ ihren Bericht über die jüngste Studie des Genfer Weltwirtschaftsforums (WEF). Mit eindringlichen Worten wird darin vor den Folgen der Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern der Eurozone gewarnt. „Junge Menschen müssen beschäftigt werden. Sonst werden wir erleben, dass das soziale Gefüge auseinanderreißt.“

In der Studie wollte das WEF – vor allem bekannt für seine jährlichen Treffen in Davos – von rund 1.600 Führungskräften aus 112 Ländern wissen, welche die größten Herausforderungen für die Wirtschaft im kommenden Jahr sein werden. In Europa sagt mehr als die Hälfte der Befragten, dass der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ganz oben auf der Prioritätenliste der Regierungen stehen sollte. Eine Generation, die in „völliger Hoffnungslosigkeit“ ins Berufsleben starte, sei empfänglich für populistische Politik und eine Gefahr für den sozialen Frieden. Auch das zunehmende Misstrauen in die Wirtschaftspolitik bereitet der globalen Elite Kopfzerbrechen: „Die Regierten entfernen sich immer weiter von den Regierungen – und die Sparer von den Banken“, heißt es im WEF-Bericht.

Realitätsverweigerung

Dieser Vertrauensverlust in die nationalen Regierungen, insbesondere aber in die EU, ist seit Jahren aus den einschlägigen Meinungsumfragen abzulesen. Die einzige Konsequenz daraus scheint bisher Furcht zu sein: Insbesondere die Furcht notwendige weitere Integrationsschritte zu wagen. Damit steckt aber der „Reparaturkarren“ für die Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion auf halbem Wege fest, im Schlamm der nationalen Ängste und Egoismen. Die Wahlen zum europäischen Parlament im Mai 2014 werden wohl die entsprechenden Resultate samt scheinheiligem „Herrjemine-Geschrei“ bringen. Reagiert wird bis dato aber nicht.

Woran liegt es nun aber, dass darauf nicht reagiert wird? Dieser Frage – nur etwas anders formuliert – widmete sich im November 2013 eine Veranstaltung der AK-Wien: „Der Eurozone eine soziale Zukunft ermöglichen! Aber wie?“. Das Resümee der spannenden Diskussion war relativ schlicht: Mit der derzeitigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung in der EU ist dies nicht möglich. Die wirtschaftlichen Fakten widerlegen zwar die zentralen neoliberalen Dogmen: Durch freie (Finanz-)Märkte werde der Wohlstand erhöht, durch Sparen werde Wachstum generiert und durch Lohnverzicht werde Beschäftigung geschaffen. Diese Annahmen sind in der Realität grandios gescheitert.

Dennoch werden diese wirtschaftlichen Realitäten in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der EU weitgehend ignoriert. Auf die Wirkungslosigkeit bzw. die katastrophalen Nebenwirkungen der Medizin wird bestenfalls mit einer Erhöhung der Dosis reagiert. Siehe Griechenland: Therapie erfolgreich, Patient (fast) tot – BIP minus 25 %, Staatsschuldenquote höher denn je, alle Sozialindikatoren entgleisen, politische Situation explosiv. Während selbst der Internationale Währungsfonds mittlerweile eingesteht, dass die von ihm angenommenen „Multiplikatoren“ viel zu falsch waren, reagiert die EK darauf nur mit wütender Kritik am IWF – erstaunlich!

Macht der Finanzmärkte ungebrochen

Völlig unverständlich ist es aber, dass gerade einmal fünf Jahre nach dem von den Finanzmärkten ausgelösten Beinahe-Kollaps, der zur gegenwärtigen Krise der Staatsfinanzen führte, eben diese Finanzmärkte nun wieder zu den Wächtern über die öffentlichen Budgets gemacht werden – sie bewerten die Risiken und legen die Risikoprämien (= Zinsaufschläge) fest. Wenn sie sich dabei vertun, wie jüngst von Goldmann Sachs bezüglich Spanien eingestanden („zu schwarzmalerische Analyse geliefert“), hat das jeweilige Land halt Pech gehabt. Uneigennützig ist diese – ansonsten erstaunliche – Selbstkritik aber nicht: Goldmann Sachs versucht sich gerade wieder im großen Stile in den spanischen Immobilienmarkt einzukaufen.

Und natürlich werden die aktuellen Niedrigzinsen von großen Private-Equity-Gesellschaften als „Gewinnbeschleuniger“ genutzt: Die von ihnen übernommenen Firmen nehmen derzeit im Rekordtempo neue Schulden auf, um die dann als Dividenden an die Finanzinvestoren auszuschütten. Dubios sind auch die Geschäfte der Großbanken im Rohstoffbereich: Sie halten Öltanker und Warenlager und spekulieren gleichzeitig mit Wertpapieren auf den Preis der gelagerten Rohstoffe. So zeigte z.B. JP Morgan, wie man mit einer künstlichen Verknappung von Aluminium die Preise hochtreiben kann.

Solche Fakten legen den Schluss nahe, dass freie Finanzmärkte systematisch falsche Preise produzieren und damit die nächste Krise vorbereiten: Derzeit ist etwa das absurde Phänomen zu beobachten, dass je höher die Arbeitslosenraten sind, desto höher steigen die Aktienkurse. Gleichzeitig wird mit den enormen Gewinnen aus den Exporten Großteils an den internationalen Finanzmärkten spekuliert, wohingegen die Investitionen in die Realwirtschaft selbst in Österreich auf dem Niveau des Jahres 2000 stagnieren.

Schocktherapie notwendig?

Angesichts der erwähnten Fakten ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass die meisten der unmittelbar nach der Krise angekündigten Regulierungsvorschläge seither unter dem systematischen Lobbying der Finanzindustrie zerbröseln.

Eine Emanzipation vom Diktat der Finanzmärkte ist auf nationaler Ebene aber nicht möglich, dies wäre nur auf EU-Ebene möglich. Dazu bedürfte es aber einer Reihe weiterer Vertiefungsschritte. Dem stehen derzeit aber sowohl rechte, nationale Strömungen, als auch Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Damit steht der Laden.

Wenn gleichzeitig mit der derzeitigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung der EU die soziale Dimension nicht gestärkt werden kann, ohne eine solche aber die Akzeptanz der Bevölkerung für das europäische Projekt nicht (wieder-)gewonnen werden kann, dann beißt sich hier die Katze in den eigenen Schwanz: Um aus diesem Patt herauszukommen bedarf es offensichtlich eines stärkeren Anstoßes. Vielleicht wird das Ergebnis der EU-Wahlen zu diesem „heilsamen Schock“ führen. Vielleicht muss es aber erst zu den vom WEF befürchteten Massenaufständen kommen. Dass es solcher „Schocktherapien“ bedarf, um grundlegende Kurswechsel zu bewirken, ist nicht erfreulich. Ohne, scheint es aber auch nicht zu funktionieren.