Die Veränderungen in der politisch-institutionellen Architektur der EU seit Beginn und in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise verdecken sowohl die exekutiven Maßnahmen, als auch die Belastungen der Privathaushalte durch Austeritätspolitik, die zur Krisenbekämpfung eingesetzt wurden. Und es fehlt der Blick auf die geschlechtsspezifischen Folgen der Finanzkrise.
Um die politischen Veränderungen in der EU erklären zu können, ist es notwendig sich mit der Rolle der Mitgliedsstaaten und deren Einfluss auf die getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen vor und nach Beginn der Finanzkrise 2008, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene, auseinanderzusetzen. Dabei stehen zwei Fragen im Raum: Welche Trends und Muster lassen sich bei der Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise in der EU beobachten? Können uns diese Beobachtungen dabei helfen, die europaweit zunehmende politische und soziale Polarisierung zu verstehen?
Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise überwiegt z.B. in Spanien und Irland in weiten Teilen der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit dem Status Quo und auch den derzeitigen politischen und sozialen Verhältnissen; und das trotz positiver Wirtschaftsdaten seit 2014 vor allem beim Wirtschaftswachstum. Diese beiden Länder werden daher gerne als positive Beispiele für den Erfolg der Sparmaßnahmen, denen auch Griechenland, Portugal und andere weiterhin folgen sollen, angeführt.
Auswirkungen der Austeritätsmaßnahmen
Dieser Widerspruch sollte uns aber nicht überraschen. Denn für die Sozial- und Gleichstellungspolitik haben die seit 2008 getroffenen Austeritätsmaßnahmen klare politische Konsequenzen. So hat sich z.B. der überdurchschnittliche Anteil von Frauen in Teilzeit- und befristeten Beschäftigungen in Spanien und Irland verschärft. Das Verschwinden von „Gender Budgeting“ aus nationalstaatlichen Politikmaßnahmen zeigt zudem, dass Gleichberechtigung eher als optionales Ziel, denn als Notwendigkeit erachtet wird; ganz im Unterschied zu Kürzungen bei wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen, deren Notwendigkeit weiterhin von Seiten der EU Kommission argumentiert werden und die von den ehemaligen Regierungen in Spanien und Irland auch umgesetzt wurden.
Von diesen Kürzungen sind Frauen stärker betroffen als Männer, man denke an die durch Kürzungen beim Sozialstaat bedingte Verlagerung bezahlter Pflegedienstleistungen von Frauen in den nicht entlohnten Privathaushalt; und an die Migrantinnen, die im Privathaushalt ihre bezahlte Pflege- und Reproduktionsarbeit sehr oft verloren haben. Schlussendlich haben die zur Bekämpfung der Krise getroffenen Maßnahmen eine sehr eindeutige Schlagseite. Während Banken und Finanzinstitutionen mit Bailouts stabilisiert wurden, wurde bei den mit Hypothekarkrediten in Spanien finanzierten Haushalten weiterhin auf der Tilgung der Forderungen beharrt aufgrund der bestehenden Gesetzeslage. Diese Maßnahmen haben die (wirtschafts-)politische Unterscheidung, zwischen dem, was öffentlich und was privat (finanziert) sein soll, noch verschärft. Die politisch motivierte Unterscheidung zwischen öffentlich sichtbarer, produktiver Arbeit und unsichtbarer und unbezahlter Arbeit in den Privathaushalten führt zu einer, sowohl symbolischen, politischen als auch finanziellen, Abwertung der Letzteren. Aus diesen Gründen wird Frauen im Privathaushalt diskursiv auch ein angeblich „natürlich“ größerer Einfluss kulturell zugestanden. Stereotype Normen und Zuschreibungen an Frauen, wie Emotionalität, Passivität und Fürsorglichkeit sind in diesem Gedankenbild eingeschlossen.
Im Zentrum dieser Entwicklungen steht auch der Nationalstaat. Die EU Mitgliedsstaaten, als auch die EU selbst, haben sich zunehmend in exekutiv orientierte Institutionen verwandelt. Man denke an die Schuldenbremse im Verfassungsrang und andere Maßnahmen zur Sicherstellung eines ausgeglichenen Budgets. Dies erschwert zukünftigen Generationen alternative Maßnahmen jenseits von Austerität zu ergreifen und somit eine die Gleichberechtigung unterstützende Richtung zu entwickeln. Gleichzeitig wurden mit dem „Six-Pack“ oder „Fiscal Compact“ neue Mechanismen geschaffen, welche diese konstitutionellen Veränderungen auf Ebene aller Mitgliedsstaaten fortschreiben und stärken. Diese Entwicklungen, wie zum Beispiel die automatische Gültigkeit von wirtschaftspolitischen Vorgaben der EU-Kommission sofern diesen nicht binnen zehn Tagen vom Rat widersprochen wird, widersprechen dem Europarecht. Das Europäische Parlament wird dabei zunehmend entmachtet. Solche Maßnahmen suggerieren zudem, dass eine andauernde Austeritätspolitik die einzige Möglichkeit sei, Staatsschulden zu reduzieren.
Manifestierung von Austerität
All das spiegelt eine wirtschaftspolitische Ordnung, die sich auf unbezahlte Haus- und Pflegearbeit anstatt auf einen ausfinanzierten Sozialstaat stützt. Wettbewerbsdenken und Austerität werden auf einer symbolischen und materiellen Ebene forciert. Durch das Fokussieren auf „effiziente“ und somit z.T. undemokratische Entscheidungsfindungsprozesse und angeblich notwendige Gesetze (man denke dabei auch an die symbolische Bedeutung des Begriffs „Six-Pack“), wird dies noch befördert. Schmerzhaft sind diese „Reformen“ vor allem für die Menschen, die in den von den Institutionen (die ehemalige „Troika“ aus EZB, EU-Kommission und IWF) „geretteten“ Ländern leben, da die Bankenrettungen zu großen nationalen Budgetdefiziten und in Folge dessen, zu einer ansteigenden Staatsverschuldung führten. So wurden Irland, Griechenland, Portugal und Zypern vom ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) und durch strikte Sparvorgaben zur Wiedererlangung eines ausgeglichenen Staatshaushalts von der EU unterstützt. Bildungs-, Gesundheits- und Sozialdienstleistungen der öffentlichen Hand nahmen Schaden durch die verordnete Austeritätspolitik und die gesellschaftliche Ungleichheit hat deutlich zugenommen. So wurden in Irland neue, hoch regressiv wirkende Steuern eingeführt und in Spanien die Zuwendungen an die Regionen, und somit öffentliche Dienstleistungen, rigoros gekürzt.
Der Druck auf die privaten Haushalte, sei es durch Arbeitslosigkeit, niedrigere Einkommen, Tilgungen und reduzierte öffentliche Dienstleistungen, hat diese zum Ziel einer intensiveren „Akkumulation durch Entrechtung“ (accumulation by dispossession, David Harvey) gemacht. Die Folgen sind steigende Obdachlosenzahlen, Ungleichheit und Emigration. Die Privathaushalte sind nicht unendlich belastbar und fähig mit allen Herausforderungen, vor die sie gestellt werden, umzugehen. Beispiele dafür lassen sich europaweit und in allen Ländern, unabhängig davon ob diese von der Krise direkt betroffen waren oder nicht, finden.
Unzufriedenheit mündet in neue Bewegungen
Es überrascht daher nicht, dass weitverbreitet Unzufriedenheit mit den derzeitigen Entwicklungen herrscht. In Spanien war der Widerstand gegen Sparmaßnahmen und vor allem Räumungen deutlich spürbar – bekanntes Beispiel ist die Platform of Those Affected by Mortgage Debt, die Indignados Bewegung und die neue linke Partei Podemos, die bei der letzten Wahl 20% erreichte. Von außen betrachtet überwog in Irland der Eindruck, dass sich die Menschen dort stärker den Entwicklungen fügten, allerdings gab es 2012 eine Occupy Bewegung, welche ins ganze Land ausstrahlte und weitere lokale Protestbewegungen wie die Kampagne gegen die Wassergebühren, die letztlich erfolgreich war. Darüber hinaus deutet der Rückgang in der Unterstützung der Großparteien (Fianna Fail, Fine Gael und Labour) auf einen schleichenden Legitimationsverlust der politischen Elite hin, was sich bei den Parlamentswahlen im Februar 2016 zeigte. So erlangten die drei genannten Parteien bei der letzten Wahl 2011 noch 73% der Stimmen während es 2016 nur noch 57% waren. Derzeit wird in beiden Ländern um das Zustandekommen einer Regierung gerungen, in Spanien wird jetzt im Juni neu gewählt.
Es ist ersichtlich, dass die Zunahme autoritärer Politikmuster derzeit stattfindet, und dass die privaten Haushalte zunehmend davon betroffen sind. Dass dies zu neuen sozialen und politischen Konflikten führt, erleben wir nicht nur in Ländern wie Spanien und Irland derzeit. Diese Geschichte ist noch nicht vorbei.