Auf die (Arbeits-)plätze, fertig, los! Behinderteneinstellungsgesetz – quo vadis?

26. August 2015

Seit dem Jahr 2011 ist die Zahl der Arbeitslosen mit einer Behinderung um 66 % gestiegen. Mehr als ein Drittel der Menschen, die zum Kreis der begünstigten Behinderten gehören, sind nicht erwerbstätig. Die Zahlen sind alarmierend und rufen geradezu nach einer Reformierung des Behinderteneinstellungsgesetzes. Doch wie soll die prekäre Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung positiv verändert werden? Im Rahmen einer Enquete der Arbeiterkammer Niederösterreich im Juni 2015 wurden Lösungswege aufgezeigt.

 

Prekäre Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung – altes Problem, neue Lösungsansätze

Die problematische Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderung ist nicht neu. Nicht ohne Grund verpflichtete bereits das Invalidenbeschäftigungsgesetz vom 1. Oktober 1920 (StGBl Nr. 459) Unternehmen ab einer Beschäftigtenzahl von 20 Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern mindestens einen „Kriegsbeschädigten“ und auf je 25 weitere Beschäftigte einen weiteren „Kriegsbeschädigten“ zu beschäftigen. Im Laufe der Zeit wurde der Schutzkreis schrittweise auf weitere Gruppen von behinderten Menschen ausgedehnt. Seit den 1970er Jahren können Menschen mit einer Behinderung von 50 % unabhängig vom Grund der Behinderung den Status „begünstigt behindert“ erhalten (BGBl. Nr. 329/1973). Voraussetzung ist ein Antrag beim Sozialministeriumservice (ehemals Bundessozialamt) auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigt Behinderten.

Beschäftigungspflicht ausweiten

Nach derzeitiger Rechtslage sind Unternehmen ab einer Beschäftigtenzahl von 25 Dienstnehmerinnen/Dienstnehmern verpflichtet, auf je 25 Beschäftigte mindestens eine/n begünstigt Behinderte/n aufzunehmen. Unternehmen, die ihre Beschäftigungspflicht nicht (zur Gänze) erfüllen, müssen monatlich eine Ausgleichstaxe pro offene Pflichtstelle zahlen. Bereinigt um die Ein-Personen-Unternehmen trifft die Beschäftigungspflicht auf lediglich 5,8 % aller österreichischen Betriebe zu. Auch wenn dieser Prozentsatz an Unternehmen bereits einen großen Teil aller ArbeitnehmerInnen beschäftigt, ist eine Erweiterung des Adressatenkreises für die Beschäftigungspflicht unumgänglich, um weitere potenzielle Pflichtstellen zu schaffen.

Ausgleichstaxe massiv erhöhen

Die Ausgleichstaxe variiert je nach Gesamtbeschäftigtenzahl und bewegt sich im Jahr 2015 zwischen 248 € und 370 €. Vier von fünf österreichischen Unternehmen zahlen lieber die Ausgleichstaxe anstatt ihre Einstellungspflicht zu erfüllen. Daraus ist zu schließen, dass diese viel zu niedrig ist, um ArbeitgeberInnen zu motivieren, begünstigt behinderten Menschen eine Chance in ihrem Betrieb zu geben. Die Ausgleichstaxe ist um ein Vielfaches zu erhöhen. Im Gegenzug dazu könnte auch eine Prämie dafür angedacht werden, wenn ein Unternehmen die Beschäftigungspflicht übererfüllt.

Umgehung mit geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen unterbinden

Diejenigen Unternehmen, die ihrer Beschäftigungspflicht nachkommen, können das Gesetz darüber hinaus ausnützen, da auch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse auf die Pflichtzahl angerechnet werden und damit die Beschäftigung des/der begünstigt Behinderten unter Umständen weniger „kostet“ als die Zahlung der Ausgleichstaxe. Der Zweck des Behinderteneinstellungsgesetzes, die (vollversicherungs­- pflichtige) Einstellung von begünstigt behinderten Menschen zu forcieren und zu schützen, wird damit aber klar umgangen. Geringfügige Beschäftigungen dürfen nicht länger auf die Pflichtzahl angerechnet werden.

Kündigungsschutz als Scheinargument

Seitens der Unternehmen bestehen viele Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung, denen pauschal in der Regel nicht zugetraut wird, eine gute Arbeitskraft zu sein: „Behindert sein“ wird fälschlicherweise mit „krank sein“ gleichgesetzt. Assoziationen wie „lange Krankenstände und Ausfälle“, „längere Pausen“, „häufigere Arztbesuche“, „langsameres Arbeiten“ sind mit Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern mit einer Behinderung verknüpft und natürlich der vor 45 Jahren eingeführte Kündigungsschutz (BGBl Nr. 22/1970), über den viele Horrorvisionen existieren. Genau dieser Kündigungsschutz wird von Unternehmen gerne als Grund für die Nichteinstellung von begünstigt Behinderten genannt.

Mit 01.01.2011 (BGBl I Nr. 111/2010) wurde daher der Kündigungsschutz von begünstigt behinderten Menschen erheblich geschwächt: Eine Zustimmung zur Kündigung eines/einer begünstigt behinderten Arbeitnehmers/Arbeitnehmerin ist demnach erst nach vier-jähriger Betriebszugehörigkeit erforderlich, sofern die Begünstigung bereits vor Beginn des Dienstverhältnisses festgestellt wurde. Anders stellt sich die Rechtslage dar, wenn der/die begünstigt Behinderte den Feststellungsbescheid erst während dem laufenden Dienstverhältnis erhält, dann beginnt der Kündigungsschutz nämlich – wie bei der Rechtslage davor – schon ab dem siebenten Monat des Dienstverhältnisses (zu den weiteren Ausnahmen wird auf § 8 Abs 6 lit b BEinstG verwiesen).

Hat diese gesetzliche Änderung – außer Verwirrung – etwas gebracht? Die Zahl der Unternehmen, die ihre Einstellungspflicht erfüllen, ist seit dem Jahr 2011 gesunken. Stellt der Kündigungsschutz tatsächlich einen Eingriff in die unternehmerische Freiheit dar? Nur 6 % der Anträge auf Zustimmung zur Kündigung beim Behindertenausschuss wurden im Jahr 2014 abgewiesen. 80 % der Verfahren endeten mit einer einvernehmlichen Lösung des Dienstverhältnisses. Der Gesetzgeber ist daher gut beraten, zu den gesetzlichen Regelungen vor 2011 zurückzukehren.

Sprache formt Wirklichkeit

Im Rahmen der Reform sollte der Gesetzgeber auch an der Diktion des Behinderteneinstellungsgesetzes arbeiten: Dieses suggeriert auf sprachlicher Ebene, dass die Beschäftigung von behinderten Menschen etwas Müßiges ist, indem es Begriffe wie PFLICHTzahl, PFLICHT­stelle, BeschäftigungsPFLICHT, AusgleichsTAXE verwendet. Sprache beeinflusst unser Denken: Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung ist Mehrwert und nicht Belastung. Die Ausgleichstaxe ist keine Strafe, sondern ein finanzieller Beitrag zur Inklusion. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers (sprachlich) klarzustellen, dass Menschen mit Behinderung wertvolle ArbeitnehmerInnen sind. Diversität bereichert. Diese Botschaft ist in den Köpfen der UnternehmerInnen leider noch nicht verankert.

Öffentliche Institutionen keine Vorbildwirkung

Unfair wäre es aber, nur die privaten Unternehmen an den „Pranger“ zu stellen. Wie aus einer Anfragenbeantwortung seitens des Sozialministeriums vom 07.07.2015 hervorgeht (http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/AB/AB_04898/imfname_442583.pdf), erfüllen auch viele juristische Personen des öffentlichen Rechts ihre Beschäftigungspflicht nicht bzw. nicht zur Gänze. Die wirtschaftlichen Interessenvertretungen geben in diesem Bereich ein erschreckendes Negativbeispiel ab. Schon allein als Vorbild für ihre Mitglieder sollten sie die offenen Pflichtstellen besser heute als morgen besetzen.

Behinderteneinstellungsgesetz, quo vadis?

Die Lage am Arbeitsmarkt stellt sich insbesondere für Menschen mit Behinderung dramatisch dar. Jetzt ist der Gesetzgeber gefordert, umgehend gezielte Maßnahmen zu setzen: Die Zahl der erwerbstätigen begünstigt Behinderten muss steigen! Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Erweiterung des Adressatenkreises für die Beschäftigungspflicht und die massive Erhöhung der Ausgleichstaxe, aber auch die erneute Stärkung des Kündigungsschutzes wohl unumgänglich sein. Denn erst wenn in den Köpfen der ArbeitgeberInnen verankert ist, dass Vielfalt Mehrwert ist, kann über eine Schwächung des Behindertenschutzes verhandelt werden.

Weiterführende Links:

Veranstaltungsrückblick “Auf die (Arbeits-)plätze, fertig, los! Rechtliches und Praktisches zum Thema Arbeit und Behinderung“

http://noe.arbeiterkammer.at/service/veranstaltungen/rueckblick/Menschen_mit_Behinderung__Viel_Potential_wird_liegen_gela.html