Was bestimmt langfristig die Einkommensverteilung? Für die heute dominierende neoklassische Theorie sind es langfristig die ökonomischen Gesetze, gegen die sich die um die Verteilung ringenden sozialen Gruppen nicht durchsetzen können. Machtfaktoren spielen in der herkömmlichen Analyse praktisch keine Rolle, obwohl sie in Lohnverhandlungen stets präsent sind. Im Bestseller Capital in the 21st Century von Thomas Piketty ist das kaum anders. In seinem Modellrahmen wird die funktionale Einkommensverteilung, wie Piketty selbst an einigen Stellen schreibt, ausschließlich „technisch“ bestimmt. Für eine Berücksichtigung des Einflusses von Macht auf die Verteilung bleibt hier kein Raum.
Vor genau 100 Jahren stellt der österreichische Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk in seinem gleichnamigen Aufsatz die prägnante Frage nach der Bestimmung der Einkommensverteilung: „Macht oder ökonomisches Gesetz?“ Damit legte er den Grundstein für die neoklassische Antwort, wonach langfristig ausschließlich die ökonomischen Gesetze die Einkommensverteilung bestimmten. Nachdem die Analyse und Prognose, die der französische Ökonom Thomas Piketty über die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung vornimmt, vielfach als radikal und innovativ beurteilt worden sind, habe ich mich gefragt, wie die Böhm-Bawerk’sche Frage im Besteller „Capital in the 21st Century“ beantwortet wird.
Liefert Piketty neue Impulse für die Bestimmungsgründe der Einkommensverteilung?
Analysiert man Pikettys Erklärungsmodell der Bestimmung von Löhnen und Gewinnen in der Gesamtwirtschaft näher, stellt man fest, dass es doch sehr konventionell daherkommt. Sein Wachstums- und Verteilungsmodell basiert auf der gängigen Annahme einer neoklassischen Produktionsfunktion. In einem solchen Modellrahmen wird die funktionale Einkommensverteilung, wie Piketty selbst an einigen Stellen schreibt, ausschließlich „technisch“ bestimmt. Für eine Berücksichtigung des Einflusses von Macht auf die Verteilung bleibt hier kein Raum.
Es lässt sich aber wohl schwerlich bestreiten, dass die Lage auf dem Arbeitsmarkt einen entscheidenden Einfluss auf die Verhandlungsstärke der Tarifvertragsparteien hat – und das nicht nur kurzfristig. Insofern hängt die Verhandlungsmacht beim Ringen über die Lohnhöhe eben auch von der Lage auf dem Arbeitsmarkt ab. Erstaunlicherweise spielt der Faktor Arbeitslosigkeit aber bei Piketty überhaupt keine Rolle! Es existiert noch nicht einmal ein entsprechender Eintrag im Stichwortverzeichnis seines rund 650 Seiten umfassenden Buches.
Daraus ergibt sich ein zentraler Widerspruch, der zur sonst so überzeugenden Argumentationslinie von Piketty meines Erachtens nicht passt. Für mich besteht Pikettys großer Verdienst unter anderem darin, dass er auf Basis bewundernswerter eigener empirischer Arbeiten zeigt, dass einige der sogenannten stilisierten Fakten nicht (mehr) zutreffen, die über Jahrzehnte die Standardmodelle von Wachstum und gesamtwirtschaftlicher Einkommensverteilung geprägt haben. Weder ist der Kapitalkoeffizient langfristig konstant, noch die Gewinnquote, wie dies Nicholas Kaldor Anfang der 1960er Jahre in einem einflussreichen Artikel unterstellt hatte. Piketty untermauert dies mit soliden Daten, die realitätsbezogene Modelle zukünftig nicht mehr ignorieren können.
Arbeit und Lohneinkommen kommen zu kurz
Während die Analyse von Kapital und Kapitaleinkommen bei Piketty im Mittelpunkt stehen, trifft dies umgekehrt für die Arbeit nicht zu. Zwar behandelt er in seinem Buch, wie in zahlreichen früheren Beiträgen, intensiv die Arbeitseinkommen der Topmanager und zeigt, dass bei der Bestimmung der Managervergütungen die Grenzproduktivitätstheorie nicht angewandt werden kann. Für die Bestimmung der Löhne im Allgemeinen hat er offenbar aber keine Probleme damit, von der Gültigkeit einer neoklassischen Produktionsfunktion auszugehen. Diese Vorgehensweise ist aber nur dann akzeptabel, wenn man Vollbeschäftigungssituationen analysiert, da die Produktionsfunktion auf der Idee der effizienten Ressourcenausnutzung basiert.
Vollbeschäftigung ist in der Realität von Marktwirtschaften aber bislang immer die Ausnahme und nicht die Regel gewesen. Und dass die Verhandlungsmacht zwischen Kapital und Arbeit von dauerhafter Arbeitslosigkeit nicht beeinflusst würde, ist kaum vorstellbar. Der Blick auf die Entwicklung in Österreich verdeutlicht diesen Zusammenhang. Die Höchststände der Arbeitseinkommensquote finden sich (mit einem gewissen time-lag) in den Zeiten der Vollbeschäftigung der 1960er und 1970er Jahre (vgl. Abbildung). Mit dem Anwachsen der Arbeitslosenquote Mitte der 1970er und vor allem seit Beginn der 1980er Jahre fiel die Arbeitseinkommensquote tendenziell immer weiter. In anderen OECD-Ländern sehen die Entwicklungen ganz ähnlich aus. Es stellt sich die Frage, warum der glänzende Empiriker Piketty diesen Faktor aus der Analyse der Einkommensverteilung komplett ausblendet.