1 Million Menschen in Österreich können nur mangelhaft lesen und tun sich folglich schwer, interessengeleitet zu reflektieren. Sie bleiben in Politik und Gesellschaft außen vor. Dazu ist eine Neigung dieser Gruppe rechtspopulistischen Meinungsmachern auf den Leim zu gehen, entstanden. Zwei üble Folgen sind im Werden: Die Ausgegrenzten beteiligen sich zunehmend weniger an Wahlen und werden politisch immer geringer wahrgenommen. Im Gleichschritt werden jene stärker, die gegen eine solidarische Umverteilung sind, die ihren Reichtum nicht teilen wollen. Ihre ohnehin bestehende Machtposition in Wirtschaft und Gesellschaft wird politisch verstärkt. Das ist sehr gefährlich für die soziale Gerechtigkeit, für Demokratie und Sozialstaat.
1 Million Erwachsener hat umfassende Probleme beim sinnerfassenden Lesen
Die PIACC-Erhebung 2011/2012 zu den Schlüsselkompetenzen Erwachsener in Österreich zeigt, dass eine Million erwachsene Menschen in Österreich umfassende Probleme beim sinnerfassenden Lesen hat. Diese Gruppe zeichnet sich durch weitere – durchaus erwartbare Merkmale aus – viele haben maximal Pflichtschulabschluß; sie sind eher ältere; haben wenig Einkommen; darunter viele MigrantInnen und geringfügig mehr Frauen als Männer. Dieses Manko an einer grundlegenden Kompetenz wirkt in unserer Medien- und Wissensgesellschaft ausschließend. Da gibt es kaum Zugang zu guten, gut bezahlten Jobs, da bleibt wenig Spielraum sich frei zu entfalten und sich am Arbeitsmarkt frei zu bewegen. Die meisten Ereignisse geschehen fremdbestimmt. Nicht Lesen können heißt auch, dass grundlegende Zugänge sich zu informieren, sich auszutauschen, neue Argumente zu hören und zu reflektieren weitgehend fehlen.
Diese Gruppe hat auch deutlich weniger soziales Vertrauen: sieht also misstrauisch, was rundherum geschieht. Interessanterweise hat das politische System kaum auf die PIACC-Ergebnisse reagiert. Kaum jemand hat dazu Stellung genommen, das Interesse wurde eher in Richtung Schule als Präventionsanstalt abgeleitet.
Angeleitet von einem profitgeilem Boulevard verstärken sich so Politikverdrossenheit, das Gefühl „ohnehin nicht ernst genommen zu werden“ und in diesem vermeintlichen Gezerre um Posten und Macht bei „denen da oben“ keinen Einfluß nehmen zu können.
Demokratie braucht BürgerInnen, die mitreden können oder wie schon Karl Jaspers sagte, setzt die Demokratie die Vernunft des Volkes voraus, die sie erst hervorbringen soll. Wollen wir ernsthaft Demokratie, so braucht es BürgerInnen, die mitreden und mitgestalten wollen. Wenn die strukturellen Voraussetzungen für Beteiligung – nämlich zu verstehen, worum es überhaupt geht, nicht gegeben sind, droht ein wesentlicher Teil der BürgerInnen ausgeschlossen zurückzubleiben.
Neigung zum Rechtspopulismus
Die neoliberale Gedankenwelt, der wir weiterhin ausgesetzt sind denkt individualistisch, an Konsum, und grenzt sich gern vom Gemeinsamen, vom Solidarischen ab. So gelingt es auch in Österreich ganz gut etwa den Sozialstaat madig zu machen und das Gefühl zu stärken, von dem würden ohnehin nur die anderen profitieren Owen Jones hat dies in seinem Buch „Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse“ sehr eingängig beschrieben: „Armut und Arbeitslosigkeit sollten nicht mehr als soziales Problem gelten, sondern als moralisches Fehlverhalten von Einzelnen. Wer sich nur bemüht, wird schon Erfolg haben, lautete die große Lüge. Arm war man, weil man faul, verschwenderisch oder unmotiviert war.
Da wundert es nicht, dass die Vereinfacher, jene, die das Gefühl der Benachteiligung gegen jene „da oben“ oder besser „die einwandernden Eindringlinge“ kanalisieren können, erfolgreich sind.
Emphatische Antworten fehlen oft
Das geht in Österreich besonders gut, weil es fortschrittliche Gruppen und Parteien nicht schaffen (wollen?) jene – möglicherweise nicht immer leicht verständlichen – Rufe nach mehr ausgleichender Gerechtigkeit mit soldarischen Antworten aufzufangen. Nicht nur, das intellektuelle Diskurse ja gar nicht den Anspruch erheben, auch jene einbeziehen zu wollen, von denen oft die Rede ist. Das ist ja auch wirklich oft nicht möglich. Aber dass es kaum Auseinandersetzung, kaum Vorschläge und Ansätze gibt, wie diese Ausgegrenzten denn wieder ins Boot geholt werden können, das ist schlecht. Was mir hier sehr oft fehlt, ist die Betonung des notwendigen Zusammenhalts unterschiedlicher Gruppen und Interessen für eine solidarische Gesellschaft. Bis auf wenige Ausnahmen sollten wir den Sozialstaat verteidigen und ausbauen, wenn wir individuell gut leben wollen. Denn individuell gut leben können wir doch nur, wenn wir nicht fürchten müssen, dass frustrierte Entrechtete uns unseren Anteil streitig machen wollen.
Dazu ein Zitat aus den Gefängnisheften Antonio Gramscis: „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“
Rückzug aus Gesellschaft und Politik
Im neuen „Biedermeier“ interessiert sich ein gewichtiger Teil der Jugend für Familie, FreundInnen, aber sieht sich in unserer Gesellschaft nicht angenommen. Dies gilt insbesondere aber für die Gruppe der Ausgeschlossenen. Viele Jugendforscher, so auch in der von der AK in Auftrag gegebenen Jugendwertestudie, stellen es als neuartiges Phänomen eines Teils der Jugendlichen in Östereich dar.
Michael Hartmann, deutscher Eliteforscher, hat es jüngst wieder wiederholt: „Die untere Hälfte der Bevölkerung – vor allem aber das untere Drittel, also die Armen – haben das Gefühl, dass sich keiner für sie interessiert und sich keiner um sie kümmert. Und die Wahlbeteiligung sieht in dieser Gruppe entsprechend schlecht aus. Wenn Sie die Wahlbeteiligung von gutbürgerlichen Wohnvierteln mit der von sogenannten sozialen Brennpunkten vergleichen, dann merken Sie: In den gutbürgerlichen Wohnvierteln wird wie früher zu 80 bis 90 Prozent gewählt, in den armen Wohnvierteln nur noch zu 30 Prozent“.
Orientierung der Parteien an den aktiv Wählenden
Das ist vor allem deshalb schlimm, weil sich im Getümmel der Wählerstimmenmaximierung alle Parteien an den aktiv Wählenden orientieren. Die Parteistrategen nehmen in ihren Planungen kaum mehr Rücksicht auf die Armen und deren Bedürfnisse. „Da wird ja nichts gefordert, da wird ja nur gejammert“. Die Stimme jener, die sich nur schwer artikulieren können und denen auch eine ernsthafte Reflexion der eigenen Position und Interessen fehlt, wird immer leiser, irgendwann nicht mehr hörbar.
Wer hat was davon, wenn die Ausgeschlossenen sich nicht mehr beteiligen?
Dazu noch einmal Owen Jones: „Die Dämonisierung ist das Triumphgeheul der Reichen, die von unten nicht mehr bedroht sind und sich nun über die Arbeiter lustig machen“.
Wenn die Macht zu definieren wie Arme, wie Ausgegrenzte sind, wie sie handeln und wie sie zu sein hätten, ohne deren Mitsprache an die Wort- und Wirtschaftsgewaltigen übergeht, dann ist wirklich etwas zu befürchten. Nämlich dass Owen Jones recht hat. Wenn die Befürchtungen verflogen sind, die Ausgeschlossenen könnten sich organisieren und ihre Rechte einfordern, dann kann offen über sie hergezogen werden. Wer wenig für die Pension vorgesorgt hat, soll doch nicht belohnt werden für fehlendes Entrepreneurship? Wer ungesund lebt, hat wohl die gesundheitlichen Folgen auch finanziell mitzutragen? Wenn solche Sprüche durchkommen, zahlen natürlich jene drauf, die auf Sozialleistungen angewiesen sind und die sich nicht bemerkbar machen. Denn Umverteilung etwa über Vermögensbesteuerung zugunsten der Ausgeschlossenen greift ja in die Leistung der Vermögenden ein, raubt zurecht Erworbenes oder Ererbtes.
Was tun?
Zentral ist für mich, dass wir nicht nachlassen dürfen, Rechte für alle einzufordern. Nicht nur für jene, die irgendwie definiert etwas brauchen, sondern mit erhobenem Kopf für alle gleichermaßen.
In der Bildung geht es darum, dass jene Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, heute nicht mitmachen können, Zugang zu Bildung bekommen. Die muss dann aber an die Bedürfnisse der Menschen, an die sie sich richten soll angepasst werden. Soll heissen: das Lernen muss am Arbeitsplatz stattfinden können und darf nicht in die Freizeit gedrängt werden, wo Zeit und Geld für dieses Vorhaben fehlen.
Und für kritische Einrichtungen wie die Arbeiterkammer wird es wichtig sein, sich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen wie unsere Interessenpolitik jenen verständlich gemacht werden kann, für die wir sie machen wollen.
Das bedeutet auch bewusst manchmal eine Sprache zu suchen und zu lernen, die die Zielgruppe versteht. Schließlich tun wir dies alles doch auch dafür, dass wir sicher, abgesichert und sinnerfüllt leben und arbeiten können.
Zum Abschluss noch einmal aus den Gefängnisheften Antonio Gramscis:
„Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell ›originelle‹ Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu ›vergesellschaften‹ und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen. Dass eine Masse von Menschen dahin gebracht wird, die reale Gegenwart kohärent und auf einheitliche Weise zu denken, ist eine ›philosophische‹ Tatsache, die viel wichtiger und ›origineller‹ ist, als wenn ein philosophisches ›Genie‹ eine neue Wahrheit entdeckt, die Erbhof kleiner Intellektuellengruppen bleibt.“