Wirtschafts- und Währungsunion – Wohlstandsorientierter Umbau der Eurozone?

22. Juni 2017

Mit dem am 1. März 2017 vorlegten Weißbuch zur Zukunft Europas hat die Kommission fünf Szenarien für die Entwicklung der EU bis 2025 vorgelegt, ohne sich jedoch konkret zu positionieren. Das holt sie mit dem nun präsentierten Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) nach: Mit diesem Papier bekennt sie sich klar zum fünften Szenario („Viel mehr gemeinsames Handeln“). Die Krönung sieht sie darin, dass die im Fünf-Präsidenten-Bericht vom Juni 2015 skizzierten Schritte zur Vollendung der WWU umgesetzt werden. Wie wir bereits damals gezeigt haben, ist dieser aber keine geeignete Grundlage für eine wohlstandsorientierte Neuausrichtung der WWU.

Was man der Europäischen Kommission als Herausgeberin der EU-Zukunftspapiere jedenfalls attestieren kann: Sie versteht es, hehre Ziele zu formulieren, gegen die niemand etwas einwenden kann. So werden im Reflexionspapier „Arbeitsplätze, Wachstum, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Konvergenz und finanzielle Stabilität“ als die Hauptziele der WWU definiert. Ziele, die bereits im Zusammenhang mit der 2007/2008 ausgebrochenen Krise als Richtschnur hätten gelten müssen! Mit dem Fokus auf Austerität und Wettbewerbsfähigkeit gab es jedoch mehr Rück- als Fortschritte, auch wenn der Fortbestand der Eurozone insbesondere mit den unkonventionellen Maßnahmen der EZB gesichert werden konnte.

In drei zentralen Bereichen sollen nun die Stellschrauben nachjustiert beziehungsweise überhaupt neue geschaffen werden:

  • Vollendung einer echten Finanzunion,
  • eine stärker integrierte Wirtschafts- und Fiskalunion sowie
  • mehr Demokratie und gestärkte Institutionen im Euroraum.

Echte Finanzunion?

Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vollendung der Finanzunion werden bereits konkret verhandelt. Sie gehen – mit Ausnahme der sogenannten Kapitalmarktunion – in die richtige Richtung. Ein Abbau der notleidenden Kredite ist überfällig, ebenso die Vollendung der Bankenunion. Voraussetzung für ein einheitliches Einlagensicherungssystem wie auch eine glaubwürdige Bankenrestrukturierung und -abwicklung ist allerdings eine Bankenstrukturreform. Denn das nach wie vor ungelöste too big to fail Problem muss in Angriff genommen werden. Dazu gehört eine Trennung von Investmentbank- und Geschäftsbankrisiken ebenso wie stärkere Eigenkapitalhinterlegung für systemisch relevante Kreditinstitute. Auch wird eine fiskalische Letztsicherung für den Abwicklungsfonds erst dann glaubwürdig sein, wenn dieses Bankenstrukturproblem gelöst ist.

Mit den Initiativen im Rahmen der Kapitalmarktunion werden keine Probleme gelöst, aber neue geschaffen beziehungsweise wiederbelebt. Argumentiert wird, sie solle angesichts träger Investitionstätigkeit wieder zu mehr Investitionen führen. Hierbei wird aber verkannt, dass die Gründe für die bis Mitte 2016 schwachen Investitionen in zu geringen Absatzerwartungen lagen. Darauf weisen auch Analysen der EZB hin. Demnach ist für Unternehmen nicht der Zugang zu Finanzmitteln, sondern das Finden neuer Kunden das größte Problem. Mit einer Wiederbelebung des Verbriefungsmarktes würde wieder ein Markt in Gang gesetzt werden, der einer der Treiber der Fehlentwicklungen war, die zur Finanzkrise geführt haben. Eigentlich sollte es unser Ziel sein, Schattenbankaktivitäten einzudämmen. Statt einer Symptomkur mit zweifelhaften Nebenwirkungen sollte besser eine schlüssige Makropolitik verfolgt werden. Damit könnte eine Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage erreicht werden, die zu stabilen Absatzerwartungen, Investitionen, Wachstum und Beschäftigung führt.

Potential für eine sinnvolle Vertiefung der WWU birgt die Entwicklung einer europäischen sicheren Anlage (Eurobonds?), die allerdings nur sehr langfristig und unkonkret angesprochen wird und noch viel Diskussionsbedarf erfordert.

Wohlstand und Konvergenz sekundär?

Ein wesentliches Problem der aktuellen Wirtschafts- und Währungsunion sind die ungleichen ökonomischen und sozialen Bedingungen. Innerhalb der Mitgliedstaaten betrifft das den langfristigen Trend zur zunehmend ungleichen Verteilung von Einkommen, Vermögen, Arbeit (qualitativ und quantitativ) und Lebenschancen. Statt diese Entwicklung zu korrigieren, wird die Situation in der WWU verschärft: Durch den austeritäts- und wettbewerbsorientierten Fokus geraten Sozialstaat, Arbeitsmarktregulierung und Löhne unter Druck.

Die Frage der Neubelebung der Konvergenz, die im Zuge der Krise zum Erliegen gekommen ist, ist auch im Reflexionspapier Ausgangspunkt für die Überlegungen zu einer stärker integrierten Wirtschafts- und Fiskalunion. Ziel ist ein neuer „Konvergenzprozess“, bei dem jedoch die Idee der Konvergenz umgedeutet wird: Nicht mehr die Konvergenz auf ein hohes Wohlstandsniveau ist gemeint, sondern bloß eine Konvergenz in Richtung „widerstandsfähigerer“ Strukturen in den Mitgliedstaaten im Sinne der Absorptionskapazität bei asymmetrischen Schocks bzw. Krisen – und damit tendenziell das Gegenteil von wohlstandsorientierter Konvergenz. Mit dem Vorschlag der Verknüpfung zwischen politischen Reformen und dem EU-Haushalt lebt die alte Idee der Wettbewerbspakte wieder auf, deren Einführung durch massiven gewerkschaftlichen Widerstand verhindert wurde.

Optionen für eine Stabilisierungsfunktion

Das gilt auch für die verschiedenen Optionen für eine makroökonomische Stabilisierungsfunktion (Fiskalkapazität), die bis 2025 eingerichtet werden soll. Deren Zugriff würde von der Einhaltung noch zu vereinbarender verbindlicher Konvergenzkriterien abhängen. Auch wenn die prinzipielle Sinnhaftigkeit einer Fiskalkapazität zur Verhinderung des konjunkturellen Auseinanderdriftens der Mitgliedstaaten seit der Gründungsphase der Wirtschafts- und Währungsunion weitgehend unumstritten ist, wurde diese Frage bislang nicht befriedigend beantwortet. Mit der Krise im Euroraum hat sich die Debatte verstärkt. Dabei stellen sich viele Fragen: Sollen diese Mittel diskretionär oder automatisch fließen? Welchen Regeln sollen die Geldflüsse unterliegen? Sollen automatische Budgettransfers etwa an die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen oder der Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten gekoppelt sein?

Im Reflexionspapier werden konkret drei Optionen angedacht: Eine Investitionsschutzregelung, die im Falle eines Wirtschaftsabschwungs die Investitionstätigkeit aufrechterhalten soll. Ein sogenannter Rainy-Day-Fonds, der das Nachfrageproblem bei besonders heftigen Wirtschaftseinbrüchen lindern soll. Oder eine europäische Arbeitslosen(rück)versicherung, die bei besonders stark steigender Arbeitslosigkeit greift. Während die ersten beiden Varianten sinnvoll, aber im Wirken stark beschränkt erscheinen, könnte letztere ein „Einfallstor“ sein, um die bisher nationalen Sozialsysteme umfassend zu vereinheitlichen und zu europäisieren“. Jedenfalls gefährlich sind die im Reflexionspapier als Voraussetzung für die Teilnahme an einem Stabilisierungsmechanismus einzuhaltenden Konvergenzkriterien („gemeinsame Standards“): Angesichts der bisherigen Erfahrungen ist davon auszugehen, dass diese Kriterien darauf ausgerichtet wären, den gescheiterten neoliberalen Kurs fortzusetzen. Insbesondere gilt dies für gemeinsame Standards in Bezug auf Arbeitsmärkte und Wettbewerbsfähigkeit. Die Frage der Konditionalität ist jedenfalls für jegliche Variante einer makroökonomischen Stabilisierungsfunktion intensiv zu diskutieren.

Wirtschafts- und Währungsunion: Demokratie, bitte warten

Die Stärkung der demokratischen Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion wird auch im Reflexionspapier enttäuschend oberflächlich abgehandelt. Nichts deutet auf die eigentlich naheliegende Forderung hin, dass sämtliche Bereiche der Wirtschaftspolitik vom Europäischen Parlament mitentschieden werden müssten.

Weitgehender sind die Vorschläge zur Stärkung der WWU-Architektur. Diese reichen von der Umwandlung der Eurogruppe zu einer Ratsformation, der Schaffung der Funktion eines Euro-Finanzminister und eines Schatzamts für den Euroraum, das für die haushaltpolitische Überwachung des Euro-Länder, die Koordinierung der Eurobonds und die Verwaltung der makroökonomischen Stabilisierungsfunktion zuständig wäre bis hin zu einer Einrichtung eines Europäischer Währungsfonds. So lange diese Punkte allerdings über das Nennen von Schlagwörtern kaum hinausgehen, bleibt auch offen, was von diesen Schritten zu halten ist.

Wie weiter?

Eine Reform der Wirtschafts- und Währungsunion müsste daran gemessen werden, ob sie eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik fördert. Das Reflexionspapier enthält dazu einige Ansätze, könnte aber auch neue Probleme schaffen. Im Lichte der aktuellen Entwicklungen (Brexit, schwindendes Vertrauen in die EU-Politik, wachsende Zustimmung für nationalistische Parteien) stellt sich jedoch generell die Frage, ob die Zeit für einen weitreichenden Umbau der Wirtschafts- und Währungsunion reif ist. Für eine progressive Vertiefung der WWU, die sowohl einen insgesamt höheren Wohlstand sowie Konvergenz bzw. Krisenfestigkeit fördert, fehlen derzeit politische Mehrheiten. So sprechen sich 59% der ÖsterreicherInnen gegen eine vertiefte Eurozone aus. Wir sollten uns daher auf politisch umsetzbare Vorschläge zu einer nachhaltigen Überwindung der Krise und zur Förderung von Wohlstand und Aufwärtskonvergenz in Europa konzentrieren.

Eine Voraussetzung dazu ist die Anerkennung, dass trotz Globalisierung die Eurozone ein relativ geschlossener Wirtschaftsraum ist. In praktisch jedem Mitgliedsstaat ist die Inlandsnachfrage größer als die Exportnachfrage – die wiederum zum überwiegenden Teil auf andere Eurozone-Staaten entfällt. Das spricht nicht für die Förderung der Konkurrenz untereinander – vor allem wenn politisch eigentlich niemand verlieren soll, weil man zwischenstaatliche Spannungen vermeiden und Konvergenz erreichen möchte. Vielmehr ist eine verstärkte Kooperation und gemeinsame Förderung der Eurozone-Nachfrage notwendig. Diese könnte mittels Lohnpolitik und Ausweitung der öffentlichen Investitionen erfolgen. Insbesondere gilt es Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen stärker in die Pflicht zu nehmen. Zumal die nach wie vor bestehenden Ungleichgewichte eine wesentliche Ursache für die anhaltende Krise im Euroraum sind und ein zentrales Konvergenzhindernis darstellen. Erstaunlicherweise wird dies im Reflexionspapier kaum thematisiert.

Bausteine für eine wohlstandsorientierte WWU

Eine Nachfragekoordinierung ist jedoch schwer zu verordnen. Daher braucht es ein Bündel an „weichen“ Maßnahmen auf europäischer wie nationaler Ebene: eine goldene Lohnregel als Richtschnur für die Soll-Lohnentwicklung zur Unterbindung anhaltender Umverteilung von Löhnen zu Gewinnen; Einen ernstzunehmenden Makroökonomischen Dialog in der Eurozone; Konvergenz als explizites Ziel der nationalen Produktivitätsausschüsse und Fiskalräte; Eine Sicherung niedriger Zinsen zur Vermeidung übermäßiger Vermögenseinkommenstransfers von Mitgliedsstaaten mit negativer Nettoauslandsvermögenposition. Die Angleichung sollte durch höhere europäische finanzielle Transfers für produktive Investitionen unterstützt werden. Diese können zudem zum Abbau der besonders hohen Arbeitslosigkeit in der Peripherie beitragen. Neue Spielräume in der Fiskalpolitik würde nationales Gegensteuern zur Verhinderung eines konjunkturellen Auseinanderdriftens ermöglichen. Insbesondere durch Ausweitung der öffentlichen Investitionen. Die Einführung einer goldenen Investitionsregel würde nicht nur das Nachfrageproblem bekämpfen, sondern mit einer langfristig nachhaltigen sauberen Lösung den Widerspruch aus Investitionsnotwendigkeit und Fiskalregeln weitgehend beseitigen.

Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass die Einnahmenbasis des Staates nicht weiter erodiert. Beispielsweise muss der interne Steuerwettbewerb sowie Steuerbetrug und -flucht konsequent bekämpft werden. Von zentraler Bedeutung ist auch die Stärkung der sozialen Dimension der WWU. Hier sind die Forderungen nach einem sozialen Fortschrittsprotokoll und einem „neuen sozialen Aktionsprogramm” wegweisend. Jedenfalls geht es um eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Währungsunion in Richtung einer wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik. Insbesondere soll die Förderung der Binnennachfrage, Investitionen in eine nachhaltige soziale und ökologische Infrastruktur und eine faire Verteilung des Wohlstandes ins Zentrum der europäischen Politik rücken.