Was ein feministischer Blick auf den digitalen Wandel bringen kann

30. Juni 2017

Welche gesellschaftlichen Herausforderungen bringt der digitale Wandel und was bedeutet das für Frauen? Was bringen neue bzw. flexiblere Arbeitsmöglichkeiten mit sich? Und wie können die Produktivitätssteigerungen durch den technologischen Fortschritt der Gesellschaft insgesamt zugutekommen? Diesen und weiteren Fragen widmete sich die Vorsitzende der Kommission „Arbeit der Zukunft“ der Hans-Böckler-Stiftung.

Digitalisierung ist kein isoliertes Phänomen

Die deutsche Soziologin Kerstin Jürgens befasst sich seit längerem mit Fragen des digitalen Wandels. Bei der Veranstaltung „Digitale Arbeit – Feministische Perspektiven“ (Eventdetails | Karl-Renner-Institut) präsentierte sie ihre Analysen. Dabei identifizierte sie für Deutschland neben der Digitalisierung weitere „Baustellen“:

  • die mit der Alterung der Gesellschaft verbundene Frage, wie zukünftig der Arbeitskräftebedarf gedeckt werden kann
  • die „Erschöpfung“, die in der aktuellen deutschen Diskussion über zu hohe zukünftige Kosten durch Arbeitsausfall und Rehabilitation aufgrund psychischer Erschöpfung problematisiert wird, und
  • die „Feminisierung“ des Arbeitsmarktes, also die positive Entwicklung der gestiegenen Frauenerwerbstätigkeit bei gleichzeitigen strukturellen Problemen des geschlechtssegmentierten Arbeitsmarktes, die u. a. auch den großen Lücken bei der Kinderbetreuungs- und Pflegeinfrastruktur geschuldet sind
  • Der digitale Wandel ist dabei Anlass, bekannte Konflikte wieder neu aufzuwerfen: soziale Errungenschaften wie z. B. Arbeitszeitregulierung und Gesundheitsschutz werden verstärkt infrage gestellt und Deregulierung als Voraussetzung postuliert, um den digitalen Wandel zu bewältigen.

Von dieser Analyse ausgehend identifiziert Jürgens mehrere zentrale Handlungsfelder.

Arbeitszeitfragen als Richtungsentscheidung

Problematisch ist die starke Polarisierung der Arbeitszeit, insbesondere aufgrund des hohen Anteils von Frauen in Teilzeit, da nach wie vor die Vereinbarkeit der Erwerbsarbeit mit der Sorgearbeit nicht gegeben ist. Schließlich entscheidet die Dauer der Erwerbsarbeitszeit über den beruflichen Status, das Einkommen sowie die Absicherung im Alter. Die Digitalisierungsdebatte wird auch gerne dafür genutzt – wie beispielsweise durch den deutschen Arbeitgeberverband –, die Regulierung der Arbeitszeit überhaupt infrage zu stellen, da Beschäftigte durch die flexiblen Arbeitsmöglichkeiten keine „Bevormundung“ mehr bräuchten. Auf ArbeitnehmerInnen-Seite wird in Deutschland dagegen über „atmende Lebensläufe“ mit flexibel nutzbaren Wahlarbeitszeiten diskutiert, die eine Sockelzeit und eine Korridorzeit vorsehen. Allerdings ergeben sich hier schnell Fragen darüber, wie es jenen ergeht, die Sorgearbeit wahrnehmen, deshalb Zeiten verkürzen, aber keine Kompensation dafür erhalten. Ganz abgesehen von der Frage, wie das mit der aktuellen Vollzeit-Arbeitszeitnorm überhaupt erreicht werden kann. Diskussionen über Zeitsouveränität müssen demnach Fragen von Geschlecht und Einkommen ebenso behandeln.

Damit steht der Konflikt über das Arbeitszeitgesetz – wie Jürgens feststellt – für eine Richtungsentscheidung in der Umverteilungsfrage von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Ein Befund, der wohl nicht nur in Deutschland Gültigkeit hat.

Qualifizierung muss umfassend betrachtet werden

Als weiteres zentrales Handlungsfeld sieht Jürgens die Qualifizierung. Sie versteht darunter einen sehr weiten Begriff, der sowohl die berufliche Qualifizierung, als auch das Bildungssystem und auch die Herausforderungen, die sich aufgrund des stark segmentierten geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktes ergeben, umfasst.

Ein starres Bildungssystem, das an stringente Qualifizierungsabläufe geknüpft ist, hilft Kindern nicht, sich darauf vorzubereiten, dass sie nicht ein Leben lang in einem Bereich tätig sein werden. Stattdessen ist es für Kinder notwendig, sich über soziale Schichten hinweg auszutauschen, sich auszuprobieren und Stärken zu erkennen.

Gleichzeitig geht es auch darum, Menschen, die bereits im Erwerbsleben stehen, entsprechende begleitende Qualifizierungsmaßnahmen anzubieten, um ihnen berufliche Wechsel zu ermöglichen. Wesentlich ist nicht zuletzt die Erhöhung des Mädchen- und Frauenanteils in den MINT-Bereichen, das sind mathematische, ingenieur-, naturwissenschaftliche und technische Studien – laut Jürgens eine „Riesenbaustelle“. Von Basisqualifikationen im schulischen Bereich zu Themen wie dem Aufbau eines Computers bis hin zur Absolventinnenrate im akademischen MINT-Bereich reichen hier die Handlungsfelder. In der Publikumsdiskussion wurde allerdings auch am Beispiel der TU Wien betont, dass es mittlerweile nicht mehr so wenig weibliche Absolventinnen in diesen Studienbereichen geben würde. Das Problem läge vielmehr bei den Unternehmen, die diesen Frauen keine entsprechenden Jobchancen bieten.

Auf der anderen Seite ist es ebenso notwendig, Buben und Männer verstärkt in die sozialen Dienstleistungsbereiche zu bringen.

Die digitale Dividende nutzen

Den Blick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen von Digitalisierungsprozessen zu richten – bis hin zu einer Diskussion über die Verteilung einer etwaigen „digitalen Dividende“ –, ist für Jürgens ein weiteres wichtiges Handlungsfeld. Wer profitiert wie von geänderten, automatisierten Abläufen und der damit verbundenen Produktivitätssteigerung? Wie kann es gelingen, diese digitale Dividende so zu nutzen, dass es anderen Bereichen bzw. der Gesellschaft insgesamt zugutekommt. Könnte diese beispielsweise auch für eine Aufwertung des Pflegebereichs, der schlecht bezahlt und bewertet ist, genützt werden? Allerdings: Die digitale Dividende ist laut Jürgens noch nicht sichtbar. Hier stellt Jürgens drei Positionierungen unter ÖkonomInnen fest. Jene, die die Erträge aus der digitalen Dividende als schon ausgeschöpft betrachten; jene, die die digitale Dividende als bald eintreffend sehen; und jene, die dafür keine adäquaten Messkriterien feststellen können. Dabei geht es auch darum, den bestehenden Produktivitätsbegriff selbst zu hinterfragen, also beispielsweise inwieweit es nicht auch produktiv ist, für Kinder zu sorgen und alte Menschen zu pflegen.

Conclusio: feministische Perspektiven und soziale Innovation

Frauen in sämtliche Diskussionsprozesse zur Digitalisierung einzubinden, ist laut Jürgens eine wichtige Voraussetzung, um gesamtgesellschaftlich davon zu profitieren.

Folgende Fragen sind dabei zentral:

  • Welche Digitalisierung wollen wir?
  • Wie kann die Digitalisierung dafür genutzt werden, Probleme zu lösen, Arbeit anzureichern und damit qualitativ aufzuwerten und gute Vereinbarkeitslösungen zu schaffen?
  • Wo ist der Einsatz künstlicher Intelligenz sinnvoll und wo nicht, weil auch weiterhin menschliche Interaktion im Zentrum stehen soll?
  • Wie können wir die Lösungen so umsetzen, dass sie auch zu einer sozialen Innovation werden und damit gesamtgesellschaftlich von Nutzen sind?

Für die Autorinnen zeigt der Beitrag von Kerstin Jürgens auch zwei zentrale Stärken eines feministischen Blicks auf den digitalen Wandel: Da der feministischen Analyse ein umfassender Arbeitsbegriff zugrunde liegt, gelingt es, die Auswirkungen des digitalen Wandels auf bezahlte Erwerbsarbeit und unbezahlte Pflege- und Sorgearbeit und ihre wechselseitige Bedingtheit (besser) zu erfassen. Untrennbar damit verbunden ist der Fokus auf Potenziale der Gestaltbarkeit in Veränderungsprozessen. Damit können Risiken, aber auch Chancen, die sich durch die Digitalisierung speziell für Frauen, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes ergeben, besser erkannt werden. Also die Gestaltung ganz im Sinne der Vision Johanna Dohnals einer „… menschlichen Zukunft. Ohne Rollenzwänge, ohne Macht- und Gewaltverhältnisse, ohne Männerbündelei und Weiblichkeitswahn.“

* Basis für diesen Beitrag war eine gemeinsame Veranstaltung von AK Wien, BEIGEWUM und Karl-Renner-Institut (27.4. – digitale Arbeit – feministische Perspektiven).