Eine Vision zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion

17. Oktober 2019

Im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) wurde im Juli 2019 dazu eine Stellungnahme verabschiedet, in der neben der umfassenden Problemanalyse auch ein Katalog an Handlungsempfehlungen an das neue EU-Parlament und die neue Kommission gerichtet wurde. Kernbotschaft ist, dass es eine Balance zwischen der geldpolitisch/finanziellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Säule der WWU braucht.

Am 1. November 2019 soll die neue EU-Kommission ihr Amt antreten. Der Beginn der Legislaturperiode wird zwar frischen Wind nach Brüssel bringen und neue Themen auf die Agenda setzen. Doch auch alte Probleme werden die EU weiter beschäftigen, allen voran die Folgen der „Euro-Krise“, unter denen viele Mitgliedstaaten bis heute leiden. Während sich eine neuerliche wirtschaftliche Eintrübung abzeichnet und weitere Finanz- und Wirtschaftskrisen auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden können, gibt es kaum Fortschritte bei seit Jahren überfälligen Reformen der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU).

Vor allem auch unter den vielen Arbeitnehmer*innen, die unter dem drohenden Konjunkturabschwung am meisten leiden würden, ist die Angst vor einer neuen Krise groß. Denn nicht nur die makroökonomische Widerstandsfähigkeit der WWU lässt zu wünschen übrig, sondern auch die von Noch-Kommissionschef Juncker angestoßenen sozialpolitischen Reformen – und mit ihnen die soziale Absicherung der Bürger*innen im Falle eines Wirtschaftseinbruchs. Dies liegt nicht zuletzt an der stiefmütterlichen Umsetzung der Versprechen aus der Europäischen Säule Sozialer Rechte, die 2017 verabschiedet wurde.

Zivilgesellschaft fordert politisches Handeln

Angesichts eines Richtungsstreits zwischen den Mitgliedstaaten – mehr oder weniger Europa? –, der den politischen Prozess ins Stocken bringt, rufen die Sozialpartner zu konkretem Handeln auf. Auch die Mitglieder des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) haben im Juli 2019 eine Initiativstellungnahme über „Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion“ verabschiedet, die auf relevante Fragestellungen aufmerksam macht und Empfehlungen an das neue EU-Parlament und die neue Kommission richtet. Der EWSA ist die Stimme der Sozialpartner und weiterer Gruppen der europäischen Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel der Konsument*innen oder Landwirt*innen. Als beratende Instanz nimmt er Stellung zu aktuellen Debatten und europäischen Gesetzesvorhaben und richtet sich dabei an die europäischen Institutionen.

Kein Haus ohne festes Fundament

Die „Vollendung“ der WWU kann mit dem Bau eines Hauses verglichen werden: Zunächst bedarf es eines tragfähigen Fundaments, welches als Widerstandsfähigkeit gegen Krisen zu sehen ist. Zwar beginnt die kommende EU-Legislaturperiode (2019–2024) nach mehrjährigem durchgängigem Wirtschaftswachstum und gesunkener Arbeitslosigkeit in einem ruhigeren Fahrwasser als die vorangegangene (2014–2019). Allerdings zeichnen sich neue Risiken und Problemfelder ab, die von geopolitischen Unsicherheiten über Handelskonflikte, einem möglicherweise ungeordneten Brexit bis hin zum Umstand reichen, dass die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank an ihre Grenzen gerät.

Aber Krisenfestigkeit allein ist keine hinreichende Zukunftsvision. Denn der Aufschwung der letzten Jahre ist auch ohne akute Krise noch lange nicht bei allen angekommen, und Ungleichheiten innerhalb und zwischen den Regionen und Staaten verfestigen sich. So sind 22 Prozent der EU-Bevölkerung von Armut und Ausgrenzung bedroht, und 12,6 Millionen Menschen in der Eurozone sind noch immer arbeitslos. Viele der neuen Arbeitsplätze sind außerdem prekär, und in mehreren südeuropäischen Staaten sind die Reallöhne 2019 im Durchschnitt geringer als 2009. Was die Verteilung der Nettovermögen im Euroraum betrifft, kommt auch die EZB zum Schluss, dass sich diese in einer „schweren Schieflage“ befindet. Die Vollendung der WWU bedeutet deshalb, dass sich die Staatengemeinschaft weiterentwickeln muss, indem sie sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt für alle Bürger*innen bringt. Erst wenn diese das Gefühl haben, dass die EU eine langfristige und sich lohnende Strategie verfolgt, werden sie wieder mehr Vertrauen in die europäischen Institutionen und die europäische Integration gewinnen.

Diese neue Vision muss mit konkreten Inhalten gefüllt werden, wobei die Verringerung von Ungleichheiten, inklusives Wachstum, die Bewältigung der Klimakrise und die Bekämpfung von Armut zu den höchsten Prioritäten zählen. Hierfür bedarf es eines klaren Bekenntnisses zu mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, ganz im Sinne des in Artikel 3 EU-Vertrag versprochenen „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt[s]“. Auf dieses sichere Fundament lassen sich dann die vier Säulen der WWU gründen: die geldpolitische und finanzielle, die wirtschaftliche, die soziale und die politische Säule.

Vier Säulen

Im Rahmen der geldpolitischen und finanziellen Säule geht es einerseits darum, dass die stabilisierende Rolle der Europäischen Zentralbank bzw. ihre Funktion als Kreditgeberin der letzten Zuflucht verankert wird. Im Zuge der „Vollendung“ der Banken- und Kapitalmarktunion muss das Ziel stabiler und krisenfester Finanzmärkte im Zentrum stehen, sodass es nicht erneut zu Belastungen der öffentlichen Haushalte kommt. Und es braucht auch eine stärkere Einbeziehung der sozialen Folgen der Regulierung, des Klimaschutzes und des Verbraucher*innenschutzes.

Die wirtschaftliche Säule muss so ausgebaut werden, dass die europäischen Volkswirtschaften zu einem nachhaltigen und fairen Wirtschaftsraum werden. Vor allem die Nachfrageseite muss verstärkt gefördert werden. Der EWSA spricht sich in diesem Sinn für eine Stärkung der Tarifsysteme, gemeinsame Standards für Mindesteinkommenssysteme und eine schnelle Einrichtung der Europäischen Arbeitsbehörde aus, die sich bei der Bekämpfung von grenzüberschreitendem Sozialdumping einbringen soll. Qualitative Arbeit und soziale Sicherheit wirken sich positiv auf die Kaufkraft aus. Aber auch die Ankurbelung öffentlicher Investitionen ist längst überfällig, etwa durch eine „goldene Regel“, die die starren und komplexen EU-Defizitregeln für wichtige Zukunftsinvestitionen öffnet. Dies wurde auch in der Stellungnahme gefordert unter dem Zusatz, dass das mittelfristig die finanzielle und fiskalische Stabilität nicht gefährden dürfe.

Zur „Vollendung“ der wirtschaftlichen Säule gehört auch ein gemeinsamer Schuldtitel. Aktuell wird über ein „Safe Asset“ diskutiert, wozu es jedoch noch keinen konkreten Vorschlag von der Kommission gibt. Für den zukünftigen gemeinsamen Finanzrahmen wurden von der Kommission verschiedene Versionen von Steuern vorgeschlagen, die direkt in den EU-Haushalt fließen. Dem steht der EWSA positiv gegenüber. Ein*e EU-Wirtschafts- und Finanzminister*in könnte die Koordination übernehmen, muss jedoch dem EU-Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Mittels einer europäischen Arbeitslosen(rück)versicherung könnten die Folgen asymmetrischer Schocks abgefedert werden. Diese soll die nationalen Arbeitslosenversicherungen nicht ersetzen, sondern im Krisenfall mit zusätzlichen Mitteln ausstatten. Gleichzeitig soll das Konzept adäquater Standards für die nationalen Arbeitslosenversicherungen weiterverfolgt werden. Und auch Steuerpolitik ist ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Säule, zum Beispiel im Bezug auf die gemeinsame Bekämpfung von Steuerflucht und aggressiver Steuervermeidung.

Die soziale Säule muss im Vergleich zu den bereits weiter entwickelten finanziellen und wirtschaftlichen Säulen dringend aufholen. Hohe soziale Mindeststandards – u. a. für Mindesteinkommen und -löhne – sowie die Gleichstellung von wirtschaftlicher und sozialer Aufwärtskonvergenz bei der ökonomischen Koordinierung der Mitgliedstaaten sind hier wichtige Bausteine.

Die vierte und letzte Säule betrifft die politische Dimension. Angesichts der Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist, müssen sowohl das EU-Parlament als auch zivilgesellschaftliche Gremien wie der EWSA an zentralen sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen beteiligt werden. Nur so können die vielschichtigen Bedürfnisse der europäischen Bürger*innen Gehör finden und verloren gegangenes Vertrauen wieder aufgebaut werden.

Arbeitnehmer*innen-Gruppe: zufrieden, aber nicht alles erreicht

Für den EWSA und insbesondere die Arbeitnehmer*innen-Gruppe, aus deren Reihen auch die Berichterstatterin der Stellungnahme, Judith Vorbach, kommt, ist die Vorlage dieser „neuen Vision“ für die WWU ein guter Auftakt in die nächste Legislaturperiode. Nun gilt es, weiter am Ball zu bleiben und den politischen Prozess zu begleiten.

Die Arbeitnehmer*innen-Gruppe konnte mit der Initiative für diese Stellungnahme viele Anliegen der europäischen Beschäftigten aufgreifen und in die gemeinsame Position des EWSA einfließen lassen. In einigen Punkten musste jedoch nach einem Kompromiss gesucht werden, wie zum Beispiel im Fall der Forderung nach einem sozialen Fortschrittsprotokoll, das sozialen Grundrechten Vorrang vor den Marktfreiheiten und Wettbewerbsregeln einräumt. Hier einigte man sich schließlich auf die Forderung nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen einer soliden wirtschaftlichen Grundlage und einer starken sozialen Dimension. Ebenso wenig gelang es, statt eines „mit umfassenden Ressourcen ausgestatteten Kommissars“ für soziale Belange eine*n echte*n EU-Arbeitsminister*in die Beschlussfassung aufzunehmen. So wird das Ziel eines gleichwertigen Pendants zum*r explizit benannten „Minister*in für Wirtschaft und Finanzen“ (vgl. oben) nur teilweise erreicht.

Eine Frage des politischen Willens

Damit die vier Säulen nicht ins Wanken geraten und das Haus Europa zum Einsturz bringen, müssen sie in Balance gebracht werden. Denn nur wenn die verschiedenen Dimensionen der Integration ausgeglichen sind, können sich konstruktive Wechselwirkungen zwischen ihnen herausbilden, wie zum Beispiel die Ankurbelung der Konsumnachfrage durch eine verbesserte soziale Sicherheit. Der Status quo ist hier ein lehrreiches Negativbeispiel: Da die soziale Säule gegenüber den wirtschaftlichen Binnenmarktfreiheiten zu schwach ausgeprägt ist, mussten in der Vergangenheit vor allem die Beschäftigten und Konsument*innen für die Webfehler der WWU bezahlen, etwa in Form von Arbeitslosigkeit oder bei einer Kürzung von Sozialausgaben. Und gleichzeitig vertiefte sich aufgrund der schwachen Nachfrage auch die wirtschaftliche Krise.

Schafft man stattdessen einen Ausgleich zwischen geldpolitischer, wirtschaftlicher, politischer und sozialer Integration, so kann aus einer wackeligen Konstruktion ein solides Gerüst werden. Das beste Werkzeug für die zuständigen „Statiker*innen“ sind Solidarität und der politische Wille, an einem gemeinsamen Strang zu ziehen. Dies ist die beste Basis für Wohlstand und Frieden innerhalb der EU und auch für ihre internationale Bedeutung.