Die USA lernt, Europa leidet: Haben die USA die besseren ÖkonomInnen?

10. Januar 2014

In den USA herrscht Casino-Crash-Kapitalismus, in Europa dagegen Stabilität und Wohlfahrtsstaat – stimmt das noch? Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 hat sich die Rolle der beiden Regionen gewandelt: Die USA verabschiedeten Konjunkturprogramme und unterstützen über ihre Notenbank Banken und Wirtschaft. Die amerikanische Wirtschaft wächst seit 2008 langsam aus der Krise, und die Arbeitslosigkeit fällt – langsam, aber doch. Sie ist von ihrem Höhepunkt im Jahr 2010 mit fast zehn Prozent der Erwerbspersonen auf etwa sieben Prozent zurückgegangen. In Europa hingegen führte eine völlig verkehrte Reaktion auf die Krise, zuerst der Europäischen Zentralbank und dann der Regierungen (Stichworte: Zinserhöhungen und Austerität), zu Massenarbeitslosigkeit, Armut und einer sozialen Notsituation. Die Arbeitslosenquote in der Eurozone ist von sieben Prozent der Erwerbspersonen vor der Krise auf zehn Prozent im Jahr 2010 und dann weiter auf zwölf Prozent im Jahr 2013 gestiegen.

Die „allgemeine Meinung“

Woher kommt diese gegensätzliche Reaktion der Politik? Ein zentraler Unterschied ist die „allgemeine Meinung“, die von ÖkonomInnen vertreten wird. In den USA akzeptieren viele von ihnen seit der Krise wieder, dass höhere Staatsausgaben eine Multiplikatorwirkung in der Wirtschaft entfalten, dass die Inflation niedrig bleibt, auch wenn die Notenbank Geld druckt, und dass Staatsschulden nur mit minimal geringerem Wachstum einhergehen.

In Europa hingegen ging dieses Wissen, wie mit einer tiefen Krise umzugehen ist, verloren – just auf dem Kontinent, wo der Brite John Maynard Keynes die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er zog. Er hatte durchschaut, dass Märkte sich nicht selbst stabilisieren und dass es daher staatliche Unterstützung braucht.

Salzwasser- gegen Süßwasser-Universitäten

Nach der Finanzkrise ab 2007 setzte sich diese Erkenntnis in den USA verhältnismäßig schnell wieder durch. Einen großen Anteil daran hatte die Spaltung der amerikanischen Universitäten in eine „Salzwasser-“ und eine „Süßwasser-Gruppe“. Die Süßwasser-Unis, die im Landesinneren der USA liegen, vertreten das neoliberale Credo, das weltweit in den 1980er- und 1990er-Jahren en vogue war.

Die Salzwasser-Universitäten an der Ost- und der Westküste hingegen bewahrten etwas von dem keynesianischen Wissen über die Weltwirtschaftskrise. Auch wenn die Salzwasser-Unis dieses Wissen immer stärker mit neoliberalen Versatzstücken vermischt hatten – ganz verschwand es nicht aus ihrem Forschungsprogramm. Seit der Finanzkrise bauen sie darauf auf, und ihre Speerspitzen prägen die öffentliche Diskussion.

So etwa Paul Krugman, Nobelpreisträger und Professor in Princeton, in New Jersey an der Ostküste. Er erkannte durch seine Forschung zum verlorenen Jahrzehnt Japans schnell die Gefahr der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007, in den USA eine ähnliche Stagnation einzuläuten. Er wurde daher zu einem lautstarken Fürsprecher aktiver Staatseingriffe: Krugman bloggt auf der Homepage der New York Times und tritt regelmäßig in den Medien auf.

Oder Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger und Professor an der Columbia-Universität in New York. Er kritisierte schon als Vizepräsident der Weltbank die Sparpolitik, die Niedrigeinkommensländern im Gegenzug für Kredite auferlegt wurde, und verurteilte den wirtschaftlichen und sozialen Kahlschlag, den diese Kürzungen mit sich brachten. Daher war es nur ein kleiner Schritt, diese Einsicht nach der Krise auch auf die USA und Europa anzuwenden.

Christina Romer ist Professorin an der Universität Berkeley bei San Francisco und war Vorsitzende des Rates der Wirtschaftsberater von US-Präsident Obama. Sie belebte ein ganzes Forschungsfeld wieder, das die Wirkungen von Staatsausgaben auf die Wirtschaftstätigkeit untersucht (pdf). Als hätte ihr Artikel die Schleusen geöffnet, gehen seither die wissenschaftlichen Zeitschriften über von Studien, die zeigen, dass der Staat die Wirtschaft ankurbeln kann: durch höhere Ausgaben, vor allem in der Krise.

Sogar der Internationale Währungsfonds, der in der Vergangenheit nicht gerade eine fortschrittliche Politik vertrat, machte in dieser Frage eine Kehrtwende. Olivier Blanchard, Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston und Chefökonom des Internationalen Währungsfonds in Washington, belegte, dass Staatsausgaben viel stärkere Wachstumsimpulse geben als bis dahin angenommen.

In den USA und im internationalen Umfeld besannen sich somit viele Ökonominnen und Ökonomen auf die Erkenntnisse aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre und bauten darauf relativ rasch mit modernen Methoden auf. Diese Ergebnisse gingen zumindest teilweise in die Politik der USA ein und führten zu einer langsamen Erholung – auch wenn einige ÖkonomInnen die Abwendung der Wirtschaftspolitik vom neoliberalen Dogma als zu zögerlich und zu wenig weitgehend kritisierten, und daraus folgerten, dass die Erholung schwach sein würde.

Europa wie in den 1930ern

In Europa ist die Situation diametral entgegengesetzt. Im ganzen deutschsprachigen Raum etwa gibt es kaum mehr keynesianische ProfessorInnen an den Universitäten – nicht einmal solche, die durch die Krise bekehrt wurden. Nach einer Schrecksekunde war daher die wirtschaftspolitische Debatte in Europa neoliberal: Schulden und Defizite müssen hinunter, Löhne für die Wettbewerbsfähigkeit gesenkt werden.

Damit verschlimmerte die Politik die private Nachfrageschwäche mit einer öffentlichen Nachfrageschwäche: Europa spart sich in eine zweite Weltwirtschaftskrise. Die wirtschaftliche Entwicklung ist in Europa heute genauso schwach wie zum gleichen Zeitpunkt in der Krise der 1930er-Jahre.

Gute Ökonomen kommen nicht zu Wort

Dabei gibt es unter den europäischen ÖkonomInnen Ausnahmen, die für eine andere Politik plädierten. In Großbritannien bloggt Simon Wren-Lewis, Professor in Oxford, regelmäßig über die Krise in Europa. Paul de Grauwe, Professor an der London School of Economics, schreibt seit der Krise keynesianische wirtschaftspolitische Analysen. Er zeigte mit seiner Ko-Autorin Yuemei Ji, dass die Finanzmärkte in der Eurozone nicht rational sind, sondern sich wie eine panische Herde verhalten. Das bedeutet, dass die Europäische Zentralbank – so wie jede andere Zentralbank in der westlichen Welt – die Staatsschulden garantieren sollte, damit die Finanzmärkte nicht in der Realwirtschaft Schaden anrichten.

Im deutschsprachigen Raum kamen diese Wirtschaftswissenschafter in der öffentlichen Debatte über die Krise kaum vor. Von den 15 am häufigsten zitierten Ökonomen waren nur zwei progressiv (und keine einzige eine Frau): Peter Bofinger und Gustav Horn.

In Deutschland ist Peter Bofinger, Professor in Würzburg und Mitglied des deutschen Sachverständigenrates, ein einsamer Rufer gegen das Spardiktat und die Exporthysterie. Er warnt vor der verfehlten europäischen Politik, die sich in der Schuldenbremse und Defizitregeln (pdf) niederschlägt.

Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, sieht ebenfalls eine Steigerung der Nachfrage in Deutschland als das Gebot der Stunde. Er wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass Deutschland unter einer Nachfrageschwäche leidet: Wegen ihrer niedrigen Löhne leisteten die Deutschen keinen ausreichenden Beitrag zum europäischen Wachstum.

Das heißt: Die ÖkonomInnen in den USA bewiesen seit der Krise ihre Lernfähigkeit. Sie entdeckten Einsichten aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre wieder und bestätigten diese mit modernen Methoden. In Europa hingegen fanden die wenigen aufgeschlossenen ÖkonomInnen kaum Gehör. Die große Mehrheit der ÖkonomInnen und die Politik hielten an den veralteten, neoliberalen Dogmen fest. Damit ritten sie die Wirtschaft immer tiefer in den Schlamassel. Bei der steigenden Arbeitslosigkeit ist in Europa auch fünf Jahre nach Krisenbeginn noch kein Ende abzusehen.

Dieser Beitrag erschien zunächst in Heft 12/2013 der Arbeit&Wirtschaft.