Ukraine-Vertriebene an Österreichs Schulen – Prognosen und Handlungsbedarf

07. April 2022

Seit dem 24. Februar 2022 herrscht in der Ukraine Krieg. Bis Ende März 2022 berichtete das UNHCR bereits von über 4 Millionen vertriebene Menschen aus der Ukraine. Der größte Teil davon in Polen (2,3 Mio), Rumänien (500.000) und Ungarn (300.000). Es könnte die größte Flüchtlingskrise auf dem Europäischen Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg werden, wenn kein rasches Ende der Kämpfe eintritt. In Österreich allein sind in diesem Zeitraum über 230.000 Menschen angekommen – 42.000 davon hatten bis Ende März einen Antrag auf Vertriebenen-Status in Österreich gestellt. Behörden stehen vor der Herausforderung, mit sich täglich veränderten Zahlen und ungewissen Szenarien des weiteren Verlaufs die Aufnahme und Integration der Vertriebenen bestmöglich zu organisieren. Der folgende Beitrag rechnet bisherige Prognosen auf Kinder und Jugendliche hoch und diskutiert die aktuell dringendsten Maßnahmen für die schulische Integration ukrainischer Vertriebener.

Entwicklungsprognosen: Schwierig aber notwendig für Planung

Nach Ausbruch des Krieges war bereits der März im Zeichen der Vorbereitungen schulischer Einbindung von ukrainischen Kindern und Jugendlichen gestanden. Als Ausblick auf mögliche Szenarien schilderte der im Bundeskanzleramt geschaffene Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, Michael Takács, Mitte März die Prognosen seiner Stabstelle: Dort rechnet man mit insgesamt etwa 200.000 Vertriebenen, die in Österreich längerfristig bleiben könnten. Diese Prognosen übersteigen somit deutlich die Antragszahlen der beiden Fluchtjahre 2015/16, in denen insgesamt rund 130.000 Asylanträge von vorwiegend afghanischen, syrischen und irakischen Flüchtlingen gestellt wurden. Zudem handelt es sich bei den aktuellen Fluchtbewegungen in ungleich höherem Maße um Frauen und Kinder, was direktere Auswirkungen auf das Schulsystem hat. Ob diese Prognosen tatsächlich eintreffen, werden zwar erst die kommenden Monate und der weitere Kriegsverlauf zeigen. Allerdings lässt sich auf Basis erster Prognosen zumindest annäherungsweise vorausberechnen, was ein solches Szenario für das Schulsystem bedeuten würde.

Zieht man zur Einschätzung die Altersverteilung der bis 24. März in Wien registrierten vertriebenen Ukrainer:innen heran, so sind darunter rund 10% Kinder unter 6 Jahren, 22% im Pflichtschulalter (6-14 Jahre) und rund 7% an Jugendlichen, die darüber hinaus noch in die Ausbildungspflicht bis 18 Jahre fallen (15-18 Jahre). Geht man von einer gleichbleibenden Altersstruktur aus, so würde das auf 200.000 Vertriebene hochgerechnet bedeuten, dass rund 20.600 Kinder unter 6 Jahren, 43.650 Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 14 Jahren sowie weitere rund 14.300 Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren in Österreichs Bildungseinrichtungen aufgenommen und integriert werden müssten (Diagramm 1). Im Vergleich zur Gesamtschüler:innenzahl von 1.142 Mio Schüler:innen des Schuljahres 2020/21 wäre dies ein Zuwachs von 5% an zusätzlichen Schüler:innen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Selbst bei einer halb so hohen Anzahl tatsächlich Vertriebener brauchen immer noch zehntausende Kinder und Jugendliche zusätzliche Plätze an österreichischen Bildungsinstitutionen. Eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der schulischen Integration wird dabei die Verteilung von Schüler:innen über das gesamte Bundgesgebiet spielen. Derzeit befindet sich ein Großteil der Vertriebenen im Osten Österreichs, in den Bundesländern Wien und Niederösterreich – eine bundesweite Verteilung entsprechend der Kapazitäten der Länder wird aktuell verhandelt. Denn die Bundesländer gehen bei der Einbindung ukrainischer Schüler:innen mittlerweile unterschiedlich vor. War in den ersten Wochen noch mehrheitlich berichtet worden, dass ankommende Schüler:innen in bestehende Regel- und Deutschförderklassen eingebunden würden, dienen seit Ende März etwa in Wien bereits eigens eröffnete Klassen für ukrainische Schüler:innen der Bewältigung der vollen Klassenkapazitäten. Neben vollen Klassen könnte Raumbedarf in manchen Bundesländern eine weitere Herausforderung darstellen – wenngleich der Wiener Bildungsstadtrat diese etwa durch Heranziehung bislang ungenutzter Räumen in Schulneubauten oder in vermieteten Gebäuden als noch bewältigbar einstuft.

Dringender Bedarf: Personal, psychosoziale Begleitung, pädagogische Kontinuität und Flexibilität

Größtes aktuelle Herausforderung ist die Personalsituation. Bereits im Normalbetrieb weisen Lehrergewerkschafter:innen seit längerem auf eine sich verschärfende Personalsituation im Schulbereich durch Pensionierungswellen und fehlende Ausbildungsjahrgänge hin. Diese ist infolge der Covid-Pandemie durch Ausscheiden und Krankenstände zusätzlich angespannt, nun aber besteht nochmals erhöhter Personalbedarf aufgrund der steigenden Zahl ukrainischer Schüler:innen (v.a. an Pädagog:innen mit Deutsch-als-Zweitsprache-Kompetenz und/oder Ukrainisch-Kompetenz).

  • Angesichts dessen bedarf es besonderer Anstrengungen, um zusätzliches pädagogisches Personal zu gewinnen. Aktuell reagieren Bildungsdirektionen bereits mit der (Re-)aktivierung von pensionierten oder studentischen Pädagog:innen sowie mit der gezielten Anwerbung und Prüfung von ukrainischen Personen mit pädagogischer Ausbildung – in Wien können sich ukrainischsprachige Interessent:innen etwa direkt an die Bildungsdirektion wenden. Um qualifizierte Kandidat:innen einbinden zu können wird jedoch Flexibilität bei Anstellungsformen und Nachqualifizierungsmöglichkeiten notwendig sein, ohne dadurch sofort den Grundversorgungszugang und die damit verbundene Unterkunft zu verlieren.
  • Ein weiterer Personalbereich, der infolge der Covid-Pandemie bereits an sein Limit gekommen war, ist das (schul-)psychologische und schulsozialarbeiterische Personal. Gerade die psychosoziale Stabilisierung ist für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung aber besonders wichtig. Zusätzliches schulpsychologisches Personal ist deshalb ein ebenso dringliches Anliegen, insbesondere die bereits im Zuge der 2015/16 erfolgreich eingesetzten Mobilen Interkulturellen Teams (MITs) aus mehrsprachigen Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen – sie kommen nach Bedarf direkt an die Standorte und unterstützen Schulen bei der Integration von Vertriebenen.
  • Nicht zuletzt ist administratives Unterstützungspersonal zur Entlastung von Pädagog:innen eine bereits während der Corona-Pandemie geforderte Hilfsmaßnahme für Schulstandorte. Angesichts der nunmehr zusätzlichen angefallenen Anforderungen ist eine zusätzliche Vollzeitstelle pro Standort dringender denn je – nicht zuletzt ist auch der steigende Administrationsbedarf bei den Behörden selbst personell mitzuberücksichtigen.
  • Die Finanzierung dieses zusätzlichen Personalbedarfs verlangt nach ehestmöglicher Zusicherung diesbezüglicher Bundesmittel, um den Schulerhaltern nicht nur Planungssicherheit für die nächsten Wochen, sondern bereits für die Vorbereitung des nächsten Schuljahres zu geben. Wie schon als Reaktion auf die Fluchtbewegungen 2015/16 sollten mit der Einrichtung eines Integrationstopfes (seinerzeit dotiert mit jährlich 80 Mio €) auch jetzt wieder bedarfsorientente Abrufkontingente für Bildungsdirektionen und Schulen zur Verfügung gestellt werden.

Doch die personelle Herausforderung ist nur eine Ebene. Die Ausnahmesituation verlangt auch in schulorganisatorischer und pädagogischer Hinsicht nach spezifischen Maßnahmen:

  • So ist für die vertriebene Schüler:innen, trotz ihres Einstiegs in ein anderes Bildungssystem als in der Ukraine, auch pädagogische Kontinuität wichtig, um in ihrer Lernentwicklung nicht zu stark zurückgeworfen zu werden. Diese Kontinuität wird derzeit u.a. durch fortgesetzten Einsatz ukrainischsprachiger Lernmaterialien sowie durch Distance-Learning Angebote aus der Ukraine bzw. Angebote der allukrainischen Online-Schule bewerkstelligt (für Schüler:innen im Maturajahr hat sogar ein Bildungszentrum zum Maturaabschluss nach Ukrainischem Lehrplan gestartet). Gleichzeitig erfolgt die Einbindung der Schüler:innen in schulstandortspezifische Deutschfördermaßnahmen zur sukzessiven Integration in den Regelunterricht.
  • Bedenklich ist jedenfalls ein ausschließlicher Unterricht in Deutsch im Rahmen von getrennten Deutschförderklassen, wie vom Bildungsministerium vorgeschlagen. Denn dort fehlen deutschsprachige Sprachvorbilder, Fachinhalte kommen zu kurz und Lernrückstände entstehen, die Schullaufbahnverluste produzieren können. Ein Aussetzen der Regelungen des § 8h SchOG zu Deutschförderklassen und MIKA-D bis zum Sommer wäre eine Maßnahme, die Schulen aktuell größere Flexibilität bei der Aufnahme sowie bei der Gestaltung eines ausgewogenen Unterrichts gestatten würde. Langfristig ist ein integrativeres Fördermodell mit unterschiedlichen Modulen für Quereinsteiger:innen und in Österreich aufgewachsene Schüler:innen – wie vom AK-Sprachschlüssel entwickelt – eine wirksamere Alternative der Deutsch- und Erstsprachförderung.
Dekoratives Bild © A&W Blog
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Rasches Commitment als Gebot der Stunde

Sechs Wochen Krieg in der Ukraine haben enormes Leid und Vertreibung verursacht. Auch wenn die Hoffnung auf ein baldiges Ende weiterlebt, Szenarien einer fortbestehenden Krisensituation müssen mit fortgesetzten Fluchtbewegungen rechnen. Für die Integration zehntausender Schüler:innen in Österreichs Bildungsinstitutionen sind deshalb vor allem personelle aber auch finanzielle und schulorganisatorische Sofortmaßnahmen dringend benötigt. Denn Kinder und Jugendliche brauchen neben unmittelbarem Schutz und Stabilisierung auch schulische Kontinuität; Eltern müssen ihre Kinder sicher betreut und unterrichtet wissen, um ihre eigene Arbeitsmarktintegration oder Qualifizierung überhaupt verfolgen zu können; und Schulen wie Bildungsdirektionen brauchen Planungssicherheit für das nächste Schuljahr. Rasche Commitments zu gemeinschaftlichen Lösungen, Flexibilität und finanziellen Sicherheiten sind also das Gebot der Stunde.

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