Lücken und Tücken der Arbeitslosenversicherung für Arbeitnehmer*innen

22. September 2021

Unternehmer*innen beklagen, dass Arbeitsuchende wählerisch und nicht arbeitswillig sind. Die Bundesregierung will „das Arbeitslosengeld mit Anreizen weiterentwickeln, damit arbeitslose Menschen wieder schneller ins Erwerbsleben zurückkehren können“. Demzufolge könnte man meinen, dass die geltende Rechtslage es Arbeitsuchenden ermöglicht, untätig zu sein und keine Beschäftigung aufzunehmen. Tatsächlich ist das AlVG sehr restriktiv und hält existenzbedrohende Tücken bereit. Abseits undifferenzierter Debatten gibt es genügend Bedarf, den Versicherungsschutz zu verbessern.

Die Antragstellung

Die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung müssen mittels eines streng formalisierten Antragsverfahrens geltend gemacht werden. Unterläuft den Arbeitnehmer*innen bei der Antragstellung ein Fehler, sieht das Gesetz keine Möglichkeit vor, die Leistung rückwirkend auszubezahlen. Auch wenn die Betroffenen schuldlos den Antrag verspätet stellen. Dasselbe gilt, wenn die Wiedermeldung nach einer Unterbrechung nicht innerhalb einer Woche erfolgt.

Das Gesetz lässt dabei völlig außer Acht, dass es Konstellationen geben kann, in denen eine rechtzeitige Antragstellung oder Wiedermeldung gar nicht möglich ist. Zum Beispiel, wenn die Österreichische Gesundheitskasse eine Krankschreibung und damit den Anspruch auf Krankengeld rückwirkend verkürzt und sich damit der Zeitpunkt für die Geltendmachung des Arbeitslosengeldes nachträglich ändert.

Auf welcher Grundlage wird die Leistung berechnet?

Viele sind überrascht, dass das Arbeitslosengeld in der Regel gerade einmal 55 % des für die Berechnung heranzuziehenden Einkommens beträgt. Die genaue Berechnung der Leistung ist dabei für Laien kaum bis gar nicht nachvollziehbar. Seit 1.7.2020 muss die Bemessungsgrundlage für das Arbeitslosengeld in bis zu 7 komplexen Prüfschritten ermittelt werden. Es liegt auf der Hand, dass Leistungsbezieher*innen die Höhe des Arbeitslosengeldes nicht selbst überprüfen können. Es bleibt daher nur die Möglichkeit, einen Bescheid über die Leistungshöhe zu verlangen, was für den gesamten administrativen Apparat einen erheblichen Mehraufwand bedeutet und personelle Ressourcen bindet, die sinnvoller eingesetzt werden könnten.

Wie steht es um die vermeintliche Freiheit, Jobangebote abzulehnen?

Die derzeit im Arbeitslosenversicherungsgesetz vorgesehenen Zumutbarkeitsbestimmungen und Sanktionsmöglichkeiten sind bereits sehr restriktiv. Eine Wegzeit von insg. zwei Stunden für Hin- und Rückfahrt für eine Vollzeitbeschäftigung ist jedenfalls zumutbar. Der VwGH hat mit seiner Rechtsprechung diese Grenze de facto auf drei Stunden ausgedehnt, weil aus seiner Sicht erst darüber eine wesentliche Überschreitung vorliegt. Ebenso zumutbar ist eine Beschäftigung in einem anderen Bundesland, wenn am Arbeitsort eine Unterkunft zur Verfügung steht und keine Betreuungspflichten bestehen. Welchen Standards die Unterkunft zu entsprechen hat oder ob diese kostenlos zur Verfügung gestellt wird, spielt keine Rolle.

Ergänzt werden diese Regelungen durch eine strenge Rechtsprechung und ein striktes Sanktionsregime. Bereits Kleinigkeiten führen dabei zu einer 6- oder 8-wöchigen Sperre des Arbeitslosengeldes: eine irrtümlich an die falsche E-Mail-Adresse verschickte Bewerbung, ein ungeschickter Hinweis auf Betreuungspflichten für Angehörige oder eine laufende Ausbildung im Bewerbungsgespräch oder Bewerbungsschreiben, die Beantwortung der Frage eines Vorarlberger Hoteliers, ob man als in Wien lebende Arbeitsuchende nicht lieber in Wien arbeiten würde, mit „eigentlich ja“ – all das wird in der Rechtsprechung als vorsätzliche Vereitlungshandlung beurteilt und führt zu einem temporären Verlust des Arbeitslosengeldes.

Selbst der 100-tägige Berufsschutz ist eine mitunter zahnlose Schutzbestimmung. Dieser ist nämlich nur dann zu berücksichtigen, wenn durch eine Tätigkeit in einem anderen Bereich eine Rückkehr in den bisherigen Beruf wesentlich erschwert wird.

Die Darstellung, dass Arbeitsuchende Beschäftigungen ablehnen können und somit ein Wahlrecht haben, ist schlicht falsch und entspricht weder der Gesetzeslage und Rechtsprechung noch der Verwaltungspraxis des AMS.

Geringfügiger Zuverdienst – als Gefahr für den Leistungsanspruch

Schon eine minimale Überschreitung der Geringfügigkeitsgrenze führt dazu, dass man nicht mehr als arbeitslos gilt und damit in diesem Monat keine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung gebührt. Der Grund für die Überschreitung ist dabei irrelevant. Bereits eine Überschreitung von nur einem Cent kann die Konsequenz haben, dass die komplette Leistung für den betreffenden Monat zurückzubezahlen ist oder die Leistung eingestellt wird.

Und schlimmer noch, stellt sich die Überschreitung der Geringfügigkeitsgrenze erst nachträglich heraus, weil beispielsweise Arbeitgeber*innen Entgelte nachverrechnen, gelten die betroffenen Personen auch in den fortgesetzten Monaten der Beschäftigung weiterhin als nicht arbeitslos – selbst wenn die Beschäftigung wieder geringfügig ist. Das Gesetz sieht nämlich vor, dass zwischen einer vollversicherten und einer geringfügigen Beschäftigung beim selben Arbeitgeber eine Unterbrechung von zumindest einem Monat liegen muss. In der Praxis kann es dadurch zu Rückforderungen des AMS in Höhe von mehreren tausend Euro kommen.

Durch die Regelung sollte vermieden werden, dass Arbeitgeber*innen Arbeitnehmer*innen nach Bedarf beschäftigen und der Entgeltausfall mit der Leistung aus der Arbeitslosenversicherung kompensiert wird. Das Risiko eines Überschreitens der Zuverdienstgrenze tragen aber allein die Leistungsbezieher*innen. Für Arbeitgeber*innen, die Arbeitnehmer*innen „zwischenparken“ oder geringfügig Beschäftigte mehr als vertraglich vereinbart einsetzen, sehen die sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen keine Nachteile vor.

Die Betroffenen verbinden mit einer geringfügigen Beschäftigung die Hoffnung, so „einen Fuß in der Tür zu haben“ und bei besserer Auftragslage vollversichert beschäftigt zu werden. Viele sind auch aufgrund der niedrigen Nettoersatzrate dazu gezwungen, dazuzuverdienen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Oft handelt es sich dabei um Menschen, die ohne Zuverdienst einen Anspruch auf eine Aufstockung durch die Mindestsicherung hätten, diese aber aus Scham nicht beantragen wollen. Eine aktuelle Studie des SORA Instituts hat sich im Auftrag des Momentum Instituts mit den Gründen für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigungen während der Arbeitssuche befasst.

Festzuhalten ist außerdem, dass der Missbrauch der Versicherungsleistungen Arbeitslosengeld und Notstandshilfe ohnehin bereits behördenübergreifend bekämpft wird: durch den Erhebungsdienst des AMS, die Finanzpolizei und im Rahmen der Gemeinsamen Prüfung der Lohnabgaben und Beiträge durch ÖGK und Finanzamt (GPLA). Bei missbräuchlicher Inanspruchnahme der Leistung droht nicht nur der Widerruf und die Rückforderung durch das AMS, sondern auch ein Strafverfahren.

Rückforderung der Leistung – Existenzsicherung irrelevant?

Vermutet das AMS einen Überbezug der Leistung, werden die Leistungsbezieher*innen – zumeist noch bevor ein Bescheid über die Rückforderung erlassen wird– darüber informiert und aufgefordert tätige Reue zu üben, andernfalls eine Strafanzeige erfolgt. D. h. es wird ihnen die Möglichkeit gegeben, den Rückforderungsbetrag anzuerkennen und sich bereit zu erklären, diesen mittels Einmalzahlung oder in vom AMS festgelegten Raten zu begleichen. Hintergrund dieser Vorgehensweise ist eine Weisung zur Bekämpfung von Sozialleistungsbetrug. Es liegt auf der Hand, dass viele Betroffene allein durch den Hinweis auf ein Strafverfahren das Vorliegen eines Rückforderungstatbestandes nicht mehr hinterfragen, auf ein Rechtsmittel verzichten und den Rückforderungsbetrag begleichen.

Grundsätzlich sollte eine solche Aufforderung zur tätigen Reue nur dann erfolgen, wenn der Verdacht besteht, dass der Überbezug der Leistung von der arbeitslosen Person vorsätzlich herbeigeführt wurde. In der Praxis passiert das freilich nicht. Unabhängig davon, wodurch der Überbezug entstanden ist und ob dieser überhaupt vom Leistungsbezieher verursacht wurde, wird Leistungsbezieher*innen eine Strafanzeige angedroht und sie werden dazu aufgefordert, die Forderung anzuerkennen und zu begleichen. Dabei kann es sich um eine Überschneidung mit einer Krankengeldzahlung der ÖGK von nur einem Tag handeln. Oder eine kraft Gesetzes verschuldensunabhängige Rückforderung aufgrund eines erst nachträglich vorliegenden Einkommenssteuerbescheides. Ja, selbst bei einer schlicht falschen Meldung von Beschäftigungszeiten beim Dachverband erfolgt die Androhung einer Strafanzeige.   

Das AMS – kein Gläubiger wie jeder andere?

Im Fall einer Rückforderung des erhaltenen Arbeitslosengeldes sieht das Gesetz vor, dass die Hälfte der laufenden Leistung einbehalten und auf den Rückforderungsbetrag angerechnet werden kann. Auch andere Sozialversicherungs-Gesetze sehen vor, dass die auszahlenden Stellen dazu berechtigt sind, die laufenden Ansprüche mit bestehenden Forderungen gegenzurechnen. Im ASVG und GSVG ist diese Gegenrechnung jedoch begrenzt. Den Leistungsbezieher*innen muss zumindest 90 % des Ausgleichzulagenrichtsatzes (für Alleinstehende 2021: 1.000,48 Euro brutto) verbleiben. Das Arbeitslosenversicherungsgesetz sieht eine solche Deckelung nicht vor. Die Leistung kann also bis weit unter das Existenzminimum oder auch den ohnehin schon darunterliegenden Ausgleichzulagenrichtsatz einbehalten werden. Eine laufende Privatinsolvenz oder Pfändungen haben keine Auswirkungen auf den Einbehalt. Wie die Leistungsbezieher*innen und ihre Familien in diesem Fall ihre Existenz bestreiten, spielt keine Rolle.

Fazit

Die Liste der kleinen und nicht ganz so kleinen Tücken des Arbeitslosenversicherungsgesetzes ließe sich problemlos weiter fortsetzen. Es sollte aber auch anhand der ausgewählten Beispiele klar sein, dass die bestehenden Regelungen arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer*innen keine Pause ermöglichen und selbst kleine Fehler nicht verzeihen. Ziel des AlVG ist eine rasche Reintegration in den Arbeitsmarkt und damit eine, wenn auch nur kurzfristige Entlastung der Versichertengemeinschaft. Die existenzsichernde Funktion der Versicherungsleistung sowie die Unterstützung bei der Suche nach einer nachhaltigen, den Qualifikationen entsprechenden und damit die Versicherungsgemeinschaft langfristig entlastenden Beschäftigung bleiben dabei oft auf der Strecke. Das AMSG, das den Aufgabenbereich des AMS definiert, legt u. a. das nachhaltige Zusammenführen von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage, möglichst unter Berücksichtigung der Vermittlungswünsche der Arbeitsuchenden, und die Herstellung einer weitestmöglichen Chancengleichheit für am Arbeitsmarkt benachteiligte Gruppen fest. Es ist an der Zeit, im Leistungsrecht der Arbeitslosenversicherung einige Schrauben ein wenig auf- anstatt noch fester zuzudrehen. Das würde es auch den Mitarbeiter*innen des AMS ermöglichen, sich wieder mehr der wirklichen Beratungstätigkeit zu- und von der im AlVG geforderten „Ermittlungstätigkeit“ abzuwenden. Zu denken ist dabei z. B. an die Möglichkeit, in berücksichtigungswürdigen Fällen das Arbeitslosengeld rückwirkend zuzuerkennen oder sich für kurze Zeit unter Fortbezug der Leistung abzumelden.

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