Die Streichung der Zuverdienstmöglichkeiten bei Arbeitslosen ist ein Irrweg

15. November 2021

In der Diskussion um die Reform der Arbeitslosenversicherung wurde vorgeschlagen, dass arbeitslose Menschen nicht mehr zum AMS-Arbeitslosengeld dazuverdienen dürfen. Vor diesem sozial- und arbeitsmarktpolitischen Irrweg ist dringend abzuraten. Vor allem für Langzeitarbeitslose würde sich die Situation deutlich verschlechtern. Stattdessen braucht es eine Jobgarantie, mehr AMS-Personal und mehr psychologische Angebote.

Zuverdienst ist oft lebensnotwendig

Die Armutsgefährdungsschwelle in Österreich liegt bei 1.328 Euro pro Monat. Das durchschnittliche Arbeitslosengeld lag im Jahr 2020 bei rund 990 Euro. Frauen bekommen mit 900 Euro sogar noch deutlich weniger Arbeitslosengeld. Wer Notstandshilfe bezieht, bekam durchschnittlich lediglich 873 Euro netto monatlich. Arbeitslose Menschen können dazu bis zu 475,86 Euro im Monat in Form einer geringfügigen Arbeit dazuverdienen. Oft die einzige Möglichkeit, über die Runden zu kommen.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Zuletzt waren etwa 11 Prozent der Arbeitssuchenden in geringfügiger Beschäftigung. Das sind in etwa 34.000 Personen. Diese Gruppe braucht das zusätzliche Geld umso nötiger: Laut Momentum Institut haben 84 Prozent von ihnen ein monatliches Einkommen von unter 1.000 Euro, bei jenen ohne Zuverdienst sind es „nur“ 66 Prozent.

Rund 40 Prozent der Arbeitssuchenden mit geringfügigem Zuverdienst haben eine Versorgungsverpflichtung gegenüber Kindern unter 15 Jahren. Rund 7.000 arbeitslose Frauen haben eine geringfügige Beschäftigung und gleichzeitig Versorgungspflichten. Rund 6.600 Arbeitslose mit Zuverdienst leiden unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die Streichung der Zuverdienstmöglichkeit würde das Armutsrisiko dieser Gruppen deutlich erhöhen.

Falsches Menschenbild verzerrt Diskurs

Trotzdem wurde in den letzten Wochen zunehmend diskutiert, den Druck auf arbeitssuchende Menschen zu verstärken. Das Menschenbild der „freiwilligen Arbeitslosigkeit“ wird in diesen Diskussionen immer wieder bedient. Das Argument, dass sich Personen auf ihrer Arbeitslosigkeit und dem geringfügigen Zuverdienst „ausruhen“ würden, lässt sich allerdings klar widerlegen: 97 Prozent suchen aktiv nach einer Festanstellung, auch wenn sie während ihrer Arbeitssuche geringfügige Gelegenheitsjobs annehmen. In der medialen Diskussion völlig außer Acht gelassen wird die Tatsache, dass Arbeit auch andere (latente) Funktionen als lediglich den Erhalt monetären Einkommens hat. Die Bedeutung von Arbeit für die erlebte Zeitstruktur des Tages, die soziale Einbindung, die persönliche Identität, die Teilhabe an kollektiven Zielen und regelmäßige Aktivität wird besonders im Fall des Verlusts der Erwerbsarbeit deutlich.

Evidenz uneinheitlich

Eine in Zusammenhang mit dem Zuverdienst häufig zitierte Studie von Eppel und Mahringer zeigt auf, dass eine geringfügige Beschäftigung Arbeitssuchende zwar länger in Arbeitslosigkeit hält. Die Personen mit geringfügiger Beschäftigung sind im dreijährigen Nachbetrachtungszeitraum im Schnitt um zwölf Tage weniger in regulärer Beschäftigung.

Eine differenzierte Betrachtung der Ergebnisse zeigt allerdings: Statistisch signifikant ist dies für Männer, Personen im Haupterwerbsalter, Personen mit höherem Bildungsgrad und Personen mit keiner, kurzer oder mittlerer Arbeitslosigkeitsdauer. Nur auf geringerem Signifikanzniveau trifft dies auch für Frauen mit Kindern sowie für Menschen zwischen 45 und 55 Jahren zu.

Für Frauen ohne Kinder und für Personen mit geringerem Bildungsgrad gilt dies nicht. Ebenso trifft dies nicht bei Langzeitarbeitslosen mit einer Arbeitslosigkeitsdauer über 366 Tage zu. Ganz im Gegenteil, eine geringfügige Beschäftigung erhöht für diese Gruppe die Beschäftigungsdauer nach der Arbeitslosigkeit (+ 9 Tage).

Angesichts der seit der Studienveröffentlichung deutlich gestiegenen Langzeitarbeitslosigkeit ist der positive Effekt auf diese Gruppe in der Debatte nicht zu vernachlässigen. Für Langzeitarbeitslose stellt die geringfügige Beschäftigung eine „Brückenfunktion“ zum Wiedereinstieg in eine vollversicherte Beschäftigung dar.

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Eine erst jüngst erschienene französische Studie zeigt die positiven Aspekte einer geringfügigen Beschäftigung während der Arbeitssuche auf: Die Wahrscheinlichkeit zur Aufnahme einer regulären Beschäftigung in den folgenden Monaten erhöht sich demnach um 87 Prozent. Positive oder negative Effekte auf das Einkommen in der folgenden regulären Beschäftigung werden nicht festgestellt. Eine österreichische Studie von Weber und Böheim zeigte 2011 allerdings negative Effekte auf das zukünftige Einkommen und die Beschäftigungschancen auf. Die weitere (vor allem deutsche) Studienlage z. B. zu Effekten auf die Dauer der Arbeitslosigkeit, die Wahrscheinlichkeit der Wiederaufnahme einer regulären Beschäftigung und die Stabilität dieser, ist uneinheitlich.

Teuflischer Cocktail für Langzeitarbeitslose

Vor dem Hintergrund der Studienergebnisse des WIFO bahnt sich mit den Reformvorschlägen des Arbeitsministers Kocher ein teuflischer Cocktail an. Das vorgeschlagene degressive Arbeitslosengeld, d. h. ein Arbeitslosengeld, das mit der Arbeitslosigkeitsdauer sinkt, wird die Einkommenssituation von Langzeitarbeitslosen verschlechtern. Würden gleichzeitig auch die Zuverdienstmöglichkeiten wegfallen, würde sich die finanzielle Situation zusätzlich verschärfen – ein sozialpolitischer Irrweg. Aber auch arbeitsmarktpolitisch unklug: Laut der Evidenz des WIFO bedeutet die Streichung der Zuverdienstmöglichkeiten eine Verschlechterung der Wiedereingliederungschancen von Langzeitarbeitslosen. Dieser Effekt ist gerade jetzt besonders brisant, da das zentrale Problem am Arbeitsmarkt die Langzeitarbeitslosigkeit darstellt. Während es zum Zeitpunkt der Studie (2008–2010) in Österreich noch rund 40.000 Langzeitbeschäftigungslose gab, sind es aktuell fast dreimal so viele, nämlich 114.640 im Oktober 2021. Auch relativ zeigt sich die hohe Relevanz dieser Zielgruppe. Während 2008 noch 15 Prozent der Arbeitslosen langzeitbeschäftigungslos waren, sind es jetzt 42,5 Prozent – der höchste Wert in Österreich im Oktobervergleich.

Für eine sehr hohe Anzahl von Arbeitssuchenden wäre also ein degressives Arbeitslosengeld in Kombination mit einer Streichung der Zuverdienstmöglichkeit somit ein teuflischer Cocktail, der sowohl arbeitsmarkt- als auch sozialpolitisch für diese Zielgruppe verfehlt ist.

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Folgen von Arbeitslosigkeit entgegenwirken

Seit der Pionierstudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel aus den 1930er-Jahren wurde eindrucksvoll nachgewiesen, dass Arbeitslosigkeit – vor allem wenn sie länger andauert – massive seelische Belastungen mit sich bringt und eine stark isolierende Wirkung hat. Auch aktuelle Befunde des Arbeitsklimaindex verdeutlichen, dass Arbeitslose starken psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Eine geringfügige Beschäftigung in der Arbeitslosigkeit kann diesen sozialpsychologischen Folgen entgegenwirken. Eine geringfügige Beschäftigung verbessert die finanzielle Lage der Arbeitssuchenden, schafft Zeitstruktur, soziale Kontakte, Netzwerke und Wertschätzung. Eine beeindruckende Studie der Universität Cambridge hat gezeigt, dass acht Stunden Erwerbsarbeit pro Woche das Risiko einer psychischen Erkrankung reduzieren.

Fazit: Was hilft wirklich?

Angesichts des akuten Problems der Langzeitarbeitslosigkeit und der uneindeutigen Evidenz in Bezug auf die Effekte der Zuverdienstmöglichkeiten bei Arbeitslosen kann schlussgefolgert werden, dass die Streichung der Zuverdienstmöglichkeiten pauschal kaum Probleme löst. Die Situation – vor allem für Langzeitarbeitslose – würde sich aber arbeitsmarkt- und sozialpolitisch verschlechtern. Die Möglichkeit des geringfügigen Zuverdienstes zum Arbeitslosengeld und zur Notstandshilfe sollte daher bestehen bleiben. Zu diskutieren ist aber generell – unabhängig von den Arbeitslosen –, ob solche Beschäftigungsmöglichkeiten ohne vollen Sozialversicherungsschutz in dieser Form sinnvoll sind. Die Betriebe zahlen hier weniger Sozialabgaben. Aber für die Menschen kann das ein Nachteil sein, besonders für Frauen, die später niedrigere Pensionen bekommen.

Wenn es darum geht, die Arbeitslosigkeitsdauer und im Speziellen die Langzeitarbeitslosigkeit zu senken, braucht es:

  1. Mehr Jobmöglichkeiten, speziell für die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen. Eine öffentliche Jobgarantie, die dem Gemeinwohl dient (in der Alten- und Kinderbetreuung, im Gesundheitsbereich, im öffentlichen Verkehr, in der Kreislaufwirtschaft etc.), könnte hier eine sinnvolle Strategie darstellen.
  2. Mehr experimentelle Arbeitsmarktpolitik. Angeknüpft werden könnte an die experimentelle Arbeitsmarktpolitik der 1980er-Jahre, in der nicht in erster Linie individuelle Arbeitsplätze in Betrieben gefördert wurden, sondern die auf die Gründung von alternativ organisierten Betrieben, die gemeinnützig und partizipativ ausgerichtet waren, abzielte.
  3. Rascher Ausbau der Kapazitäten im Bereich des psychologischen und psychotherapeutischen Angebots, um den Langzeitfolgen der Corona-Pandemie und der Massenarbeitslosigkeit entgegenzuwirken.
  4. Mehr AMS-Personal. Die beschlossenen 350 befristeten zusätzlichen AMS-Planstellen (davon 100 für die Abwicklung der Kurzarbeit) bis 2023 und der gestoppte Stellenabbau von weiteren 150 Stellen sind zu begrüßen. Das ist aber zu wenig. Der Gesamtbedarf ist mit mehr als 650 zusätzlichen Planstellen deutlich größer. Mehr AMS-Personal und somit eine verbesserte Betreuungsrelation für Arbeitslose in der Arbeitsvermittlung des AMS verkürzt tatsächlich die Arbeitslosigkeitsdauer, wie das WIFO nachgewiesen hat.
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